Tempus als Stilmittel in Erzählungen

 

Prä­ter­itum:

Das Prä­ter­itum ist als Ver­gan­gen­heits­tem­pus das Haupt­tem­pus in allen Erzäh­lun­gen, die von einem erdach­ten (fik­ti­ven) oder wirk­li­chen (nicht­fik­ti­ven) Gesche­hen in der Ver­gan­gen­heit han­deln.“ (div. Autoren: „Die Gram­ma­tik“, S.150, Duden)

Mer­ke:

Das Prä­ter­itum stellt den „Nor­mal­fall“ in Erzäh­lun­gen dar. Abweichungen

vom Prä­ter­itum geben immer Anlass, an die­ser Stel­le genau­er auf den Text

zu schauen.

Plus­quam­per­fekt:

Das Plus­quam­per­fekt dient in Erzäh­lun­gen zur Dar­stel­lung von Sach­ver­hal­ten, die bereits vor den erzäh­le­ri­schen Ereig­nis­sen abge­schlos­sen waren. Somit fun­giert es qua­si als „Ver­gan­gen­heit der Vergangenheit“.

Sehr oft begin­nen Erzäh­lun­gen auch mit dem Plusquamperfekt.

Bsp.: Es war um Sie gesche­hen. Kei­ner konn­te ihr nun mehr helfen. 

Prä­sens:

In Erzäh­lun­gen wird das Prä­sens in einem Text meist mit einer bestimm­ten Absicht ein­ge­setzt., d.h. der Leser soll durch das Ver­las­sen des nor­ma­len Erzähl­tempus „Prä­ter­itum“ auf­merk­sam gemacht wer­den. Dabei besitzt das Prä­sens ver­schie­de­ne Funktionen:

a) Das sze­ni­sche Präsens 

Im sze­ni­schen Prä­sens bricht ein erzäh­len­der Text aus dem eigent­lich vor­ge­ge­be­nen Prä­ter­itum aus. Durch die Ver­wen­dung des Prä­sens gelingt es dem Autor, den Leser mit in ein Gesche­hen (eine Sze­ne des Tex­tes) einzubeziehen.

Bsp.: „Und aus einem klei­nen Tor bricht etwas Ele­men­ta­res her­vor…“ (Tho­mas Mann)

Auf die Spit­ze getrie­ben wird die­ser Effekt durch die „Stream-of-consciousness“-Technik, die den Leser sogar mit in die Gedan­ken­struk­tur einer Figur nimmt, indem so geschrie­ben wird, wie ein Mensch i.A. denkt: ungram­ma­tisch, abge­hackt, inhalt­lich stark springend.

Bsp.: „Soll ich –  nein, ich kann nicht – aber war­um? Nein! Das darf doch nicht sein!“

b) Prä­sens als Aus­druck von all­ge­mein Gültigem

Auch in erzäh­len­den Tex­ten wird das Prä­sens oft zum Aus­druck von all­ge­mein gül­ti­gen, regel­haf­ten Sach­ver­hal­ten gebraucht, so z.B. im Epi­my­thion einer Fabel („die Moral von der Geschich­te“) oder aber auch in ein­zel­nen Sät­zen, die der Leser unbe­dingt „mit­neh­men“ soll. Meist han­delt es sich um Erzäh­lun­gen, die dem Men­schen all­ge­mein etwas ver­mit­teln, etwas leh­ren sol­len (Para­beln, gele­gent­lich auch Anekdoten).

Per­fekt:

Das Per­fekt spielt in erzäh­len­den Tex­ten kaum eine Rol­le mit zwei wich­ti­gen Ausnahmen:

a) Es kann als Ver­gan­gen­heits­form für das sze­ni­sche Prä­sens die­nen

b) Es kann all­ge­mein gül­ti­ge Aus­sa­gen für die Zukunft treffen.

Bsp.: Ein Unglück ist schnell geschehen!

„Als geil noch astrein war“ – Eine Aufführung der CAG-Rockkids

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Wo bin ich denn hier gelan­det? Mit einer Mischung aus ver­blüff­ter Bewun­de­rung und völ­li­ger Rat­lo­sig­keit sit­ze ich anläss­lich der Per­for­mance „Als geil noch ast­rein war“ der CAG-Rock­kids unter der Lei­tung von Jens Scholz in der Aula des Cle­mens-August-Gym­na­si­ums, sehe mich dort mit durch­aus inti­men Details aus mei­ner Ver­gan­gen­heit kon­fron­tiert und füh­le mich oft­mals ertappt in den Tex­ten von Frank Goo­sen, gele­sen von Jonas Strick­ling.

In die­sen legt der Kaba­ret­tist sei­ne Erin­ne­run­gen aus den 70er und 80er Jah­ren dar und schafft damit einen roten Faden, der die oft­mals fet­zi­gen und nahe­zu per­fekt arran­gier­ten Stü­cke der Rock­kids inhalt­lich ver­bin­det. Für mich bleibt es den gan­zen Abend lang merk­wür­dig, wie enga­giert und mit wie viel Begeis­te­rung Schü­ler und Schü­le­rin­nen von heu­te „meine Musik“ spie­len. Ihre sti­lis­ti­sche Band­brei­te reicht dabei von Soul – „Ain’t no sunshine“ (Bill Withers) – über Schla­ger – „Liebeskummer lohnt sich nicht“ (Siw Malm­quist) – bis hin zu här­te­ren Gang­ar­ten – „Paranoid“ (Black Sab­bath). Gesun­gen wer­den alle Stü­cke erstaun­lich­wei­se von Sän­ge­rin­nen (Doris Lam­ping, Clau­dia Lam­ping, Hele­ne Ger­hards, Cari­na Rockel) wäh­rend schwer­punkt­mä­ßig die Her­ren der Schöp­fung den instru­men­ta­len Rah­men bil­den (Schlag­zeug: Niklas Sta­de, Bass/Saxophon: Fabi­an Lan­ger, E‑Gitarre: Chris­to­pher Magh/Robert Kod­de­busch, Kla­vi­no­va: Marei­ke Zel­mer, Akku­s­tik­gi­tar­re: Doris Lam­ping, Per­cus­sion: Cari­na Rockel). Umrahmt wird das in sich stim­mi­ge Spek­ta­kel von einer Licht- und Mul­ti­me­dia­show mit Plat­ten­co­vern, Bil­dern und Zei­tungs­au­schnit­ten pas­send zum jeweils gespiel­ten Stück bzw. gele­se­nen Text. Ver­ant­wort­lich für die­sen tech­ni­schen Bereich sind dabei Björn Oster­kamp (Ton/Diashow), Joa­chim Wil­le­ham (Ton/Technik) sowie Jan Schul­te und Fre­de­rik Völz (Licht). Die coo­len Out­fits und vor allem die Son­nen­bril­len auf der Büh­ne las­sen nur wenig von der mühe­vol­len und umfang­rei­chen Vor­be­rei­tung die­ses Abends erah­nen, die sich sogar zeit­wei­se in einem Klos­ter voll­zo­gen hat (Pro­ben­wo­chen­en­de in Endel) – die Schwes­tern sol­len begeis­tert gewe­sen sein von den „beseelenden“ Klängen.

Musik ver­bin­det. Die Musik die­ses Abends tut dies für mich in einer ganz beson­de­ren Wei­se. Vie­le ein­präg­sa­me Ereig­nis­se im Leben eines Men­schen – und Leh­rer gehö­ren auch zu die­ser Spe­zi­es – sind mit einem beson­de­ren Musik­stück ver­bun­den, der ers­te Kuss, der ers­te unge­woll­te Absturz, ein über­mä­ßi­ger Erfolg, eine erin­ne­rungs­rei­che Fei­er oder auch die Geburt eines Kin­des. Die Ereig­nis­se ändern sich nicht, die Musik jedoch schon. 

Das Anspre­chen­de an die­sem Abend lag bestimmt auch dar­in, dass den Kin­dern der 70er und 80er Jah­re im Publi­kum teil­wei­se längst ver­dräng­te Erleb­nis­se zurück ins Gedächt­nis und damit zurück in die Gegen­wart geholt wur­den. Die blo­ße Erwäh­nung des Songs „Sunday, bloo­dy Sunday“ (U2) in einem Text von Frank Goo­sen ver­an­lass­te mich doch eher kogni­tiv ori­en­tier­ten Men­schen zu einem lau­ten und fast schon eupho­ri­schem „Nein!“ ein­ge­denk eini­ger wirk­lich revo­lu­tio­nä­rer Tanz­ein­la­gen nach der damals erfolg­reich been­de­ten DJ-Schicht. Das steht doch in einem deut­li­chen Gegen­satz zu den heu­ti­gen Kin­der­lie­der-CDs mit denen sich das Aus­le­ben musi­ka­li­scher Bedürf­nis­se heut­zu­ta­ge weit­ge­hend erschöpft. Dumm nur, dass U2 mitt­ler­wei­le halb Irland auf­kauft und sich nur wenig von dem dama­li­gen revo­lu­tio­nä­ren Charme erhal­ten hat.

Für mich als Leh­rer ist es auch immer wie­der span­nend mit anzu­se­hen, wie sich Schü­le­rin­nen und Schü­ler in der Büh­nen­si­tua­ti­on ver­än­dern und bereit sind, Sei­ten an sich preis­zu­ge­ben, die im Unter­richt nur sehr sel­ten zuta­ge tre­ten. An die­sem Mut möch­te ich mir eigent­lich manch­mal ger­ne ein Bei­spiel neh­men – kann aber lei­der bei wei­tem nicht so gut sin­gen, geschwei­ge denn tanzen.

Bleibt nur noch eine Fra­ge: Was wer­den die Stü­cke sein, die den heu­ti­gen Rock­kids in zwan­zig Jah­ren eine Schü­ler­band vor­spielt? Und an was wer­den sie sich dann erin­nern? Darf ich das eigent­lich wis­sen wollen?

Materialismus vs. Idealismus

Protokoll einer Doppelstunde der rauchenden Köpfe (Deutsch LK)

1. Mate­ria­lis­mus
Der Begriff Mate­ria­lis­mus lei­tet sich von Mate­rie ab. Unter ihm wird eine phi­lo­so­phi­sche Grund­po­si­ti­on ver­stan­den, die alle Vor­gän­ge und Phä­no­me­ne der Welt auf ein ein­zi­ges Grund­prin­zip, näm­lich die Mate­rie zurück­führt. Selbst imma­te­ri­el­le Phä­no­me­ne (z.B. Gedan­ken) sind ledig­lich durch mate­ri­el­le Vor­gän­ge aus­ge­löst wor­den. Alles was sich dem natur­wis­sen­schaft­lich Beleg­ba­ren ent­zieht, ist im Mate­ria­lis­mus nicht wirk­lich, sodass dort es z.B. kei­nen Gott oder sons­ti­ge tran­szen­den­ta­len Kräf­te gibt.
Dem­nach ist die Natur für einen Mate­ria­lis­ten das höchs­te Prin­zip. Wenn der Mensch aus­schließ­lich der Natur und ihren Geset­zen folgt, wird sich sein Leben auto­ma­tisch ver­voll­komm­nen. Schlüs­sel für ein erfolg­rei­ches und damit wert­vol­les Leben ist also die Erkennt­nis der Natur.

Der Mensch ist durch das Grund­prin­zip der Natur deter­mi­niert, besitzt also streng­ge­nom­men kei­nen eige­nen Wil­len, son­dern nur einen, der durch die ihn aus­ma­chen­de Mate­rie „ver­ur­sacht“ wor­den ist. Er ist gewis­ser­ma­ßen Objekt der ihn bestim­men­den Kräfte.
Der Natur arbei­ten von Men­schen künst­lich geschaf­fe­ne Prin­zi­pi­en ent­ge­gen. Als Bei­spie­le sind hier die Moral oder die Reli­gi­on zu nen­nen. Auch bestimm­te Gesell­schafts­for­men kön­nen den Men­schen von dem Urprin­zip der Natur entfremden.
Eine zu ver­ur­tei­len­de Hand­lung ist für einen Mate­ria­lis­ten also eine Hand­lung gegen das Prin­zip der Natur, gewis­ser­ma­ßen die Ent­frem­dung vom Urzu­stand, durch z.B. Moral oder Religion.

Kri­ti­ker des Mate­ria­lis­mus wer­fen ihm vor, dass er die Tat­sa­che igno­riert, dass letzt­lich unse­re Sin­ne bestim­men, wie die Welt und damit die Mate­rie – aus­sieht. Er beschreibt also ledig­lich unse­re wahr­ge­nom­me­ne Vor­stel­lungs­welt. Gleich­zei­tig ist der Mate­ria­lis­mus selbst als phi­lo­so­phi­sche Rich­tung nicht Mate­rie oder durch Mate­rie erklär­bar, wie es der Mate­ria­lis­mus für alles for­dert und damit für sei­ne Kri­ti­ker ein Wider­spruch ansich.

2. Idea­lis­mus

Im Idea­lis­mus – genau­er gesagt im objek­ti­ven Idea­lis­mus – exis­tiert Mate­rie nie los­ge­löst von einem geis­ti­gen Sein. Nur was sich wahr­neh­men lässt, ist auch vor­han­den, nur was vor­han­den ist, lässt sich auch wahr­neh­men. In der Regel gibt ein tran­szen­den­ta­les Prin­zip, was über allem Sein steht, z.B. einen Gott oder eine geis­ti­ge Kraft, die alle Phä­no­me­ne auf der Welt ver­bin­det und eint. Gedan­ken sind dabei vom Men­schen durch sei­nen Wil­len form­bar, sodass sein Leben nicht deter­mi­niert, son­dern in gro­ßen Tei­len frei gestalt­bar ist.
Dem­nach spielt im Idea­lis­mus der Mensch mit sei­nem frei­en Wil­len eine zen­tra­le Rol­le. Er ist gestal­ten­des Sub­jekt sei­nes Lebens. Wenn der Mensch stets danach strebt, aus sich mehr zu machen als er ist und sich durch­aus auch einem Ide­al nach­fol­gend zu ent­wi­ckeln, wird sich sein Leben ver­voll­komm­nen. Dem Men­schen stel­len sich hier­bei Wider­stän­de in sei­nem Inne­ren (z.B. Träg­heit) und sei­nem Äuße­ren (z.B. Anfor­de­run­gen einer Gesell­schaft) ent­ge­gen (Anpas­sung, Ent­in­di­vi­dua­li­sie­rung). Eine idea­li­sier­te Moral­vor­stel­lung oder Reli­gi­on ist aus­ch­lag­ge­bend für den Lebens­er­folg, da sie eine trei­ben­de Kraft dar­stellt. Mit Moral und Reli­gi­on sind im deut­schen Idea­lis­mus zumeist christ­lich-huma­nis­ti­sche Ansät­ze gemeint.

Eine zur ver­ur­tei­len­de Hand­lung im Sin­ne des Idea­lis­mus ist dem­nach die Ver­wei­ge­rung der eige­nen Ent­wick­lung bzw. sogar die Regres­si­on (Zurück­ent­wick­lung) eines Indi­vi­du­ums, also genau die Ver­hal­tens­wei­sen, die auch Kant in sei­ner Schrift „Was ist Auf­klä­rung“ als pro­ble­ma­tisch darstellt.

Kri­ti­ker des Idea­lis­mus, z.B. gera­de auch Büch­ner, wer­fen die­ser Denk­rich­tung vor, dass die hohen Idea­le eine Viel­zahl von Vor­aus­set­zun­gen erfor­dern („Moral muss man sich leis­ten kön­nen“). Wei­ter­hin gilt im idea­lis­ti­schen Ver­ständ­nis der Mensch ja stets als unvoll­kom­men, da ja per­ma­nen­te Ent­wick­lung gefor­dert wird.

Cyrano de Bergerac (Edmond Rostand) – eine Theateraufführung am CAG

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„Nie­mand zün­det ein Licht an und setzt es in einen Win­kel, auch nicht unter einen Schef­fel, son­dern auf den Leuch­ter, damit, wer hin­ein­geht, das Licht sehe“ , ist uns gesagt im Evan­ge­li­um des Lukas im Kapi­tel 11, Vers 33. 

Das Mus­ke­tier Cyra­no (Anne Wig­bers) hat sich unsterb­lich in Roxa­ne (Tina Schuck­mann) ver­liebt, einem Mäd­chen von unbe­streit­ba­rer Schön­heit und Anmut. Er ist selbst zu der Zeit, zu der das Stück „Cyrano de Bergerac“ von Egmond Rostand spielt, ein Mann der alten Schu­le. Kühn und mutig im Kampf, hoch­ge­ach­tet von sei­nen ihm anver­trau­ten Kadet­ten (Anja Bel­ke, Jan­na Mey­er, Judith Twen­hö­vel, Kat­rin Weil­bach, Ste­fa­nie Bitt­ner) hat ihn der Herr­gott zusätz­lich mit lyri­schen Fähig­kei­ten und sprach­li­cher Gewandt­heit geseg­net – Vor­zü­ge, die ihm die Zunei­gung einer jeden Dame besche­ren müss­ten, da sie roman­ti­sche Asso­zia­tio­nen zu den alten rit­ter­li­chen Tugen­den auf­kom­men lassen. 

So sehr sich in der Figur Cyra­no dem Zuschau­er nach innen ein galan­ter Cha­rak­ter, ein Che­va­lier, ein leuch­ten­des Licht geis­ti­ger und gesell­schaft­li­cher Fähig­kei­ten prä­sen­tiert, so harsch und eigen­wil­lig ver­hält sich das Mus­ke­tier gegen­über der Außen­welt. Stets zu einem Duell auf­ge­legt zieht er nicht nur ein­mal den Unmut sei­nes Vor­ge­setz­ten Graf Guiche (Bar­ba­ra Hach­m­öl­ler) auf sich. Sei­ne viel wahr­haf­ti­ge­re fei­ne Innen­sei­te prä­sen­tiert er nur sei­nem engs­ten Ver­trau­ten Le Bret (Mari­na Siemers).

Ursa­che für die­ses ambi­va­len­te Bild ist ein kör­per­li­cher Makel Cyra­nos: Er besitzt eine mons­trö­se Nase. Bemer­kun­gen – und sei­en sie noch so klein – über die­ses Kör­per­teil bekom­men denen, die sie aus­ge­spro­chen haben, meis­tens nicht gut. Gleich­wohl ver­folgt ihn der Spott sei­ner Mit­men­schen hin­ter der vor­ge­hal­te­nen Hand.

Sei­nes äuße­ren Man­gels ein­ge­denk leiht Cyra­no sei­ne lite­ra­ri­schen Fähig­kei­ten dem jun­gen, uner­fah­re­nen Schön­ling Chris­ti­an de Neu­vil­let­te (Dani­el Tie­mer­ding), der nun an Cyra­nos statt um die Ange­be­te wer­ben soll. Cyra­no möch­te durch ihn zu sei­ner Roxa­ne spre­chen, er möch­te durch ihn sei­ne Brie­fe, sei­ne Gedan­ken, sei­ne Gedich­te über­bracht sehen, da er sich selbst ob sei­nes opti­schen Makels zu gering für ein direk­tes Wer­ben erachtet. 

Tat­säch­lich geht der Han­del schein­bar auf: Roxa­ne ist hin­ge­ris­sen von den ver­meint­li­chen Brie­fen Chris­ti­ans, der jedoch in tat­säch­li­chem Kon­takt mit ihr erstaun­lich wenig Schön­geis­ti­ges zu sagen weiß, wenn es ihm nicht durch Cyra­nos Mund souf­fliert wird. In einer Bal­kon­sze­ne in der Tra­di­ti­on Rome­os und Juli­as wird die Ein­sei­tig­keit des Han­dels offen­bar: Cyra­no spricht mit sei­ner Stim­me anstel­le von Chris­ti­an in Dun­keln – Chris­ti­an erhält jedoch den beloh­nen­den Kuss.

Ver­wi­ckelt geht die Hand­lung wei­ter, in der Cyra­no mehr als ein­mal Chris­ti­an in sei­nem Wer­ben unter­stützt, ja sogar die Hoch­zeit der bei­den orga­ni­siert, um eine Ver­mäh­lung „seiner“ Roxa­ne mir Graf Guiche zuvor­zu­kom­men. Wäh­rend die­ser Zeit wird sich Chris­ti­an sei­nes eige­nen Makels mehr und mehr bewusst: Sein Inne­res kann sich mit dem Cyra­nos nicht mes­sen. Er ist cha­rak­ter­lich nicht der Mann, den Roxa­ne durch den Betrug der bei­den in ihm sieht.

Chris­ti­an stirbt als jun­ger Kadett im Krei­se der übri­gen Sol­da­ten und Haupt­mann Car­bon (Nico­la Hach­m­öl­ler) auf dem Feld in Cyra­nos Obhut – Cyra­no ent­hüllt die Wahr­heit nicht. Roxa­ne geht dar­auf­hin in ein Klos­ter – Cyra­no ent­hüllt die Wahr­heit über Jah­re nicht, um Roxa­ne der Illu­si­on einer per­fek­ten Lie­be nicht zu berau­ben. Dass er sie dadurch unemp­fäng­lich für jed­we­des neue Lie­bes­ge­fühl und damit erst rich­tig lei­dend macht, muss erst durch einen Zufall auf­ge­deckt wer­den – doch da ist es zu spät, denn Cyra­no, gram­zer­fres­sen, und mit nichts außer sei­nen lite­ra­ri­schen Fähig­kei­ten aus­ge­stat­tet, stirbt thea­tra­lisch im Moment der beid­sei­ti­gen Erkennt­nis. So muss die Aus­spra­che der bei­den nach dem Tod im Engels­ge­wand, aber den­noch auf der Büh­ne vor Publi­kum erfolgen.

Die schwie­ri­ge und dich­te Spra­che des Stü­ckes ist durch­ge­hend gereimt und durch­zo­gen von Sprach­witz. Das immens hohe Spiel- und damit auch Sprech­tem­po stell­te die Zuschau­er vor nicht immer leich­te Auf­ga­ben – stets sorg­te der Witz der Spra­che jedoch für ein Schmun­zeln oder gar einen Lacher. Ein gereim­tes Rezept des Kochs Rague­neau (Jan Schul­te) bot hier­bei einen der Höhe­punk­te, wenn­gleich sei­ne Frau Lise (Lui­se Bus­se) sich davon unbe­ein­druckt zeig­te und lie­ber mit einem Mus­ke­tier (Lin­da Amme­rich) anban­del­te. Unfass­bar schien mir hin und wie­der die erfor­der­li­che Leis­tung der Schü­le­rin­nen und Schü­ler im Hin­blick auf die Text­si­cher­heit – das Stück besitzt wahr­lich nicht wenig Text.

Beein­dru­ckend zu sehen war wei­ter­hin, wie das gesam­te Ensem­ble die Büh­ne auch in den ver­meint­li­chen Neben­rol­len stets mit hin­ter­grün­di­gem Leben füll­te. Ein Taschen­dieb (Con­stan­ze Arnold), zwei Kin­der (Fidan Mut­lu, Lin­da-Maria Meh­nert), Roxa­nes Beglei­te­rin Duen­na (Frie­de­ri­ke Arnold), ein Mönch (Jonas Strick­ling) und eine Büfett­da­me (Ste­fa­nie Nie­haus) reiz­ten mit ihrem Spiel stets dazu, auch ein­mal an den Haupt­cha­rak­te­ren vor­bei­zu­schau­en und Sei­ten an mei­nen Schü­lern zu ent­de­cken, die mir als Leh­rer bis­her nicht auf­ge­fal­len sind. Vie­le aus dem Ensem­ble spiel­ten zusätz­lich wei­te­re Nebenrollen.

Musi­ka­lisch beglei­tet und authen­tisch atmo­sphä­risch unter­stützt wur­de die Auf­füh­rung durch die Musik-AG, nament­lich durch Hen­rie­ke Wem­pe (Quer­flö­te, Kla­vier, Nasen­flö­te), Johan­nes Rol­fes (Gitar­re, gro­ße Trom­mel), Ana­sta­sia Tro­fimt­schuk (Vio­li­ne, gro­ße Trom­mel) und Ant­je Marx (Vio­la, Sopran­block­flö­te, Bon­gos, Marsch­be­cken, Trom­mel u.a.).

„Wir sind irgend­wann an den Punkt gekom­men, an dem wir fest­stell­ten, dass wir das Stück nicht spie­len kön­nen, wenn wir es nicht voll­stän­dig verstehen“, berich­te­te Hubert Gel­haus (gemein­sa­me Regie­füh­rung mit Chris­tia­ne Johan­nes) mir in einem Gespräch auf dem Weg ins Leh­rer­zim­mer. Gesprä­che mit wei­te­ren Mit­wir­ken­den über das Stück lie­ßen auf noch viel mehr Kri­sen­mo­men­te wäh­rend der Gene­se die­ser Auf­füh­rung schlie­ßen. Immer wie­der ging es in die­sen Gesprä­chen um die Suche nach der eigent­li­chen The­ma­tik die­ses Stü­ckes, die offen­bar eng mit der Suche nach geeig­ne­ten Wegen zum Ein­stu­die­ren des Wer­kes ver­bun­den war. Für manch einen scheint die Beschäf­ti­gung mit dem Stück sogar zum Initia­tor für grund­le­gen­de per­sön­li­che Ver­än­de­rungs­pro­zes­se gewor­den zu sein. Dabei ist Cyra­no de Ber­ge­rac doch nur ein Buch, ein Stück ver­gilb­tes Reclam­pa­pier, Lite­ra­tur, die auch in einem Ober­stu­fen­kurs Deutsch durch­aus ihren dort viel­leicht lang­wei­li­gen Raum haben könnte.

Wenn ein Ober­stu­di­en­di­rek­tor sich auf einer Abitur­fei­er absicht­lich ver­spricht und Anne Wig­bers als „Cyrano“ auf­ruft, so ver­wech­selt er in die­sem Moment die Begrif­fe Per­son und Figur. Denn wäh­rend der Auf­füh­rung stan­den dort auf der Büh­ne kei­ne Cyra­nos, weil das Licht eines jeden aus dem Ensem­ble strahl­te. Mehr noch: Der Ori­gi­nal­text schließt mit Cyra­nos Tod – die „Engelszene“, die wir Zuschau­er als Schluss des Stü­ckes erle­ben durf­ten, ist Ergeb­nis eines lan­gen Rin­gens der Thea­ter-AG um eine Deu­tung und gleich­zei­tig ihre Bot­schaft an das Publi­kum. Im fes­ten Glau­ben an ihre Fähig­kei­ten trau­ten sie sich, dem Publi­kums trotz bestimmt vor­han­de­ner indi­vi­du­el­ler Makel und Zwei­fel ihre Inter­pre­ta­ti­on des Stü­ckes darzubieten. 

Cyra­no konn­te genau das nicht. Sei­ne ent­stell­te Nase ver­hin­der­te nach­hal­tig das Ver­trau­en in sich selbst. Damit geht ihm die Fähig­keit ab, die Grund­vor­aus­set­zung für die Lie­be ist: Die Annah­me sei­ner selbst. Wie glück­lich hät­te er sei­ne Roxa­ne machen kön­nen, die ihn schon früh durch sei­ne Spra­che geliebt hat. Fähig­kei­ten müs­sen an das Licht, damit sie ande­ren leuch­ten kön­nen. Ver­bor­gen unter einem Schef­fel brin­gen sie Cyra­no und Roxa­ne um ihr Lebensglück.

Haltestelle Geister – eine Theateraufführung am CAG

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„Und ich sah: Ein Tier stieg aus dem Meer, mit zehn Hör­nern und sie­ben Köp­fen. Auf sei­nen Hör­nern trug es zehn Dia­de­me und auf sei­nen Köp­fen Namen, die eine Got­tes­läs­te­rung waren. Das Tier, das ich sah, glich einem Pan­ther; sei­ne Füße waren wie die Tat­zen eines Bären und sein Maul wie das Maul eines Löwen.“

Genau­so wie in der Offen­ba­rung des Johan­nes ist nichts in Ord­nung an die­sem Abend auf der Büh­ne in der Aula des Cle­mens-August-Gym­na­si­ums. Godot kommt an die­sem Abend in der von Chris­tia­ne Johan­nes und Hubert Gel­haus insze­nier­ten Vor­stel­lung der Stü­ckes „Haltestelle Geister“ von Hel­mut Kraus­ser schon ein­mal nicht.

Ein älte­rer Mann (Nico­la Hach­m­öl­ler) wird von drei Tus­sen (Jana Rich­ter, Jen­ni­fer Ovel­gön­ne, Aljo­na Wal­ter) gegen jeden Anstand um sein Geld betro­gen. Benach­tei­lig­te wie eine Blin­de (Katha­ri­na West­b­rock) oder ein sehr alter Mann (Anja Bel­ke), der nicht rea­li­siert, dass sei­ne gesuch­te Frau schon Jah­re tot ist, erfah­ren Spott und Hohn der ver­meint­lich Stär­ke­ren, wie z.B. einem Dro­gen­dea­ler (Dani­el Tie­mer­ding) oder dem Mann vom Grill­im­biss (Judith Twen­hö­vel). Das alles spielt sich in der Gos­se, an einer Bus­hal­te­stel­le im Nir­gend­wo ab – also erst­mal inner­halb der „Unterschicht“, weit weg in Spra­che und Hand­lung vom beschau­li­chen Clop­pen­burg. Das Publi­kum lacht.

Es geht aber noch wei­ter: Ein geheim­nis­vol­ler Mann im dunk­len Man­tel (Mat­thi­as Gra­mann) ver­sucht fort­wäh­rend Figu­ren der Büh­ne durch Ver­ab­rei­chung eines Ner­ven­gif­tes zu läh­men, um dann sei­ne Opfer in ihrer Schwä­che auf das Emp­find­lichs­te zu demü­ti­gen. Es gelingt ihm bei den bis­he­ri­gen Figu­ren nicht, die von Ahnun­gen getrie­ben sei­nem Wesen intui­tiv aus­wei­chen. Wohl aber gerät eine per Inter­net nach Kon­takt suchen­de, gut situ­ier­te Dame (Julia­ne Smit) auf der Suche nach Neu­em in sei­ne Fän­ge. Es war nicht der Groß­in­qui­si­tor aus dem Inter­net (The­re­sa Wede­mey­er), den sie eigent­lich zu tref­fen hoff­te. Die­ser hät­te auch gar nicht zu ihr gepasst – allen­falls ihre bei­den syn­the­ti­schen Onlin­ei­den­ti­tä­ten wären in der Lage gewe­sen, bis ans Ende ihrer Tage in den Son­nen­un­ter­gang zu rei­ten. Das Publi­kum schmun­zelt und gönnt es ihr ein wenig.

Auch als sich ein sado-maso­chis­tisch ver­an­lag­tes, an feh­len­der Zwi­schen­mensch­lich­keit lei­den­des Paar (Hen­drik Mar­tens und Alex­an­dra Mor­kel), im mate­ri­el­len Reiz des Ober­fläch­li­chen erstarrt, sich an einem in der Spra­che Adolf Hit­lers gespro­che­nen Mono­log sexu­ell sti­mu­liert, führt das immer noch zum offe­nen Lachen im Publi­kum – wenn­gleich ein unde­fi­nier­ba­rer kal­ter Schau­er spür­bar ist – gera­de so schwach, dass das Lachen nicht verstummt.

Und doch gibt es sie in die­sem Stück – die nach­denk­li­chen Momen­te, mani­fes­tiert in einer der Welt schon längst ver­rück­ten Gra­cia Gala (Dina Dvor­chi­na), die auf den Tag ihrer Erlö­sung durch Außer­ir­di­sche hofft. Oder in der Figur des Tüten­pen­ners (Con­stan­ze Arnold) – die die Stim­men der Toten hört – gestor­ben wird in die­sem Stück schließ­lich nicht, man ersteht als Geist wie­der auf. So kann er zwi­schen der Welt der Leben­den und einem nicht näher defi­nier­ten Zwi­schen­reich ver­mit­teln. Das Reich Got­tes gibt es in der dar­ge­stell­ten Welt nicht. Selbst im Tode, selbst als nicht mehr zu ver­lie­ren ist, fin­den die See­len der über der Büh­ne thro­nen­den Geis­ter nicht zueinander.

Unter­stützt wir­de die Auf­füh­rung durch die musi­ka­li­sche Unter­ma­lung von Meik Kraft (Flü­gel), Lukas Kal­ve­la­ge (E‑Gitarre) und Katha­ri­na West­b­rock (Gesang). Damit alle Betei­lig­ten auch sicher in ihren rüden Tex­ten blei­ben – selbst ein Jugend­li­cher von heu­te sprä­che teil­wei­se nicht so derb – küm­mert sich Dia­ne Schlee als Souf­fleu­se um die not­wen­di­ge Unter­stüt­zung. Atmo­sphä­risch sorgt Thanh Binh Hoang (Beleuch­tung) und Wil­fried Kört­zin­ger (Büh­ne, Mas­ke und Pro­gramm) für die visu­el­len Akzente.

Das Tier aus der Offen­ba­rung scheint an die­sem Abend zu erste­hen, wenn­gleich es kei­ne Hör­ner trägt, son­dern alle Las­ter und Krank­hei­ten unse­rer zivi­li­sier­ten Gesell­schaft, in der alle auf der Büh­ne gezeig­ten Gescheh­nis­se in viel­leicht ledig­lich kul­ti­vier­te­rer Form vor­kom­men – einem sanf­ten Schlei­chen eines Pan­thers und dem töd­li­chen Biss des Löwen­mauls ähn­lich. Wir trau­en uns selbst nicht mehr zu, jemand zu sein und schaf­fen uns z.B. im Inter­net oder durch Über­schul­dung eine neue Iden­ti­tät, die mit dem Leben nicht mehr ver­ein­bar ist. Wir sind ver­führ­bar durch die Rei­ze der Wer­bung und leben eben­die­se Ver­führ­bar­keit auch unse­ren Kin­dern vor: Uns das Auto, mit dem wir uns mit ande­ren ver­glei­chen – ihnen das Klapp­han­dy mit Ver­trag oder die sünd­haft teu­ren Schu­he mit Schritt­zäh­ler und Leucht­soh­le. Wir arbei­ten bis zum Umfal­len, um unse­ren Fami­li­en und uns selbst das zu geben, was man haben muss, um dazu zu gehö­ren, aber die mensch­li­che Zuwen­dung läuft Gefahr durch Mate­ri­el­les eine Sub­sti­tu­ti­on zu erfah­ren. Wir haben alles und brau­chen immer Neu­es – immer neue Kicks – heu­te die klei­nen blau­en Pil­len, mor­gen die „Mickies“, die schon ein­mal dazu füh­ren, dass Men­schen ster­ben. Und doch sind wir oft so arm an der Fähig­keit, wah­re Bedürf­nis­se zu äußern und zu leben. Gera­de durch Letz­te­res unter­schei­den wir uns viel­leicht mehr als uns lieb ist in nichts von den Figu­ren des Stückes.

Und den­noch: Das Schö­ne an dem Stück ist, dass es uns nicht in allem direkt angeht. Wir sind es ja nicht, die dort oben ste­hen und die Spra­che deren ist ja auch nicht die unse­re – ja nicht ein­mal die Spra­che der dort oben Spie­len­den. Wäre es anders, hät­te womög­lich kein Lachen das Publi­kum geret­tet. Es klingt para­dox: Erst die der­be Spra­che und sein gos­sen­haf­tes Inven­tar machen das Stück erst erträg­lich. Iden­ti­fi­ka­ti­on führt an die­ser Stel­le nur in die Depres­si­on – wie auch die zu inten­si­ve Lek­tü­re der Offen­ba­rung des Johannes.

 

Maik Riecken

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