Twitter: shutdown ‑h now

In den letz­ten bei­den Tagen wur­de ich auf der Didac­ta von eini­gen Men­schen auf mei­nen zur­zeit deak­ti­vier­ten Twit­ter­ac­count ange­spro­chen (eine Deak­ti­vie­rung lässt sich 30 Tage lang fol­gen­los zurück­neh­men). Aus­lö­ser, aber nicht allei­ni­ger Grund sind die jüngs­ten Dis­kus­sio­nen, deren Gra­vi­ta­ti­ons­wel­len man noch bei Bob Blu­me (auch in den Kom­men­ta­ren) nach­le­sen kann. Da mein Netz­werk auf Twit­ter ganz natür­lich pri­mär von Bezie­hun­gen getra­gen wird, ist es nur fair, wenn ich – aller­dings in epi­scher Brei­te – auf die Grün­de eingehe.

Wie sehe ich Twitter?

Phil­ip­pe Wampf­ler beschreibt in sei­ner Replik auf die Vor­komm­nis­se die Leh­ren­den­com­mu­ni­ty auf Twit­ter folgendermaßen:

Wäre das #twit­ter­leh­rer­zim­mer ein Team, es befän­de sich in Tuck­mans Modell in der Stor­ming-Pha­se: Die Pio­nie­re haben sich in einer ers­ten Pha­se auf Twit­ter ein­ge­fun­den, sind aber nicht mehr unter sich. Sie haben ein Publi­kum gefun­den und auch Teams gebil­det, zwi­schen denen sich Grä­ben befin­den. Insze­nie­run­gen und Erwar­tun­gen haben zu Rol­len­vor­ga­ben geführt.

Bei mich ist die­se Beschrei­bung bei Wei­tem nicht aus­rei­chend und sim­pli­fi­ziert Tuck­mans Ansatz dar­über hinaus.

Dazu zwei Thesen:

  1. Die Grup­pie­run­gen auf Twit­ter sind weder per­so­nell noch tem­po­ral homo­gen. Es gibt Unter­grup­pen und mit jeweils unter­schied­li­chem Ent­wick­lungs­stand in die­sem Phasenmodell.
  2. Es gibt ein Del­ta ( = Dif­fe­renz) bezüg­lich der auf Twit­ter (oder über­haupt auf Social­me­dia) aus­drück­ba­ren emo­tio­na­len Befind­lich­kei­ten gegen­über „ana­lo­ger“ face2face-Kommunikation.

Ein­fach gesagt: Auf Twit­ter (und in allen grö­ße­ren Social­me­dia­com­mu­ni­ties) fin­den sämt­li­che Pha­sen des Tuck­man­mo­dells immer wie­der par­al­lel statt.

  • es sind Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen dabei, die neu­gie­rig mit digi­ta­len Medi­en ihre ers­te Schrit­te machen
  • es sind Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen dabei, die Tech­no­lo­gie und auch Platt­for­men in ihrem Unter­richt ein­set­zen und von ihren Erfah­run­gen berichten.
  • es sind Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen dabei, die bereits über ihre ers­ten Erfah­run­gen reflek­tie­ren und Denk- und Hand­lungs­wei­sen modifizieren
  • es sind Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen auf ver­schie­de­nen Ebe­nen unter­wegs (Schu­le, Lan­des­ebe­ne, Poli­tik, Theo­rie- und/oder Pra­xis­be­zug usw.).
  • […]

Das“ Twit­ter­leh­rer­zim­mer“ exis­tiert für mich nicht. Durch die Par­al­le­li­tät de ver­schie­de­nen Grup­pen­ent­wick­lungs­pha­sen ent­steht ggf. erst der Ein­druck eines um sich selbst krei­sen­den, zir­ku­lä­ren Systems.

Noch­mal: Eine Homo­ge­ni­tät im Sin­ne eines Teams lt. Tuck­man ver­mag ich nicht zu erken­nen und genau das ist für mich in mei­ner Arbeit als medi­en­päd­ago­gi­scher Bera­ter unglaub­lich berei­chernd und wert­voll, weil ich auf unter­schied­li­chen Ebe­nen Input erhal­te. Es ist aber auch wert­voll und berei­chernd, weil über Twit­ter auch „ana­lo­ge“ Bezie­hun­gen zu Men­schen ent­stan­den sind und entstehen.

 

Was ist die Herausforderung?

Ich erwi­sche mich immer wie­der dabei, dass ich mei­ne hohen Maß­stä­be – die z.B. in die Ent­wick­lung des Ori­en­tie­rungs­rah­mens Medi­en­bil­dung hier in Nie­der­sach­sen mit ein­ge­flos­sen sind – auch an ande­re anle­gen möch­te in Sin­ne eines „Bekeh­rungs­an­sat­zes“. Ich ver­ges­se dabei ger­ne, dass jede der Ent­wick­lungs­pha­sen in die­sen Grup­pen­pro­zes­sen sei­nen eige­nen Wert und sei­ne eige­ne Not­wen­dig­keit besitzt. Ohne „ein­fach machen“ kein Reflek­tie­ren – letzt­lich haben wir alle – auch die „grau­en Emi­nen­zen“ unter uns – genau so begon­nen, digi­ta­le Sze­na­ri­en umzusetzen.

Durch die Beschrän­kung der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ebe­nen auf im Wesent­li­chen Geschrie­be­nes ent­ste­hen eine Men­ge zusätz­li­cher Her­aus­for­de­run­gen. Eini­ge Twit­te­rer haben dar­auf­hin ja schon eine Art inof­fi­zi­el­les Regel­werk auf­ge­stellt, z.B. die Ver­mei­dung von Iro­nie etc.. Ab einem gewis­sen Level der Bezie­hungs­ebe­ne sind Dis­kus­sio­nen auf Twit­ter wahr­schein­lich nicht sinn­voll zu führen.

Jetzt ist die Fra­ge, wel­che Rol­le ich in die­sem kun­ter­bun­ten Geflecht an Ent­wick­lungs­pha­sen und Bezie­hun­gen ich ein­neh­men soll.

Ein­fach authen­tisch Mensch sein? Auch ein­mal Flachs machen und mensch­lich wir­ken? „Erzie­he­risch“ tätig sein und „Kom­mu­ni­ka­ti­ons­stan­dards“ leben, pro­pa­gie­ren und ein­for­dern? Altru­is­tisch immer wie­der die viel­leicht glei­chen Din­ge sagen und als „Wert­hers-Ech­te-Groß­va­ter“ bera­ten? Eine nüch­ter­ne Kos­ten-Nut­zen-Rech­nung auf­ma­chen? (Was gebe ich hin­ein und was kommt tat­säch­lich zurück?) Den momen­ta­nen Befind­lich­kei­ten nach­ge­ben und ein­fach mal einen raushauen?

Letzt­lich geht es wahr­schein­lich doch wie­der um die­se Fragen:

  1. Man lernt nur gut in Bezie­hun­gen. Wie kann ich einen Men­schen nach Twit­ter vir­tua­li­sie­ren (es ist ja so oder so nicht mein Selbst, son­dern eine zwangs­läu­fig unvoll­stän­di­ge Pro­jek­ti­on von mir) , der gute Bezie­hungs­ar­beit leistet?
  2. Wie gelingt es mir, mit Men­schen so respekt­voll umzu­ge­hen, dass sie grö­ßer wer­den und wir gemein­sam wach­sen? Was dient die­sem Ziel und was nicht?

Dabei wird es nicht auf den ein­zel­nen Tweet, son­dern auf das Gesamt­bild ankom­men. Der Erfolg oder Miss­erfolg bemisst sich für mich dabei aus­drück­lich nicht nach mei­nem Wer­te­sys­tem, son­dern aus­schließ­lich an der Wahr­neh­mung, die mein jewei­li­ges Gegen­über von mir hat. Ich muss mich bei Nicht­ge­lin­gen von Kom­mu­ni­ka­ti­on auf Twit­ter zumin­dest auch selbst fra­gen, was mein eige­ner Bei­trag dazu ist. Das kann und darf man natür­lich anders sehen.

 

War­um bin ich für eine Wei­le weg (oder ggf. auch für länger)?

Ich über­den­ke mein Ver­hält­nis und mei­nen Umgang mit Twit­ter gera­de, weil ich bestimm­te Ver­hal­tens­wei­sen an mir bemerkt habe, die mich nun umtreiben.

  • der ers­te Griff mor­gens ging zum Han­dy und zur bun­ten Tweet­welt – qua­si eine Art Zeitungsersatz.
  • auf dem zwei­ten Bild­schirm am Arbeits­platz, oder zumin­dest in einem neu­en Tab lief immer Twit­ter mit
  • Twit­ter frag­men­tier­te zuneh­mend mei­ne Aufmerksamkeit
  • Dis­kus­sio­nen auf Twit­ter betra­fen mich emo­tio­nal, dass ich mich manch­mal genö­tigt fühl­te, schnell zu reagieren
  • Twit­te­rer, die mir per E‑Mail schrei­ben oder mit denen ich auf der Didac­ta gespro­chen habe, berich­te­ten mir von Hem­mun­gen und Ängs­ten, Wider­re­de zu leis­ten oder bestimm­te Tweets auch nur zu faven.
  • […]

Ich bin noch nicht bereit, das als „neu­en Lebens­stil“ und „neue Wer­te­welt mit einer Ver­schmel­zung von ana­lo­gem und digi­ta­lem Raum“ zu sehen und unter­lie­ge ger­ne (für eine Wei­le) den damit ver­bun­de­nen „Irr­tü­mern“.

Ich mer­ke, dass ich durch den Abstand zu Twit­ter jetzt schon immens viel Zeit für ande­re Din­ge gewin­ne, natür­lich aber auch von der einen oder ande­ren Ent­wick­lung abge­schnit­ten bin. Das erset­ze ich gera­de wie­der zuneh­mend durch Auf­mö­beln mei­ner guten, alten RSS-Feed-Sammlung.

Eine Ent­schei­dung, ob ich Twit­ter „für immer“ ver­las­se oder wie­der­kom­me, möch­te ich erst auf­grund von drei Wochen „Abs­ti­nenz­er­fah­rung“ tref­fen. In die­sen drei Wochen wer­de ich zusätz­lich auf meh­re­ren Ver­an­stal­tun­gen Twit­te­rer in die­sem „real Life“ tref­fen und mich aus­tau­schen kön­nen. So wird man mich auf jeden Fall am 9. März auf dem #molol18 und am dar­auf­fol­gen­den Edu­CampX tref­fen kön­nen, für das ich gera­de zufäl­lig eine Idee für eine Ses­si­on habe.

Ansons­ten geht es durch die aktu­el­len Ent­wick­lun­gen hier im Blog mal wei­ter: Ich habe ein paar alte Schät­ze aus dem Refe­ren­da­ri­at im *.sdw-For­mat gefun­den und mei­ne 2. Staat­ex­amens­ar­beit dem Ver­lags­mo­loch entrissen.

 

 

 

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7 Kommentare

  • Dan­ke für dei­nen Bei­trag. Die Kri­tik am Tuck­man-Modell kann ich gut nach­voll­zie­hen – du hast recht: Die Com­mu­ni­ty besteht aus meh­re­ren Grup­pen, bei denen die­se Pro­zes­se in unter­schied­li­chen Pha­sen ablaufen.
    Bei Kom­mu­ni­ka­ti­on und Mensch­lich­keit kann man Wahr­neh­nun­gen und Gefüh­le nicht argu­men­ta­tiv auf­lö­sen: Fühlt sich jemand unwohl oder hat Angst, sich zu äußern, dann ist das so. Und nicht gut. Und wenn ich das ver­ur­sa­che oder ver­ur­sacht habe, dann tut mir das leid. Gleich­wohl neh­me ich eine ande­re Per­spek­ti­ve ein: Ich kann digi­tal gut kom­mu­ni­zie­ren und die Gefüh­le von ande­ren Men­schen ein­schät­zen. Aber ich will bei gewis­sen The­men nicht auf die Bezie­hungs- oder Gefühls­ebe­ne wech­seln. Aus zwei Grün­den: Ich will mei­ne Gegen­über als selbst­ver­ant­wort­li­che Erwach­se­ne behan­deln. Spre­chen sie über The­men im Netz, dann gehe ich davon aus, dass die sach­li­che Kri­tik ertra­gen und ich sie nicht scho­nen muss, solan­ge ich fair blei­be. Zudem sind mir die The­men zu wich­tig, als dass ich Kom­pro­mis­se machen woll­te. Macht jemand auf Twit­ter lus­ti­ge Scher­ze, dann igno­rie­re ich sie, wenn ich Twit­ter als Zei­tung oder PLN nut­ze. Ver­brei­tet ein Schul­lei­ter auf Twit­ter Memes, die er trotz bes­se­ren Wis­sens als eige­ne aus­gibt, dann kri­ti­sie­re ich das. Ich tre­te für Wer­te ein, die ich begrün­den kann. Wie schon gesagt, ist das für mich eine zen­tra­le Form von Respekt und Wert­chät­zung. Klar kommt das bei vie­len nicht so an und klar könn­te ich dar­an was ändern – aber das will ich bewusst nicht. Des­halb wird es wohl das bes­te sein; die Grup­pen ent­flech­ten sich. Blen­den aus, was sie stört, oder zie­hen sich zurück. Aber das ist wie­der­um in der Ver­ant­wor­tung jeder und jedes einzelnen.

  • Ich den­ke, dass du durch die­sen Ansatz und dei­nem Behar­ren auf dei­nem Kom­mu­ni­ka­ti­ons­an­satz sowohl der Sache als auch dir selbst letzt­lich kei­nen gro­ßen Gefal­len tust. Ich sage das als jemand, der sich in ver­schie­de­nen Rol­len auf ver­schie­de­nen Ebe­nen bewegt und sich oft eben nicht aus­su­chen kann, womit und mit wem ich arbeitete. 

    Kul­tur­his­to­risch haben sich nicht ein­mal die grund­sätz­li­chen Erkennt­nis­se der Auf­klä­rung in unse­rer Gesell­schaft voll­stän­dig ver­brei­tet. Über­for­de­re Men­schen und ver­lie­re sie. 

    In for­ma­len Macht­ver­hält­nis­sen sieht genau das schon etwas anders aus. In ideel­len wird es da schnell pro­ble­ma­tisch mit dem Wol­len und Können.

    • Ich ver­ste­he dein Argu­ment. Aber ich tau­sche für mich for­mel­le und ideel­le Ver­hält­nis­se: Als Leh­rer ori­en­tie­re ich mich gegen­über Ler­nen­den an der von dir for­mu­lier­ten Maxi­me und über­for­de­re sie nicht (oder nur sehr selek­tiv). Aber in ideel­len Kon­tex­ten will ich mich nicht so ver­hal­ten, als sei ich der Leh­rer. Son­dern als fän­de ein Aus­tausch zwi­schen gleich­wer­ti­gen Men­schen statt, die sich grund­sätz­lich wohl­wol­lend begeg­nen, aber halt auch kri­tisch. Und sich nicht scho­nen müs­sen, weil sie ein­fach Sicht­wei­sen und Mei­nun­gen aus­tau­schen. (Neh­men wir die­sen Kom­men­tar: Es ist doch deut­lich, dass wir bei­de nicht die­sel­be Mei­nung haben. Aber das ist kein Angriff von mir auf dich und umge­kehrt: Es macht eine Dif­fe­renz sicht­bar, die es gibt. Hät­te in Angst, dich zu ver­let­zen, dann wäre das nicht mög­lich. Das pas­siert im All­tag oft, weil bei Bezie­hun­gen die Sache abso­lut im Hin­ter­grund steht. Eine Fami­lie han­delt nicht aus, wie sie sich am bes­ten orga­ni­sie­ren oder ernäh­ren kann, son­dern sie pflegt Bezie­hun­gen. Aber eine Com­mu­ni­ty of Prac­ti­ce im Netz soll­te das nicht tun: Sie soll­te die Sache nicht den Bezie­hun­gen unter­ord­nen. Im bes­ten Fall geht natür­lich bei­des: Tol­le Bezie­hun­gen und pro­duk­ti­ve Dis­kus­sio­nen. Aber im Moment ist das wohl nicht immer der Fall.)

  • Pingback: Warum man als Lehrer auf jeden keinen Fall twittern sollte – Die reine Leere

  • Dan­ke für den offe­nen Beitrag!

    Ich hat­te die­se Phä­no­me­ne eben­falls mal ver­sucht zu beschreiben:
    https://matthias-andrasch.de/2017/das-groesste-experiment-der-geisteswissenschaften-und-netzpflicht-fuer-bildungsvisionaere/

    VG,
    Matthias

  • Pingback: Beobachtungen aus Digitalien « Allgemein « riecken.de

  • Pingback: Warum man als Lehrer auf jeden keinen Fall bei Twitter sein sollte – Die reine Leere

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