10 Pflichtfach Informatik \n 20 goto 10
Ich halte ein „Pflichtfach Informatik“ für unverzichtbar. Auf Twitter wird Ludger Humbert nicht müde, immer wieder und wieder danach zu rufen, wobei die Penetranz, mit er er diese Forderung vorträgt, weit über die von z.B. Jean-Pol Martin implizit als notwendig erachtete hinausgeht.
Diese Dauerschleife führt im Wesentlichen zu drei Reaktionsmustern:
- Man erträgt sie nicht mehr und blockt oder mutet.
- Man erwidert, dass man ja auch nicht ein Auto verstehen müsse, um es zu bedienen.
- Man erwidert, dass man ja auch nicht ein Auto verstehen müsse, um es zu bedienen und blockt oder mutet dann.
Eigentlich findet damit eine Auseinandersetzung auf zwei Ebenen statt: Eine emotionale und eine rationale. Wenn ich in der Beratung etwas nicht will, versuche ich genau auf zwei Ebenen Ablehnung zu erzeugen: Emotional und rational, wobei die erste Ebene wesentlich wichtiger ist.
Ohne Blumenfilter: Die Art und Weise, wie diese Forderung vorgetragen wird, sorgt m.E. eigentlich erst dafür, dass man ihr keine oder allenfalls negativ besetzte Beachtung schenkt.
Die rationale Ebene der Autoanalogie ist für mich allerdings eine nur vordergründig rationale, die wiederum viel mit dem jeweils zugrunde liegenden Kompetenzbegriff zu tun hat. Vermeintlich als Synthese schleicht sich zusätzlich der Begriff der Medienkompetenz in die Debatte, wobei ich denke, dass es keine wie auch immer geartete Medienkompetenz ohne informatische Bildung geben kann. Aber langsam.
Medienkompetenz ist sexy, denn:
- Medienkompetenz ist vordergründig ohne technisches Wissen vermittelbar.
- Medienkompetenz lässt sich am ehesten in bestehende Fächer integrieren – das ist administrativ sehr sexy, weil es realistischer erscheint, als ein weiteres Fach zu schaffen, was ggf. zu Lasten anderer Fächer geht.
- Medienkompetenz fällt digital affinen Menschen quasi im Vorbeigehen zu oder wird oftmals intrinsisch motiviert erworben, weil es z.B. Vorteile für den eigenen Unterricht bietet oder geeignete, sich selbst bestätigende Filterbubbles dafür gibt.
Der Medienpädagoge sagt:
„Wenn du XY schon nutzt, dann empfehle ich die und die Profileinstellungen, damit bestimmte Informationen nicht sofort Dritten zugänglich werden.“
Informatik ist so gar nicht sexy, denn:
- Sie hat etwas mit algorithmischen Denken zu tun, wovon „Programmierung“ nur ein winziger Bruchteil ist. Algorithmisches Denken zwingt sehr viel an Strukturen auf. Das ist oft wenig lustbesetzt, wenn man es nicht kennt. Auch Qualitätsmanagementzyklen sind im Prinzip algorithmisch: Evaluation => Zielsetzung => Planung => Umsetzung von Maßnahmen => Evalulation … (Ok. Manchmal ist das ja auch zum Kotzen)
- Es haftet dieser Disziplin immer noch ein Mythos von langhaarigen, weißhäutigen, pizza- und energydrinksverschlingenden Subjekten an, die sich ansonsten in Serverschränken von Bits und Bytes ernähren. Dabei wird gerne vergessen, dass z.B. Socialmedia nicht ein Produkt von Philosophen und Pädagogen ist und dass große Softwareprojekte von Teams und sozialen Umgangsregeln geprägt sind, von denen wir auf Socialmedia oftmals nur träumen.
- Sie bedroht Pfründe. Welcher engagierte Pädagoge möchte von seinem Fach etwas abgeben? Und dann noch für ein Fach mit so zweifelhaftem Nutzen? Denn: Autofahren kann man ja auch so (auch so eine Dauerschleife).
Der Informatiker sagt:
„Wenn du XY nutzt, solltest du folgende Angaben nicht machen und dir darüber im Klaren sein, dass es keine Löschfunktion gibt (obwohl sie so heißt), sondern nur die Möglichkeit, die Sichtbarkeit von Informationen temporär einzuschränken.“
Das Autoargument
… könnte auch lauten: Ich muss nichts über Chemie wissen, um Kosmetik zu benutzen. Oder: Ich brauche kein Wissen über Erkunde, um eine Reise zu unternehmen. Trotzdem „leisten“ wir uns beide Fächer, obwohl oder gerade weil diese beiden Aussagen stimmen.
Wir leisten uns diese Fächer, weil wir annehmen (ja, es ist eine Annahme), dass diese umfassende Konzepte vermitteln, die uns in unserer Welterfahrung und Berufsfindung nützlich sind.
Bezogen auf Informatik: Was erleben wir denn gerade und beschreiben es ja auch wieder und wieder in der Filterbubble? Richtig: Den enormen Einfluss der Digitalisierung auf Wirtschaft und Gesellschaft. Genau wie die Atome und Moleküle Grundkonzepte beim Aufbau von Materie beschreiben, beschreibt Informatik eben Grundzüge digitaler Strukturen. Wenn wir Grundzüge nicht vermitteln wollen, so müssen wir konsequenterweise alle Fächer abschaffen.
Das Autoargument beschreibt kein Grundkonzept. Es beschreibt einen winzigen Teil von Mobilität, der zudem immer unwichtiger werden wird. Daher kann man es m.E. gegen die Forderung nach einem Pflichtfach Informatik nicht in Stellung bringen.
Ebenso wenig wie ich heute weiß, wie der Zitronesäurezyklus genau abläuft, weiß ich durch Informatik später nicht, wie ein Rechner funktioniert, aber ich habe Grundzüge der Datenverarbeitung kennengelernt, die sich genau wie der Zitronensäurezyklus nicht großartig ändern.
Das Emotionale am Autoargument
Es ist uns Anwendern eigentlich klar, dass wir sehr wenig wissen. Weiterhin ist uns klar, dass dieses Unwissen Konsequenzen haben wird. Ansonsten würden wir von z.B. der Politik nicht so vehement fordern, dass sie z.B. bestimmte Dinge regulieren soll, z.B. Amazon oder Facebook. Und es ist uns noch etwas klar: Während wir das Lernen lange Zeit auf jüngere Generationen abschieben konnten, klappt das mit mit dem Lernen hinsichtlich des Digitalen eher nicht so gut, da diese Veränderung uns alle betrifft und uns daher auch alle fordert – vor allem auch auf dem Gebiet ethischer Grundsätze, die es für Digitalien neu zu schreiben und zu definieren gilt. Das ist schwierig, wenn ich nur ahnen kann, was generell möglich ist. Dann kommt da z.B. sowas wie Vectoring heraus.
Das ist zusätzlich sehr unangenehm und gar nicht bequem. Das sollen doch besser die langhaarigen, weißhäutigen, pizza- und energydrinksverschlingenden Subjekte machen. Wir wollen anwenden und benutzen. Dummerweise bestimmen damit die langhaarigen, weißhäutigen, pizza- und energydrinksverschlingenden Subjekte bzw. ihre Firmen grundlegende Strukturen auf Basis marktwirtschaftlicher Konzepte. Ich finde diese Vorstellung irgendwie blöd.
Kompetenzgeseier als Ausweg?
Die Vermittlung von Medienkompetenz ist im Extremfall nichts weiter als die Weitergabe autodidaktisch erworbener Anwenderkenntnisse bzw. gemachter Erfahrungen innerhalb von Socialmedia. Sie ist ohne Zweifel wichtig und sollte Teil in jedem Fach sein. Sie lässt sich aber auf Basis von Wissen über informatische Grundkonzepte m.E. viel fundierter und tragfähiger vermitteln. Die fiktive Aussage des stereotypen Informatikers oben eröffnet erweiterte Handlungs- und Bewertungsmuster gegenüber der stereotypen medienpädagogischen Position (wobei beides natürlich nur Beispiele zur Veranschaulichung sind).
Der Kompetenzseierer würde jetzt einwenden, dass informatisches Wissen ja auch veralte und damit eher Kompetenzen zum selbstständigen Erschließen des informatischen Wissens vermittelt werden sollten. Damit macht er einerseits den Dualismus zwischen Kompetenz und Wissen auf, den er den Kompetenzkritikern gerne vorwirft. Und er öffnet andererseits Systemen (z.B. Lobbyisten) Tor und Tür, den den Bereich der Informatik dann eben auf ihre Weise besetzen, denn Menschen in Ausbildung ahnen ja schon ein wenig, dass es in diesem Bereich Entwicklungsmöglichkeiten im späteren Leben gibt.
Das Argument mit dem „schnell veraltetenden Wissen“ finde ich darüber hinaus auch einigermaßen merkwürdig. Genau wie mathematische oder chemische Konzepte einigermaßen konstant verlässlich sind und den Kompetenz- und Wissenserwerb in beiden Disziplinen sowohl strukturieren und letztendlich dadurch auch erleichtern, gibt es auch in der Informatik allgemeingültige Strukturen wie etwa die Zerlegung eines Problems und Teilschritte. In den Geisteswissenschaften sind diese Strukturen naturgemäß weniger eng bzw. formal bestimmt ausgeprägt, aber dennoch vorhanden.
Fazit
Medienkompetenz ist erstmal besser als nichts und vielleicht auch der zunächst pragmatischere und bequemere Weg. Wenn wir jedoch in einer zunehmend digitalisierten Welt leben, wird ein Grundlagenfach wie Informatik für mich jedoch unverzichtbar, auch wenn die Forderung danach vielleicht unrealistisch und unbequem erscheint. Und nein: Informatik heißt nicht „programmieren lernen“. Es heißt viel mehr.