Mythen zum Digitalpakt
Es fällt mir sehr schwer angesichts der Berichterstattung zum Digitalpakt ruhig zu bleiben. Selten lese ich so viel Unsinn wie zu diesem Thema – ich finde sogar, dass vieles verantwortungslos dargestellt wird und paradoxerweise nützt genau diese Darstellung insbesondere den großen globalen Digitalunternehmen, die man ja eigentlich aus den Schulen heraus halten möchte. Einfaches Lesen der Bund-Länder-Vereinbarung zum Digitalpakt oder z.B. der niedersächsischen Förderrichtlinie würde da schon helfen, aber das wäre wohl viel zu viel an Erwartung zur Recherchekompetenz.
Dem Wesen nach gelten meine Aussagen für wahrscheinlich alle Förderrichtlinien der Länder, weil sich diese alle an der Bund-Länder-Vereinbarung orientieren müssen.
Mythos 1: „Es muss alles ganz schnell gehen“
Das ist zumindest in Niedersachsen nicht so. In der Förderrichtlinie steht:
„Förderanträge sind mit den erforderlichen Angaben spätestens bis zum 16.05.2023 bei der
Bewilligungsbehörde zu stellen […]“ (Satz 7.4)
Zusätzlich gibt es in Niedersachsen kein Windhundprinzip. Die Fördersummen sind für jeden Träger errechnet und stehen ihm fest zu.
Mythos 2: „Jetzt können wir iPads kaufen“
Dem Kauf von Endgeräten sind schon in der Bund-Länder-Vereinbarung klare Grenzen gesetzt. In Niedersachsen wird das nochmal konkretisiert:
„[Förderfähig sind] [m]obile Endgeräte (Tablets, Laptops und Notebooks) inkl. Lade- und Aufbewahrungszubehör, wenn
a) die Schule über die notwendige Infrastruktur nach den Nrn. 2.1 bis 2.5 verfügt,
b) spezifische fachliche oder pädagogische Anforderungen den Einsatz solcher Geräte
erfordern und dies in einem pädagogisch-technischen Anforderungsprofil (4.3) der Schule dargestellt ist, der Antragsteller bestätigt, dass weitere Investitionen nach den Nrn. 2.1 bis 2.5 nicht erforderlich sind, und
c) die Gesamtkosten für mobile Endgeräte von 25.000 Euro je einzelne Schule nicht
überschritten werden.“ ( Satz 2.6 )
Für diese Summe bekommt man maximal 1–2 Klassensätze, um z.B. Lehrkräfte mit diesen Geräten zu schulen – was ich auch für sinnvoll halte. Ruft eine Schule dieses Geld ab, verwirkt der Träger automatisch die Förderfähigkeit für ALLES andere, was förderfähig ist – schauen wir in den nächsten Mythos:
Mythos 3: „Die ganze Kohle geht nur in Hardware!“
Jein. Kritisch ist für mich hier nur Satz 2.4 (rot), merkwürdig der hintere Teilsatz 2.1 (grün)
„Gefördert werden
2.1 Maßnahmen zum Aufbau und zur Verbesserung der digitalen Vernetzung in Schulgebäuden und auf dem Schulgelände; Serverlösungen jedoch nur, sofern zum Zeitpunkt der Antragstellung von keinem Anbieter ein Anschluss der betreffenden Schule an das Glasfasernetz innerhalb von mindestens 12 Monaten garantiert werden kann,
2.2 die Einrichtung von schulischem WLAN mit den in Anlage 1 definierten technischen Mindeststandards,
2.3 Aufbau und Weiterentwicklung digitaler Lehr-/Lern-Infrastrukturen (z. B. Lernplattformen, pädagogische Kommunikations- und Arbeitsplattformen, Portale, Cloud-Angebote), soweit sie im Vergleich zu bestehenden oder im Aufbau befindlichen Angeboten pädagogische oder funktionale Vorteile bieten,
2.4 Anzeige- und Interaktionsgeräte (z. B. interaktive Tafeln, Displays nebst zugehöriger Steuerungsgeräte) zum pädagogischen Betrieb in der Schule,
2.5 digitale Arbeitsgeräte, insbesondere für die technisch-naturwissenschaftliche Bildung oder die berufsbezogene Ausbildung,“ (Satz 2, Förderrichtlinie Niedersachsen)
Die ganze Kohle geht in Infrastruktur. Wenn es ganz schlimm läuft, geht sie ausschließlich in interaktive Tafelsysteme. Sie geht NICHT in Endgeräte.
Wer profitiert von Infrastrukturausgaben? Beratungsagenturen für Ausschreibungserstellung Elekroplanungsbüros, Elektroinstallationsunternehmen – das ist klassische lokale Wirtschaftsförderung.
Weiterhin profitieren Anbieter von Schulserverlösungen und Kollaborationsumgebungen – hoffentlich nicht Anbieter von lehrerzentrierten Lehrplattformen.
Und: Es könnten tatsächlich Hersteller interaktiver Tafellösungen profitieren – dann ginge das Geld wirklich in Hardware.
Aber das Geld geht definitiv nicht zu Google, Microsoft oder Apple. Oder ich überlese da etwas in der Förderrichtlinie.
Mythos 4: „Die Schulen bekommen Geld!“
Das ist falsch. Der Schulträger erhält einen Fördertopf. 30.000 Euro muss er als Sockelbetrag zweckgebunden pro Schule mit mindestens 60 SuS (in Niedersachsen) einsetzen, wenn er Mittel beantragt. Der Rest ist theoretisch frei zwischen den Schulen eines Trägers verschiebbar. An die Mittelfreigabe ist in Niedersachsen ein zweistufiges – aber beherrschbares – Antragsverfahren gebunden, bei dem die Schule darlegen muss, wie sie die Mittel pädagogisch einzusetzen gedenkt. Genügt dieses Konzept nicht bestimmten Kriterien, droht dem Träger im schlimmsten Fall die Mittelrückforderung – und der Schule dann äußerst schlechte Presse.
Mythos 5: „Durch den Digitalpakt bekommen alle Schulen Glasfaser!“
Das ist falsch. Die Erschließung der Schulen durch Glasfaser ist nicht durch den Digitalpakt förderfähig. Das liegt daran, dass es dazu ein gesondertes Förderprogramm des BMWI gibt und man eine Doppelförderung immer juristisch ausschließen muss.
Fazit
Der Digitalpakt hat viele Baufehler u.a.:
- Der Träger wird mit dem Thema Support allein gelassen
- eine Einmalförderung ist nicht ausreichend
- Wie soll ein pädagogisches Konzept für Infrastruktur (LAN/WLAN) aussehen? Braucht man das überhaupt?
- usw.
Natürlich bereitet Infrastruktur den Weg zur Nutzung der tollen Angebote der Big5-Unternehmen. Er schafft die Voraussetzung zum Einsatz mobiler Geräte. Aber wir als Gesellschaft haben in der Hand, WIE wir diese Strukturen nutzen. Und die Schulen haben etwas Zeit, das zu reflektieren und dabei beraten zu werden – denn Infrastruktur ist die komplexeste Aufgabe unter allen förderfähigen.
Die Verbreiter dieser Mythen kommen aus den unterschiedlichsten Lagern – „Qualitätsmedien“ sind ebenso wie der Boulevard betroffen, so dass ich die Unterstellung wage, dass man sich oft nicht hinreichend oder nur sehr oberflächlich mit dem Thema beschäftigt hat.
Es ist bei Kritik dann schnell „en vogue“ sich nicht mit diesen „undurchschaubaren digitalen Teufelszeug“ beschäftigt zu haben. Die Haltung ist für mich ursächlich für unsere schwierige gesellschaftliche Lage in Bezug auf Digitalien. Aber was weiß ich schon.