Wir versetzen uns einmal in die Lage eines CEO
- Da gibt es mit der Digitalisierung der Gesellschaft eine Entwicklung, um die kein staatliches Bildungssystem herumkommt, wenn eine Volkswirtschaft auf Dauer wachsen und damit Dinge wie Wohlstand und sozialen Frieden ermöglichen soll.
- Da gibt es ein Bildungssystem mit immensen Investitionsstau auf dem Gebiet der Digitalisierung, sowohl finanziell als in Bereichen wie Informationsmanagement.
- Da gibt es Schulen, die auf Wunsch des Dienstherrn zunehmend selbstständig sein sollen, die aber von den personelle Ressourcen her oft optimierbar aufgestellt sind.
- Da gibt es ein Schulsystem, dass von seiner Grundstruktur preußisch-hierarchisch strukturiert und damit an Vorgaben von oben gebunden ist.
- Da gibt es eine Konkurrenzsituation vieler unterschiedlicher Anbieter.
- Da gibt es ein teures, meist provisionsbasiertes Vertriebssystem, das vorwiegend auf die Belange der Wirtschaft ausgerichtet ist und Schule von innen nicht kennt.
- Da gibt es Entscheidungsträger, die technisch manchmal nur wenig qualifiziert sind und die nicht in ausreichendem Maße auf ein neutrales Beratungssystem zurückgreifen können.
- Da gibt es einen immens volatilen Markt, was die Progression technischer Entwicklungen, Produktfolgen und Ansprüche der Kunden angeht.
Was ist die Natur wirtschaftlicher Player in einer sozialen Marktwirtschaft?
- Wenn sie nicht wachsen, gehen sie unter oder werden von Konkurrenten geschluckt.
- Wenn sie für ihre Produkte keinen Alleinstellungsraum schaffen (meist weniger durch Features als vielmehr durch Tupperpartyvermarktungskonzepte, s.u.) werden sie keinen verlässlichen Absatz generieren.
- Wenn sie keinen Gewinn machen, bestehen sie nicht am Markt und ebenso ihre Mitarbeiter, für die sie eine Verantwortung tragen.
- Wenn Sie keine guten Produkte haben, die sich an den Bedürfnissen ihrer Kunden orientieren, bestehen sie nicht am Markt.
- Wenn sie nicht die hierarchischen Strukturen des Schulsystems für sich selbst und ihren Absatz nutzen und politische Lobbyarbeit betreiben, fallen sie gegenüber ihren Konkurrenten zurück. Das sieht man sehr hübsch an der Stellung der lobbylosen OpenSource-Produkte im deutschen Bildungsystem.
Ich finde bisher daran nichts Böses oder Verwerfliches. Wirtschaft verhält entsprechend der Regeln einer Marktwirtschaft, womit dann ja auch gleich ein Schlüssel gefunden wäre, das Ganze im Sinne demokratischer Grundsätze zu steuern: Dafür gibt es einen Rahmen in Form von Gesetzen bzw. im Schulsystem in Form von Erlassen.
TTIP ist nun der geniale Schachzug, auch diese mögliche staatliche Einflussnahme auf die eigene Produktpolitik zu eliminieren – das wäre aber eine eigene Geschichte.
Wie reagiert Wirtschaft in diesem Umfeld?
Von „Wirtschaft“ komme ich in meinem Umfeld fast nur über Vertriebler und ihren rhetorischen Taktiken in Kontakt. Ich bin bei ihnen mittlerweile nicht mehr so gerne gesehen. Daher mögen meine Beobachtungen sehr stark eingefärbt sein, aber vielleicht erkennt ihr das eine oder andere wieder.
Wirtschaft will Tupperpartys
Man möchte sein Produkt auf Veranstaltungen, auf der Entscheidungsträger anwesend sind, möglichst exklusiv präsentieren und nicht in Konkurrenz zu Mitbewerbern. „Herr Riecken, das mit ihren finanziellen Bedenken lassen Sie meine Sorge sein. Ich stelle den Entscheidungsträgern das Produkt mit seinen insbesondere investiven Vorteilen gerne alleine dem Gremium vor!“
Es kommen insbesondere Lehrer nach einer solchen Tupperparty manchmal total begeistert an und allein auf Grundlage dieser Begeisterung wird dann z.B. ein Programm oder ein Gerät beschafft, mit dem man über Jahre arbeitet. Das ist leider auch bei Schulbüchern oft nicht anders.
Mit mir gibt es keine Tupperpartys. Es werden immer mindestens drei Mitbewerber zu einer Veranstaltung eingeladen.
Ich versuche, die provisionsbasierte Vertriebsstruktur nach Möglichkeit zu vermeiden. Wir vor Ort streben an, nach Sondierung des Marktes standardisierte Leistungsbeschreibungen zu erstellen, mit denen die Entscheider nach den vorgegebenen Richtlinien formal sauber ausschreiben können. Der günstigste gewinnt.
Standardisierung kann man trotzdem erreichen. Auch in einer formal korrekten Leistungsbeschreibung lassen sich Alleinstellungsmerkmale eines Herstellers sauber unterbringen. Das klingt wie ein fieser Trick. Es macht aber kaum Sinn, z.B. für eine Region zig verschiedene WLAN-Systeme zu beschaffen und den Supportaufwand dafür in die Höhe zu treiben.
Wirtschaft will weg vom Kaufmodell
Microsoft vermietet seine Software, Adobe auch, AeroHive will für die Nutzung seines Hivemanagers jährlich Kohle sehen (man kann den Hivemanager jedoch auch selbst kostenfrei betreiben, wenn man das technische Know-How dafür hat), Lernplattformen und Schulnetzwerklösungen werden nach Schüleranzahl jährlich abgerechnet. Der Trend geht weg von der einmaligen Anschaffung hin zu verlässlich generierten Umsätzen. Da muss man sehr genau rechnen – gerade bei Lernplattformen kann man für die jeweilige Jahresgebühr oft hochwertige Freelancer volle zwei Monate für die Betreuung eines OpenSoureproduktes bezahlen. Auch bei Microsoft sollte man sehr genau hinschauen, weil deren Lizensierungsmodell mittlerweile eigentlich einen eigenen Studiengang erfordert.
Wirtschaft will langfristige Kundenbindung
Auch das ist angesichts der oft immensen Investitionen, die zur Entwicklung eines Produktes notwendig sind, zunächst wenig verwunderlich. Man kann Kunden auf verschiedene Art und Weise an sich binden: Zum einen durch kontinuierliche Qualität, zum anderen aber auch dadurch, dass ich den Wechsel zu einem anderen Anbieter erschwere. Jeder, der schon einmal den DSL-Anbieter gewechselt hat, weiß wie das u.U. aussehen kann. Allein die Scheu vor möglicherweise auftretenden Problemen bewegt zumindest mich hin und wieder des lieben Friedens willen doch bei meinem Anbieter zu bleiben.
Wenn ich als Schule viel Content bei irgendwem gebunkert und aufgebaut habe, ist dieser jemand gesetzt – für Jahre, alles andere wäre unrealistisch. Das weiß ein Anbieter und kann das z.B. indirekt nutzen, indem er dafür sorgt, dass Inhalte und Strukturen in proprietären Formaten vorliegen oder der Zugriff auf eine Plattform nicht über gängige Webstandards, sondern z.B. neben dem Browser lediglich mit einer speziellen App möglich ist.
Spezielle Probleme in Deutschland für Anbieter
Deutschland hat einige Spezifika, die mir als Anbieter die Haare zu Berge stehen lassen würden. So existiert ein ausgeprägtes Bewusstsein hinsichtlich des Datenschutzes – gelegentlich auch als Abwehrkonzept gegenüber neuen Technologien. Es gibt durchaus schon Anbieter, die mir vorgeworfen haben, ich würde marktbehindernd beraten, wenn ich Schulen auf geltende Datenschutzgesetze verweise und z.B. Dinge wie Einwilligungserklärungen und Verträge zur Auftragsdatenverarbeitung zum Kriterium für die Auswahl eines Produkts mache.
Weiterhin gibt es in Deutschland ein weitaus engeres Neutralitätsgebot als in anderen Ländern: Staatliche Schulen haben nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, Kooperationen mit der Wirtschaft einzugehen, um ihre zum Teil chronische Unterfinanzierung zu kompensieren. Anbieter versuchen, dieses Problem zu umgehen, indem wirtschaftliche Vereine gegründet werden, die teilweise als gemeinnützig anerkannt sind und so auch einigermaßen „sauber“ durch die Politik befördert werden können. Diese Konstrukte sind aber nötig, weil die Regelungen in Deutschland eben sehr eng sind.
In Deutschland wird zusätzlich digitale Technologie oftmals nicht als Chance, sondern mehr als Bedrohung der eigenen Lebens- und Unterrichtspraxis begriffen. Schule müsse sich „dem allgemeinen Trend entgegenstellen“ und „Alternativen zum digitalen Alltag bieten“. Gleichzeitig werden die Kommunikationsstrukturen durch immer neue Aufgaben von Schule komplexer und analoge Formen wie schwarze Bretter kommen mehr und mehr an Grenzen. „Dann auch noch umstellen auf Digitalzeugs?“.
In Deutschland gibt es an Schulen zuhauf Lokalprinzen wie mich, die Systeme aufgebaut haben und betreuen, obwohl es nicht deren Aufgabe ist. Nur vertraut man dem Lokalprinzen natürlich weit mehr als einer Firma, die am Telefon nur „Fachchinesisch und arrogant redet“ (das sind oft die rückgemeldeten Erfahrungen). Der Lokalprinz ist greifbar, man ist u.U. nicht mit allem zufrieden, aber man weiß, was man hat und was nicht. Lehrer greifen nicht gerne zum Telefon, um sich helfen zu lassen – das wäre ein Eingeständnis von Unvollkommenheit.
Und zuletzt haben wir in Deutschland ein merkwürdiges Finanzierungskonstrukt: Lehrkräfte werden durch das Land, Sachmittel durch den Träger finanziert – da stehen sich schon unterschiedliche Interessen gegenüber. Nun sind diese beiden Bereiche aber nicht zu trennen. Beschaffung von Software und Geräten ist immer auch mit pädagogischen Fragen verknüpft. Wer hier als Anbieter nicht die Belange beider Seiten erkennt und nutzt, wird es schwer haben, im Markt Fuß zu fassen. Daher heuern viele Anbieter jetzt Lehrkräfte an, um ihre Produkte in den Schulen zu platzieren. Diese erhalten für ihre Arbeit natürlich eine Vergütung und sind oft an unternehmensinterne Kommunikationsrichtlinien gebunden. Keine gute Voraussetzung für Neutralität.
Wer löst es wie?
An vielen Stellen passt für mich der strukturelle Rahmen nicht. Hier ist Politik gefordert, an neuralgischen Punkten Klarheit zu schaffen, etwa mindestens dafür zu sorgen, dass es für Anbieter und Schulen klare Checklisten oder rechtssichere Musterverträge gibt, wie datenschutzkonform gearbeitet werden kann.
Ich fürchte bloß, dass von dieser Seite nicht viel zu erwarten und das genau diese Leerstelle ursächlich für das ist, was oft als „Lobbyismus an Schulen“ beklagt wird.
Was soll denn ein Anbieter anderes machen, als subversive, kreative Wege zu finden, um an die potentiell lukrative Kundengruppe zu kommen, die sich in den Schulen findet?
Ein neutrales Beratungssystem als Schnittstelle zwischen Anbietern und Schule kann auch viel bewegen. Ich merke bloß bei mir selbst immer wieder, wie sehr ich private Vorlieben und Abneigungen bestimmten Produkten und Dienstleistungen gegenüber aktiv bekämpfen muss, um wirklich neutral zu bleiben oder eben in Fällen, wo ich das einfach nicht bin, einfach an Personen abzugeben, die in dem Bereich versierter oder ggf. auch schlicht begeisterter sind.
Ich könnte mir vorstellen und meine, es auf Twitter auch immer wieder mitzubekommen, dass es Kollegen gibt, die auch wie ich genau damit ringen oder den inneren Konflikt zugunsten einer Präferenz auch schon ganz entschieden haben.
Fazit
Für mich ist Lobbyismus primär in den Strukturen von Schule bereits angelegt. Wenn man dafür sensibilisieren möchte, sehe ich den Ball bei der Kultuspolitik. Ich habe viel Verständnis dafür, wie Anbieter zurzeit agieren (müssen) und Hochachtung vor vielen, die ich kennen lernen durfte, die sich trotzdem mit Herzblut und Verbesserungswillen als Partner von Schule verstehen – und so auch agieren, aber natürlich gerne auch mal die teuerste Lösung verkaufen, die dann zwar super läuft, aber von der Dimensionierung und der Kosteneffizienz in meinen Augen nicht unbedingt immer das Optimum darstellt.