Sollten Kinder bereits an der Grundschule chatten lernen?
In einer von Axel Krommer ausgelösten Twitterdiskussion zwischen Philippe Wampfler und Sabine Czerny ging es letzte Woche heiß her. Strukturell tritt hier etwas auf, was mich zur Zeit massiv bei Diskussionen zum Einsatz digitaler Mittel und Techniken an der Schule stört. Das lässt sich gut an diesem Beispiel zeigen, weil da ganz unterschiedliche Ansätze aufeinandertreffen. Ich verkürze einmal die Argumentation von Philippe Wampfler:
- Kinder chatten in ihrer Freizeit bereits, losgelöst, ob Schule sich damit beschäftigt oder nicht.
- Der Chat (z.B. auch WhatsApp) als Kommunikationsform ist eine etablierte Form gesellschaftlichen Informationsaustausches..
- Dazu gehören auch ergänzende chattypische Ausdrucksformen wie etwa Smilies, Abkürzungen etc. zum Ausdruck pragmatischer Informationsanteile.
- Daher ist es notwendig, bereits in der Grundschule mit Kindern über diese spezifische Kommunikationsform zu sprechen bzw. zu reflektieren
Philippe Wampfler geht in seiner Argumentation von einem Inhalt bzw. einer Kompetenz aus. Sabine Czerny geht von konkreten Erfahrungen mit Kindern aus. Da knallt es dann zwar einigermaßen höflich und rhetorisch hübsch verpackt, aber dennoch recht schnell.
Wie das Thema Chat für mich in die Grundschule gehört
Wie oben bereits deutlich wird, ist chatten für mich eine Form der menschlichen Kommunikation. Je nach Ansatz setzt sich Kommunikation aus syntaktischen, semantischen und pragmatischen Elementen zusammen.
- Syntax: Wie ist eine Kommunikation formal gestaltet?
- Semantik: Welche Bedeutung besitzen einzelne syntaktische Elemente?
- Pragmatik: Was wird über die syntaktische und semantische Ebene hinaus transportiert?
Beispiel:
- Syntax: Es gibt das Wort „Tisch“, dass aus vier Zeichen besteht.
- Semantik: Das Wort „Tisch“ ist einer Holzplatte mit meist vier Beinen zugeordnet, an der man z.B. essen kann.
- Pragmatik: Wenn ich auf einen Stuhl mit etwas zu Essen auf einem Teller sitze und und „Tisch?“ sage, könnte ich z.B. zum Ausdruck bringen, dass ich gerne einen Tisch hätte.
Zur pragmatischen Ebene gibt es sehr viele Modelle, weil genau das ein Feld ist, welches sich am schwersten in den Griff bekommen lässt, z.B. das Vier-Seiten-Modell von Schulz von Thun. Twitter und WhatsApp eskalieren an vielen Stellen, weil z.B. Ironie aus unterschiedlichen Gründen schlicht nicht erkannt wird – ein typisches Scheitern von Kommunikation auf der pragmatischen Ebene. Ein Chat ist lediglich eine mögliche Ausprägung von Kommunikation – nicht mehr und nicht weniger.
Was man meiner Ansicht nach also in der Grundschule bearbeiten und reflektieren „muss“, ist also schlicht Kommunikation.
- Was von dem, was andere zu mir sagen, verletzt mich?
- Was von dem, was andere zu mir sagen, macht ein schönes Gefühl?
- Macht es für mich einen Unterschied, ob mir jemand etwas schönes/hässliches schreibt oder es mir sagt?
- Wie fühle ich mich, wenn es mir nicht gelingt, in eine Gruppe zu kommen, weil die nicht mit mir reden?
- Wie sieht jemand aus, der wütend, fröhlich, gelangweilt […] ist?
- […]
Später, in der Übertragung auf digital vermittelte Kommunikationssituationen:
- Wann sage ich jemanden etwas direkt ins Gesicht?
- Was habe ich auf WhatsApp schon Schönes und Komisches erlebt?
- Mit wem spreche ich in einem Chatroom eigentlich? Ist das immer auch ein Kind?
- Was macht WhatsApp leichter, was ist total nervig?
- […]
In der Auseinandersetzung mit solchen oder ähnlichen Fragen werden bestenfalls Kommunikationsmuster erkennbar, die sich in unterschiedlichen Kommunikationsformen wiederfinden lassen bzw. auf sie übertragbar sind. In der Beschäftigung mit Chats allein nicht. Im Orientierungsrahmen Medienbildung, den ich mitgestalten durfte, steht für die Grundschule unter anderem dies:
Schülerinnen und Schüler kommunizieren und kooperieren unter Einhaltung von Umgangsregeln mit Hilfe verschiedener digitaler Kommunikationsmöglichkeiten
… und das kann ich u.a. erst machen, wenn ich allgemeine Umgangsregeln für Kommunikation diskutiert, erprobt und erfahren habe, bzw. ist dieser Schritt dann ein marginaler bzw. kommt er doch ganz automatisch mit hinein, wenn ein Vertrauensverhältnis zwischen Lehrkraft und Kindern besteht. Vielleicht gibt es die eine oder andere gerade im Netz sehr fluide und damit schulisch kaum sinnvoll zugängliche syntaktische Erweiterung in Form von Codes, Smilies etc. – aber da können Lehrkräfte meist mehr von SuS lernen als umgekehrt.
Fazit:
- Die Forderung, in der Grundschule über das Thema Chatten zu arbeiten, ist ein stark vereinfachte, die in dieser isolierten, nicht systemisch gedachten Form auf Widerstand stoßen muss und das ist gut so.
- Basis muss für mich das kindgemäße Reflektieren über Kommunikation an sich sein – und das geschieht an vielen mir bekannten Grundschulen ganz selbstverständlich.
- Digital vermittelte Kommunikation besitzt andere Kontexte und vor allem auf der Ebene der Pragmatik Herausforderungen, die auch viele Erwachsene komplett überfordern – u.a. weil man wunderbar pragmatische Elemente faken und instrumentalisieren kann. Daher ist zu prüfen, welche Voraussetzungen im Grundschulalter entwicklungspsychologisch bereits sinnvoll erfahrbar zu machen sind – und welche nicht.
Danke für diese Reflexion und die ausführlichen Gedanken. Die Argumentation läuft natürlich in vielen Bereichen so: Die Schule soll sich um Grundlagen, um Allgemeines kümmern; nicht um konkrete Tätigkeiten. Das würde ich aber infrage stellen: Wenn Chatten die konkreteste Form von Schreiben ist, die Kinder erfahren (und eine schwierige Form von Gruppenkommunikation) – warum soll es dann in der Schule nicht als solche behandelt werden?
Zwei Anmerkungen:
(1)
Die Forderung war weder »isoliert« noch »nicht systemisch« gedacht – folgt man dem Diskussionsverlauf (der ja mit dem Podiumsgespräch in Frankfurt beginnt, vgl. https://pisaversteher.com/2018/10/09/digiquartett-internet-essen-buch-auf/), dann wird deutlich, dass das lediglich ein maximal konkretes Beispiel ist, wozu und wie Kinder an Grundschule digitale Kompetenzen erwerben sollten (hier der Kontext auf Twitter: https://twitter.com/phwampfler/status/1054414916977868800 ).
(2)
Der Artikel drückt eine Kritik an meiner Rhetorik aus – ganz subtil verpackt, aber doch für mich klar wahrnehmbar. Diese Kritik finde ich recht ironisch, da sie mir vorwirft, anständig und sachlich zu bleiben, auch wenn es zu Differenzen kommt (zumindest verstehe ich sie so): Argumentative Differenzen bringen uns ja alle voran, sie klären unsere Standpunkte. Natürlich sind teilweise Emotionen damit verbunden, aber die interessieren mich einfach nicht besonders. Wer Auseinandersetzungen in digitalen Kanälen nicht mag, kann sich ja zurückziehen. Wer verletzt ist, weil andere die eigenen Standpunkte nicht übernehmen, muss sich da vielleicht mit sich selbst auseinandersetzen, statt anderen deswegen einen Vorwurf zu machen. Aber vielleicht verstehe ich den relevanten Punkt auch nicht – zumal ich seit zwei Jahren immer wieder ähnliche Vorwürfe höre, aus denen aber nur Konsequenzen ableiten kann, die für mich nicht tragfähig sind: Zu schweigen oder dort emotional zu werden, wo ich es wichtig finde, sachlich zu bleiben.
Hallo,
ich habe für meine Viertklässler vor zwei Jahren mal ein „Chat-Projekt“ ins Leben gerufen:
– im lokalen Netzwerk (Computerraum; nicht online!) habe ich einen Chat installiert
– die Schüler haben sich eingeloggt und nach vorher im Unterricht besprochenen Richtlinien kommuniziert (z.B. korrekte Rechtschreibung, freundlicher Umgang, …)
– die ersten Themen hatte ich vorgegeben, danach durfte frei gechattet werden
– am Ende habe ich die Chats ausgedruckt, sowohl den Klassenchat als auch alle Nachrichten der einzelnen Schülern!
Das hat den Kindern damals total viel Spaß gemacht! Würde ich sofort wieder machen, bin aber aktuell leider nur in einer ersten Klasse eingesetzt.
LG
Malik