Von Relativierern, Beschwichtigern und Verneinern der Gefahren im Netz
Kinderschutzverbände werden nicht müde, vor den Möglichkeiten zu warnen, die sich z.B. pädophilen Menschen im Netz bieten, an unschuldige Opfer heranzukommen. Für Spielsüchtige bietet das Netz eine Welt, in der sie ihre Sucht zügellos ausleben können. Enthauptungsvideos und andere für Kinder verstörende Inhalte geistern durch WhatsApp-Gruppen. Mobbing erhält durch Messenger ganz neue Dimensionen. Viele Menschen werden wie pawlowsche Hunde durch den Blick auf das Smartphone bestimmt. Man macht sich im Netz über Menschen mehr oder weniger lustig, die sich bewusst eine digitale Auszeit nehmen. Es entwickelt sich eine ganze Bewegung, die den sogenannten „Detox“ pflegt, auch aus Angst vor Abhängigkeit. Die Betrugsszenarien im Netz werden immer ausgefeilter, im Darkweb werden Waffen und durchaus auch Menschen gehandelt. All diese Dinge sind real und erschreckend.
Der Netzgemeinde, die sich für schulische digitale Bildung einsetzt, wird oft vorgeworfen, diese Aspekte auszublenden und zu relativieren. Auf die Spitze getrieben, ist jeder, der sich für Bildung im Zeitalter der Digitalisierung einsetzt, gerne mal dem Vorwurf ausgesetzt, im Prinzip nur ein williges Werkzeug der großen Digitalkonzerne zu sein, die neue Absatzmärkte für ihre Geräte und Ideologien in Schulen suchen. Und in der Tat sehe ich diesen Vorwurf sehr oft bestätigt, wenn Lehrkräfte ein technisches Gerät oder eine Plattform in den Mittelpunkt ihres Unterrichts stellen und nicht pädagogische Ziele.
Das sind reale Probleme, die gerne mal mit Begriffen wie „veränderte Wertesysteme“ und „Auflösung der Grenzen zwischen virtuell vermittelter und sinnlich erfahrbarer Welt“ von den Befürwortern verseiert werden.
Die Konsequenz der „Warner und Gegner“ sind dann Forderungen, in Schule einen bewussten Gegenpol zur digitalisierten Welt zu schaffen und sich dort ausschließlich auf Kulturtechniken wie z.B. Lesen, Schreiben, Rechnen zurückzubesinnen. Dann werden „Studienschlachten“ ausgetragen, die je nach Einstellung ausgewählt oder kritisiert werden. Viele dieser Studien scheinen mir aufgrund der oft sehr geringen Stichprobengröße wenig repräsentativ zu sein.
Man hat sowohl in dem Strategiepapier der KMK als auch z.B. im Orientierungsrahmen Medienbildung hier in Niedersachsen diesen beiden Polen – auch aufgrund der wichtigen Intervention der Kritiker und Mahner – Rechnung getragen. Auf Grundlage beider Papiere scheint mir eine Medienbildung möglich zu sein, die sowohl Chancen als auch Gefahren in den Blick nimmt.
Ich glaube, dass das eigentliche Problem noch viel schlimmer und bedrohlicher ist und ich glaube, dass sowohl Befürworter als auch Bewahrer dabei oft ähnlichen Irrtümern unterliegen.
Ausgangspunkt ist für mich zwei Tweets im Rahmen eines Streitgespräches auf Twitter:
Der Einfluss der IT wird fälschlicherweise als «Revolution» dargestellt. […]
Es gibt eine Technik (Internet) und menschliche Verhaltensweisen im Umgang damit, die man präzis beschreiben kann. Das Internet kann nicht «gesellschaftliche Systeme neu konstituieren». (Andreas Gossweiler, @a_gossweiler)
Dahinter steckt für mich eine gewaltige Reduktion. IT und Internet wird als „Technik“ aufgefasst. Diese Einstellung trägt in meinen Augen massiv dazu bei, dass sich im Internet bestimmte Dinge entwickelt haben, die wir nicht gerne sehen.
Der Buchdruck ist eine Technik. Durch den Buchdruck – genauer – durch die Befreiung des Buchdrucks vom Einfluss der Kirche – ist z.B. wissenschaftlicher Austausch möglich geworden, der die Entwicklung der Gesellschaft immens beschleunigt hat. Laut McLuhan spielt dabei wohl zusätzlich eine Rolle, dass zumindest in Europa Schrift nicht ikonisch angelegt, sondern der Lautung der gesprochenen Sprache angelehnt war. Diese „Entwicklung der Gesellschaft“ hat nicht nur Bibliotheken und das Schulwesen hervorgebracht, sondern auch Dinge wie effektivere Waffen, die Kolonialisierung oder die Industrialisierung mit allen ihren negativen Folgen, wie z.B. den Klimawandel und die immens ungleiche Ressourcenverteilung auf der Welt. Ohne Buchdruck wäre es wohl auch gegangen, aber wohl bei Weitem nicht so schnell. Ich halte den Buchdruck wie viele andere Autoren auch für durchaus gesellschaftskonstituierend, obwohl es zunächst eine schlichte Technik ist.
Die Eisenbahn ist eine Technik. Man stelle sich die Gesellschaft der Vereinigten Staaten von Amerika ohne die Rolle der Eisenbahn vor. Für die Urbevölkerung war die Eisenbahn hingegen eine reale Bedrohung. Das Problem für die Indianer war nicht die Technik, sondern der Umstand, was durch die neue Technik möglich wurde. Mit Pferd und Kutsche wäre die Erschließung des Westens wohl auch real geworden, jedoch wahrscheinlich nicht so schnell. Auch die Eisenbahn halte ich für eine gesellschaftskonstituierende Technik.
Beim Buchdruck und bei der Eisenbahn ist das aber auch sehr leicht einzusehen, weil wir quasi aus unserer Gegenwart auf die Vergangenheit schauen. Weder die Kirche des Mittelalters noch die Indianer wären in der Entstehungszeit des Buchdrucks bzw. der Eisenbahn wahrscheinlich in der Lage gewesen, ihre gesellschaftskonstituierende Dimension zu erkennen.
Die Folgen der Technik „IT“ und „Internet“ sind doch aber jetzt schon sichtbar, sowohl im Guten als auch im Schlechten. Das Verständnis dafür, wie es die Nutzung dieser „Technik“ aber zustandebringt, z.B. prekäre Arbeitsverhältnisse im Versandhandel oder eben Suchtproblematiken zu schaffen, steht aber erst am Anfang. Ich empfinde diese und andere Phänomene im übrigen nicht als „klein“ oder in der Summe „vernachlässigbar“. Für mich beschleunigt „IT-Technik“ genau wie der Buchdruck oder die Eisenbahn „lediglich“ bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen und macht Dinge, die vormals eher im Verborgenen lagen, brutal sichtbar, aber eben auch Dinge möglich, die vorher undenkbar waren – dummerweise auf einer globalen Ebenen – und das soll nicht gesellschaftskonstituierend sein?
Die negativen Auswirkungen bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen sind nach meiner Ansicht dadurch kompensiert worden, dass es unterschiedliche moralische (sic!) Standpunkte dazu gab. Eine moralisch-ethische Wertung von Entwicklungen auf IT-Sektor erfordert nach meiner Ansicht allerdings auch technisches Grundwissen, was sich oft nicht lustbetont erwerben lässt. Um eine Wertung drücken sich daher viele Beschwichtiger zugunsten einer Relativierung und oftmals einseitigen Darstellung. Klar findet z.B. Missbrauch immer oft im häuslichen Rahmen statt, aber die „Opferauswahl“ kann durch bestimmte Nutzungsformen von Technologie pervers effektiviert werden. Und als Lehrer und Vater bin ich mir – natürlich nur auf Basis von unwissenschaftlichem „Erfahrungswissen“ – gar nicht so sicher, ob es nicht auch durchaus sehr negativen Auswirkungen der Mediennutzung von uns anvertrauten Menschen gibt.
Die ggf. auch vorläufige moralische Wertung ist vor allem auch deswegen notwendig, weil Regulierungen in einem globalisierten System nicht ganz trivial sind. Mir erscheinen einige wohlmeinende Erklärungsansätze zum Webverhalten von Jugendlichen hart an der Grenze zur Anbiederungs- und Verständnispädagogik, die Dinge wie einen Erziehungsauftrag zu negieren vermag (ja, das ist wohl der bisher böseste Satz).
Ich fände es daher wünschenswert, wenn wir „Befürworter“ unser eigenes Medienverhalten und unsere Kaufgewohnheiten, aber auch unsere vermeintlichen technischen Kompetenzen gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern hinterfragen. Und ich fände es sehr wichtig, dass Kritiker nicht nur Geräte, sondern das gesellschaftkonstituierende Potenzial der Digitalisierung mit in den Blick nähmen.
Grundlage ist für mich dabei Grundwissen über Grundzüge der digitalen Welt. Ein iPad mit Apps bestücken und diese bedienen zu können, wäre mir nicht genug.