Eine medienpädagogische Kurzgeschichte
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Zunehmend wird davon geredet, Medienbildung mit in einzelne Fächer zu integrieren. Dieser Anspruch wirft oft Fragen auf, wie das bei all dem sonstigen Pensum überhaupt noch zu schaffen sei.
Ich möchte heute ein Beispiel präsentieren, dass zeigt, wie wenig zusätzliche Arbeit notwendig ist, um dieses Ziel zu erreichen. Bewusst knüpfe ich dabei an Methoden und didaktische Ansätze an, die vielen Lehrkräften mit dem Fach Deutsch bekannt sein sollten.
Die Skizze berührt folgende Kompetenzbereiche des neuen KMK-Strategiepapiers:
- Suchen, verarbeiten und aufbewahren
- Produzieren und Präsentieren
- Schützen und sicher agieren
- Analysieren und reflektieren
Die vorliegende Unterrichtsidee ist nicht mehr als eine Skizze. Je nach Lerngruppe wird man Veränderungen in der Reihenfolge der vorkommenden Texte vornehmen müssen.
Die Skizze legt den Schwerpunkt auf kritische Aspekte. Sie befasst sich nicht mit den individuellen Vorteilen personalisierter Werbung. Daher ist sie in Teilen natürlich inhaltlich einseitig und durch geeignetes Material bei der Konzeption der gesamten Einheit zu ergänzen.
Die Skizze arbeitet instruktiv mit vorgegebenen Texten. Das kann nicht im Sinne eines neuen Lernansatzes sein. Die sich aus ihr ergebenden Fragestellungen ermöglichen aber ggf. eigene Fragen der Schülerinnen und Schüler.
Die Unterrichtsskizze eignet sich für die Sekundarstufe I, mit Ausnutzung aller didaktischen Potentiale durchaus aber auch für einen Leistungskurs Deutsch im Kontext des Rahmenthemas „Medienkritik“.
Der Kontext
Die US-Drogeriemarktkette „Target“ hat nach Berichten in der Presse einen Weg gefunden, durch Verknüpfung von Kundendaten, elementare Veränderungen im Leben ihrer Kunden zu bestimmen – in diesem Fall die Schwangerschaft inkl. des voraussichtlichen Entbindungstermins. Bezeichnenderweise ist die Originalquelle von Charles Duhigg ( Quelle: http://www.nytimes.com/2012/02/19/magazine/shopping-habits.html – abgerufen am 8.12.2016 ) bereits auf das Jahr 2012 zu datieren – für Internetmaßstäbe nahezu historisch.
Das haben öffentlich-rechtliche Sender in Deutschland schon vor einiger Zeit recherchiert ( Quelle: http://www1.wdr.de/fernsehen/quarks/sendungen/bigdatatalk-kassenbon100.html – abgerufen am 8.12.2016 ). Dazu ist die Verknüpfung vieler Daten notwendig, u.a. müssen auch Kredit- oder EC-Kartenumsätze zwingend mit erfasst werden.
Medialer Aufhänger ist die Geschichte eines Vaters einer 16-jährigen Tochter, der die personalisierte Werbung für sein Kind gelesen hat. Daraufhin lief er aufgebracht in die Firmenzentrale, um sich darüber zu beschweren, dass seiner Tochter suggeriert würde, unbedingt schwanger werden zu müssen. Seine Tochter war jedoch tatsächlich schwanger, sodass der Vater sich nach zwei Wochen kleinlaut entschuldigen musste.
Diese Art der Berichterstattung auch in deutschen Medien provozierte weitere Metatexte, etwa den einer Soziologin, die sich nicht in dieser Weise durchleuchten lassen wollte und daher zu folgendem Maßnahmenkatalog griff:
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Sie instruiert Freunde und Bekannte auf sozialen Medien, ihre Schwangerschaft nicht preiszugeben
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Sie anonymisiert ihren Datenverkehr beim Einkauf im Internet aufwändig
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Sie zahlt ihre Einkäufe grundsätzlich mit Bargeld
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Sie verwendet auf Amazon eine selbstgehostete E‑Mailadresse unds keine von Gmail, da Google standardmäßig Nachrichten auf Schlagworte hin untersucht.
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Sie bezahlt auf Amazon mit Gutscheincodes
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Sie lässt sich Ware grundsätzlich an eine Packstation liefern
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Sie muss Beträge über 500 Euro wegen des Verdachts der Geldwäsche auf mehrere Personen aufteilen, um z.B. einen Kinderwagen bestellen zu können
( Quelle: http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2014–04/big-data-schwangerschaft-verheimlichen – abgerufen am 8.12.2016 )
Die Geschichte der durchleuchteten schwangeren Frauen hat wahrscheinlich einen wahren Kern. An dem medialen Aufhänger gibt es ernste Zweifel hinsichtlich des Wahrheitsgehalts:
Zitat:
„Beyond this […] the New York Times article itself provides another factoid making it even less likely the teen’s pregnancy had been determined analytically (if „determined“ by Target at all – perhaps the particular teen was simply placed accidentally into the wrong marketing segment): Target knows consumers might not like to be marketed on baby-related products if they had not volunteered their pregnancy, and so actively camouflages such activities by interspersing such product placements among other non-baby-related products. Such marketing material would by design not raise any particular attention of the teen’s father. “
(Quelle: http://www.kdnuggets.com/2014/05/target-predict-teen-pregnancy-inside-story.html – abgerufen am 8.12.2016)
Sinngemäß übersetzt:
Abgesehen davon enthält der Artikel in der New York Times selbst einen Fakt, der es weniger wahrscheinlich macht, dass die Schwangerschaft des Teenagers algorithmisch ermittelt wurde (wenn das überhaupt von Target so ermittelt wurde – vielleicht wurde der Teenager auch irrtümlich dem falschen Werbebereich zugeordnet): Target weiß, dass Kunden es eventuell nicht mögen, Werbung über Babyprodukte zu erhalten, wenn sie ihre Schwangerschaft nicht freiwillig offenbart haben. So tarnt Target solche Aktivitäten dadurch, dass auch andere Produkte in der entsprechenden Werbung platziert werden. Derartiges Werbematerial würde aber schon vom Ansatz her eben gerade nicht die spezielle Aufmerksamkeit des Teenagervaters erregen.
Ich selbst schrieb dazu vor Jahren in einem dystopischen Artikel:
„Die Entwicklung hin zu neuen Geschäftsfeldern wie dem Versicherungs- und dem Kreditwesen basiert auf Daten, die die Menschen uns freiwillig gegeben haben auf Plattformen, die sie als integral für ihr Leben empfunden haben und immer noch empfinden. Dabei haben wir anfänglich die Algorithmen bewusst „dumm“ gestaltet: Wer z.B. eine Kaffeemaschine kaufte, bekam über unsere Werbenetzwerke nur noch Kaffeemaschinen in Werbeanzeigen angepriesen. Er konnte dann mit dem Finger auf uns zeigen und sagen: „Schaut her, was für eine dämliche Algorithmik!“ Es war wichtig, Menschen dieses Überlegenheitsgefühl gegenüber Technik zu geben, obwohl sie schon längst davon entfremdet waren, damit sie uns weiter Informationen über sich lieferten.“
Auf Basis dieser Informationen lässt sich nicht nur das Durchleuten von Kunden durch „Big Data“ in den Blick nehmen, sondern auch die mediale Aufbereitung kritisch betrachten.
Die Kurzgeschichte
Inhaltlicher Ausgangspunkt ist eine Kurzgeschichte – sie wurde nicht von einem „richtigen“ Autor, sondern etwas selbstüberschätzend von mir extra für die Einheit verfasst, weil ich auf die Schnelle keinen vergleichbaren Text finden konnte – die literarische Qualität mag daher begrenzt und einige Klischees mögen zu sehr bedient sein:
Sylvie
(Maik Riecken, Dezember 2016)
Sie standen vor ihrer Tür. Ein Willkommensteam der Stadt. Eine mütterlich wirkende ältere Dame und ein leidlich schneidiger Jungspund, dem die pädagogische Ausbildung aus jeder Faser seiner Kleidung leuchtete. Ob sie denn schon über das Angebot der Volkshochschule informiert sei? Dort würden Mutter-Kind-Kurse zur Stärkung der Bindung zwischen Mutter und Kind angeboten. Die seien immer frühzeitig ausgebucht, da müsse man sich jetzt schon anmelden. Der Stadt sei es ein Anliegen, werdende Eltern bestmöglich zu unterstützen – vor allem Spätgebärende wie sie.
Mit diversen Produktproben von Tees und wohlriechenden, hautstraffenden Ölen stand sie schließlich ratlos in der Tür und schaute den beiden verwirrt nach.
Sie war Anfang 40 und ohne festen Partner. Das war gut so. Sie war frei und unabhängig. Sie hatte – aber nur ganz tief in ihr drin – hin und wieder Sehnsucht nach einem eigenen kleinen Wesen, das sie zum Ziel ihrer Liebe machen konnte, aber Herr Schröder, der kleine Golden Retriever füllte diese Leerstelle eigentlich auch recht trefflich aus. Die Werbung auf dem Bildschirm ihres Tablets zeigte in letzter Zeit vermehrt niedliche Babybilder und unaufhörlich Produkte für den guten Start ins Leben.
Aber das Thema war für sie abgehakt. Sie würde nicht alles aufgeben, um noch einmal ganz von vorne anzufangen. Dafür hatte sie sich beruflich zu viel aufgebaut.
Sie genoss es, sich jederzeit sportlich betätigen zu können oder ihren zahlreichen Hobbys nachzugehen. Bei den Männern kam das gut an – unabhängige Frauen galten in ihrem Bekanntenkreis als sexy. Hin und wieder war einer dabei, aber etwas wirklich Verbindliches konnte sie sich nicht mehr vorstellen.
Ihre Vergangenheit strich in diffusen Erinnerungsschleiern an ihr vorüber.
Er war bequem geworden. Er hatte sich irgendwann einfach nicht mehr angestrengt, ihr nicht mehr das Gefühl gegeben, begehrenswert zu sein. Irgendwann saßen sie als Paar in der Kumpelfalle. Sie lebten mehr als Freunde denn als Partner miteinander. Ja, sie teilten sich den Alltag, den Haushalt so gleichberechtigt wie es nur ging. Nach außen eine richtige Musterbeziehung. Für Sylvie waren sie noch heute ein gutes Team – auch nach dem Aus. Kein Rosenkrieg, klare Vereinbarungen. Pädagogisch zogen sie am gleichen Strang. Ihre gemeinsame Tochter Sylvie brauchte schließlich neben Zuwendung vor allem Konsequenz. Und sowohl Mutter als auch Vater zur eigenen Orientierung.
Sie wusste selbst nicht, warum sie die beiden vor der Tür nicht einfach herzlich ausgelacht hatte. Vor allem diesen Pädagogikschnösel. Sie war einfach viel zu überrumpelt von diesem rundum durchchoreografierten Erstgesprächsansatz.
Sie ging zurück in die Wohnung. Ihr Tablet auf der Kochinsel der großzügigen Küche war noch nicht in den Energiesparmodus gegangen. Wahrscheinlich war Sylvie zwischendurch wieder in irgendwelchen Onlineshops unterwegs gewesen. Wieder diese Werbung für Babyprodukte. Aufdringlich.
Aus Sylvies Bad kamen Geräusche. Sie klangen so, als wenn sich ihre 16jährige Tochter gerade übergeben würde. Als sie nach vorsichtigem Anklopfen die Tür öffnete, stürzte sich ein heulendes Elend in ihre Arme: „Mama, ich habe seit acht Wochen meine Tage nicht mehr bekommen …“
Mögliche Aufgaben:
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Fasse den Inhalt der Geschichte in eigenen Worten zusammen.
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Warum handelt es sich bei diesem Text um eine Kurzgeschichte?
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Verfasse einen inneren Monolog, in dem Sylvie ihre Lage darstellt.
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Recherchiere mit den Suchbegriffen „Target, Schwangerschaft, Big Data“ nach den Hintergründen der in der Geschichte dargestellten Handlung. Erstelle eine Präsentation, die erklärt, wie Dritte u.U. von Sylvies Lage wissen konnten.
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Nimm Stellung zu dem Artikel des Onlineangebots der Zeit ( http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2014–04/big-data-schwangerschaft-verheimlichen )
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Wie bewertest du die Möglichkeit, mit Hilfe von Big Data derartige Informationen über Menschen erhalten zu können?
Didaktische Erweiterung
Der Aufhänger der Berichterstattung ist wahrscheinlich frei erfunden (s.o). Es gab die Geschichte mit dem Vater der 16-jährigen Tochter u.U. nicht. Das Durchleuchten der schwangeren Frauen ist dagegen wohl Realität.
Dies kann den Schülerinnen und Schülern mit der Argumentation der Internetquelle von knuggets.com (s.o.) vermittelt werden.
Wenn dieses Wissen innerhalb der Lerngruppe entweder im Zuge der Recherche oder durch einen gezielten Input verankert ist, können darüberhinausgehende Fragen behandelt werden:
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Dürfen solche Aufhänger erfunden werden?
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Welches Licht wirft die Demontage eines derartigen Aufhängers auf die eigentliche Berichterstattung?
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Inwiefern unterscheiden sich bezogen auf diesen Fall sogenannte „Qualitätsmedien“ ( Die Zeit, öffentlich-rechtlicher Rundfunk) von anderen Quellen?
Fächerübergreifende Arbeit
Um die Hintergründe des Vorfalls zu recherchieren, kann nicht auf die Hinzunahme englischsprachiger Quellen verzichtet werden, deren Sprachniveau teilweise recht hoch ist. Anstatt die fertige Übersetzung zu präsentieren, kann diese selbst erarbeitet werden.
Durch das Thema stellen sich eine Reihe ethischer Fragen. Durch die Präsentation zielgerechter Werbung ergibt sich für das jeweilige Individuum natürlich auch ein Vorteil. Dass die Drogeriemarktketteihre Aktivitäten im Bereich der Auswertung von Kundendaten „tarnt“, schließt ein Bewusstsein um die Ablehnung durch die Kunden mit ein. Hier wären die Fächer Werte & Normen, Religion oder auch Philosophie thematisch eng angebunden.
Sehr gute Arbeit, ich finde das klasse. Vielleicht kann man hier noch eine grundsätzliche Diskussion anstreben, ob es in Deutschland überhaupt möglich wäre solche Daten über seine Kunden zu erheben und warum die Privatsphäre in den USA nicht so streng geschützt ist wie hier. Ich habe dazu vor Kurzem einen interessanten Film gezeigt, der beide politischen Systeme vergleicht. Danach habe ich die Schüler aufgeteilt in deutsche und amerikanischer Politiker und sie jeweils ihr System verteitigen lassen. Dabei kam einiges Spannendes raus.
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