Wer sind wir?
Philippe Wampfler hat auf Twitter gestern eine interessante Frage gestellt: „Sind wir, was wir im Gespräch bereden oder was wir ins Smartphone tippen, wenn unser Gegenüber zur Toilette geht?“
Wenn man das „oder“ in der Frage aussagenlogisch liest, muss man mit „ja“ antworten, so wie Monika es implizit gemeint hat mit „beides“. In der Sprache ist das Oder aber i.d.R. exklusiv, also ausschließend gemeint, was die Frage sehr untypisch-dualistisch für Philippe macht :o)…
Für mich ist eigentlich klar, dass wir beides nicht sind, aber immerhin eher das, was wir im Gespräch bereden.
Dazu ein Bild: Wenn ich mich einem Konzertgelände nähere, höre ich zunächst die tiefen Töne, erst das Schlagzeug, dann den Bass, Je näher ich an die Bühne herankomme, desto differenzierter wird der Klang, weil höhere Frequenzen hinzukommen, bis ich erst das Musikstück eindeutig bestimmen kann und danach die Nuancen in der Livepräsentation wahrnehme. Die Bandbreite der wahrnehmbaren Klänge wird größer, weil durch die hinzukommenden Frequenzanteile schlicht mehr Informationen übertragen werden.
Das ist bei sprachlichen Äußerungen auch so und am Begriff der Prosodie auch gut erforscht. Kommunikation, die medial vermittelt wird, hat also grundsätzlich immer weniger Bandbreite als direkte Sprache. Ironie ist auf Twitter z.B. ein ganz schwieriges Thema und muss z.B. markiert werden, wobei die Markierung nicht die komplette Palette menschlicher Äußerungsmöglichkeiten abdeckt. Daher vertrete ich die These, dass medial vermittelte Kommunikation grundsätzlich kastriert ist, sobald sie medialisiert wird. Im Moment des Tippens ist sie das noch nicht. Schon ein Video ist nicht das Gleiche wie z.B. ein Theater- oder Konzertbesuch – sonst gäbe es keine Theateraufführungen oder Konzerte.
Im Gespräch „sind“ wir in dieser Denkweise also auch nicht zwangsläufig, aber wir sind weit mehr als bei medial vermittelter Kommunikation.
Das halte ich für ein sehr grundsätzliches Problem von sozialen Medien. Viele Äußerungen und Entgleisungen werden erst dadurch möglich, dass es keinen synchronen Rückkanal gibt. Wenn ich z.B. jemanden schlage, gibt es vielfältige physische Reaktionen ohne Zeitverzögerung. Wenn ich einen Hasspost verfasse, sind die Reaktionen asynchron, die Äußerung steht auf lexikalischer-semantischer Ebene und kann kaum relativiert werden.
Spannend ist, dass man versucht mit VR oder Telepräsenzsystemen möglichst viele prosodische Elemente nachzubauen, um immer mehr Erfahrungen medial vermitteln zu können.
Ich finde es schon komisch, dass Menschen auf Laufbändern laufen, dafür Geld bezahlen, Zeit aufwenden, wo es doch Parks und Wälder gibt und die Laufschuhe direkt im Schrank stehen.
Vielleicht haben wir einfach Angst vor Komplexität oder sind zu bequem dafür geworden. (Ja).