Digitale Mappenführung – Sackgasse für die digitale Schulentwicklung?

Tablet­klas­sen wer­den an immer mehr Schu­len zur Regel. Ein sehr häu­fi­ger Anwen­dungs­fall ist die Ein­füh­rung digi­ta­ler Map­pen über Apps wie Nota­bi­li­ty, Good­no­tes, Onen­ote oder ver­gleich­ba­re Notiz­apps. Die Vor­tei­le lie­gen auf der Hand: Digi­ta­le Noti­zen las­sen sich leicht bear­bei­ten, immer wie­der neu sor­tie­ren und sind auch mit chao­ti­schem Abla­ge­sys­tem über Voll­text­su­chen leicht zu erschlie­ßen. Alle „Hef­te“ sind immer dabei, solan­ge das Gerät gela­den in der Schul­ta­sche mit­ge­führt wird. Digi­ta­le Noti­zen las­sen sich zudem leicht tei­len, sodass die Lehr­kraft Arbeits­er­geb­nis­se digi­tal ein­sam­meln oder Arbeits­blät­ter aus­tei­len kann. In unzäh­li­gen, mitt­ler­wei­le stark nach­ge­frag­ten Fort­bil­dungs­an­ge­bo­ten ste­hen daher Notiz­apps und deren Benut­zung im Fokus. Schu­len ent­wi­ckeln metho­di­sche Kon­zep­te zur Ein­füh­rung von Notiz­apps – von der „Notiz­app-Ral­lye“ bis zur struk­tu­rier­ten Füh­rung Kurs­no­tiz­bü­chern ist alles dabei. Digi­ta­le Map­pen schei­nen daher einen wich­ti­gen Bau­stein digi­ta­ler Schul­ent­wick­lung zu bil­den. Wie kön­nen sie bei die­sen Vor­tei­len zu einer Sack­gas­se bei der digi­ta­len Schul­ent­wick­lung werden?

Omni­prä­senz der Geräte

Durch das Füh­ren einer digi­ta­len Map­pe sind die Gerä­te im Unter­richt omni­prä­sent. Es gibt in nahe­zu jeder Pha­se des Unter­richts eine Recht­fer­ti­gung, das Gerät auf dem Tisch zu lie­gen zu haben. Da die Gerä­te neben den Mög­lich­kei­ten für den schu­li­schen Ein­satz das gesam­te Inter­net erschlie­ßen, bie­ten sie für vie­le Schü­le­rin­nen und Schü­ler ein enor­mes Ablen­kungs­po­ten­ti­al. Vie­le digi­ta­le Ange­bo­te nut­zen psy­cho­lo­gi­sche Mecha­nis­men, um Nut­zen­de mög­lichst lan­ge online zu hal­ten. Davon sind eben­so Lehr­kräf­te betrof­fen: Nicht weni­ge von uns regeln mitt­ler­wei­le pri­va­te Ange­le­gen­hei­ten wäh­rend des Unter­richts oder gar der Auto­fahrt. Die­je­ni­gen, auf die das zutrifft, sind ein Beleg für das enor­me Ablen­kungs­po­ten­ti­al, die die digi­ta­le Welt bie­tet. Selbst für Erwach­se­ne als Modell für die Schü­le­rin­nen und Schü­ler wird es oft schwer, die nöti­ge Impuls­kon­trol­le auf­zu­brin­gen, wenn es z.B. in der KiTA-Mes­sen­ger­grup­pe Akti­vi­tät gibt.

Die meis­ten Schu­len begeg­nen die­ser Her­aus­for­de­rung bezo­gen auf die Schü­le­rin­nen und Schü­ler durch tech­ni­sche Ein­schrän­kun­gen, sodass zur Schul­zeit etwa nur eine durch die Lehr­kraft getrof­fe­ne Aus­wahl an Apps nutz­bar ist. Die­ses löst die Her­aus­for­de­rung mit der Ablen­kung teil­wei­se, nicht jedoch das grund­sätz­li­che Pro­blem mit der Omni­prä­senz der Gerä­te. Der Blick und die Hand der Schü­le­rin­nen und Schü­ler wer­den nach wie vor gebunden.

Digi­ta­le Map­pe = Digi­ta­li­sie­rung abgeschlossen

Wei­ter­hin ist das Füh­ren einer digi­ta­len Map­pe ein typi­sches Bei­spiel dafür, wie sich bestehen­de Unter­richts­struk­tu­ren bewah­ren las­sen. Natür­lich bie­tet die digi­ta­le Map­pen­füh­rung eini­ge orga­ni­sa­to­ri­sche Vor­tei­le. Gleich­wohl trans­for­miert sie ledig­lich in der kleinst­mög­li­chen Aus­bau­stu­fe eine bestehen­de ana­lo­ge Struk­tur. Auf sie Spit­ze getrie­ben: Wegen der digi­ta­len Map­pen­füh­rung muss kei­ne Lehr­kraft die Art ihres Unter­richts ändern. Der Unter­richt ist ja jetzt in ihrer Wahr­neh­mung bereits „digi­ta­li­siert“ und muss sich nicht wei­ter ent­wi­ckeln. Das eigent­li­che Poten­ti­al digi­ta­ler Werk­zeu­ge bleibt vor die­sem Hin­ter­grund unge­nutzt. Map­pen las­sen sich mit geeig­ne­ten Werk­zeu­ge kol­la­bo­ra­tiv füh­ren, indem z.B. eine Grup­pe inner­halb eines Wikis eine gemein­sa­me Unter­richts­do­ku­men­ta­ti­on erstellt. Gerä­te las­sen sich dazu ein­set­zen, Unter­richts­sze­na­ri­en zu erschlie­ßen, die ana­log nicht oder nur mit hohem Zeit­auf­wand erreich­bar sind, wie z.B. in gemein­sa­mes Brain­stor­ming in einem kol­la­bo­ra­ti­vem Doku­ment. Unter­richt soll­te kei­ne Ent­we­der-Oder, son­dern eine Sowohl-Als-Auch sein, also u.a. Pha­sen ohne die Prä­senz eines digi­ta­len Gerä­tes ermög­li­chen. Das wird durch jede Form der Omni­prä­senz eines digi­ta­len Gerä­tes extrem erschwert – und letzt­lich ein Hemm­nis für die Unter­richts­ent­wick­lung an einer Schule.

Lock-In in pro­prie­tä­re Systeme

Sofern kom­mer­zi­el­le Sys­te­me mit eige­nen Datei­for­ma­ten genutzt wer­den, ergibt sich in Hin­blick auf die digi­ta­le Sou­ve­rä­ni­tät eine wei­te­re Her­aus­for­de­rung: Wäh­rend außer­halb von Bil­dungs­ein­rich­tun­gen die Markt­füh­rer im Bereich der Notiz­apps mitt­ler­wei­le fast aus­schließ­lich teu­re Abo-Bezahl­sys­te­me anbie­ten, erhal­ten Schu­len meist eine kos­ten­lo­se Voll­ver­si­on. Wenn man also nach Aus­tritt aus der Bil­dungs­ein­rich­tung wei­ter­hin sei­ne Noti­zen nut­zen möch­te, muss man dafür zah­len. Da die Datei­for­ma­te der Notiz­apps meist nicht stan­dar­di­siert sind, ist ein Wech­sel in ande­re Sys­te­me erschwert. Der meist ange­bo­te­ne PDF-Export ermög­licht zwar eine Siche­rung der Inhal­te, nicht aber deren wei­te­re Bear­bei­tung. Die Erstel­lung und Wie­der­her­stel­lung eines Back­ups ist meist nur über den vom jewei­li­gen Her­stel­ler vor­ge­se­he­nem Weg auf beque­me Art und Wei­se mög­lich. Man spricht lang­läu­fig von einem „Lock-In-Effekt“, dem Schu­len ihre Lehr­kräf­te sowie Schü­le­rin­nen und Schü­ler mehr oder min­der bewusst aus­set­zen. Sou­ve­rä­nes Han­deln auch in der digi­ta­len Welt ist ein nicht unwe­sent­li­ches Bil­dungs­ziel und in den meis­ten Bun­des­län­dern fest in den Digi­tal­cur­ri­cu­la ver­an­kert. Es gibt Alter­na­ti­ven zu den kom­mer­zi­el­len Ange­bo­ten mit offe­nen For­ma­ten, die jedoch wesent­lich mehr digi­ta­le Kom­pe­ten­zen bei Lehr­kräf­ten sowie Schü­le­rin­nen und Schü­lern erfor­dern. Der Griff zu den beque­men, schnell ver­füg­ba­ren Lösun­gen ist ange­sichts der Belas­tun­gen im Schul­sys­tem nach­voll­zieh­bar. Lei­der wer­den dadurch Chan­cen im kri­ti­schen Umgang mit digi­ta­len Werk­zeu­gen ver­tan – auch das soll­te im Fokus einer moder­nen Schul­ent­wick­lung ste­hen, vor allem weil sich die­se Hal­tung auf ande­re digi­ta­le Sphä­ren über­tra­gen lässt: Insta­gram, Tik­Tok oder Snap­chat sind oft pau­schal kri­ti­sier­te Sys­te­me. Auch zu die­sem gibt es freie Alter­na­ti­ven ohne algo­rith­mi­sche Ein­grif­fe. Natür­lich ist auch das anfangs gewöh­nungs­be­dürf­tig, weil Inhal­te aktiv „geholt“ wer­den müs­sen – es stärkt letzt­lich die digi­ta­le Souveränität.

Vor­läu­fi­ges Fazit

Die digi­ta­le Map­pe dient somit oft genug als eine digi­ta­les Fei­gen­blatt. Die blo­ße Über­tra­gung ana­lo­ger Arbeits­tech­ni­ken auf ein digi­ta­les Werk­zeug macht noch kei­nen digi­ta­len Unter­richt. Sie kann aber dazu füh­ren, dass bei der einen oder ande­ren Lehr­kraft eine „Haken-dran“-Mentalität ent­steht und ansons­ten Unter­richt wie immer gemacht wird, nun aller­dings mit einem onmin­prä­sen­ten digi­ta­len Gerät, was inner­halb der Schul­ge­mein­schaft für Kon­flik­te sorgt und in der Fol­ge Rufe nach „Sper­ren“ und „Bild­schirm­ein­sicht durch die Lehr­kraft“ hervorbringt.

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2 Kommentare

  • Vie­len Dank für den (wie­der mal) äußerst guten und inspi­rie­ren­den Text. Hat eini­ge mei­ner eige­nen dif­fu­sen Gedan­ken mit Gerüst ver­se­hen, wenn du die­se blu­mi­ge Spra­che verzeihst.

  • >Digi­ta­le Map­pe = Digi­ta­li­sie­rung abgeschlossen

    Ja, aber ich habe auch das Gefühl, dass das so gewünscht ist. Der baye­ri­sche Minis­ter­prä­si­dent hat ver­künd­te, dass alle Tablets haben sol­len, und dass ansons­ten – also was Prü­fun­gen und Lehr­plä­ne betrifft – letzt­lich alles so blei­ben soll wie bis­her. Damit ist der Spiel­raum für Digi­ta­li­sie­rung schon mal begrenzt, und mei­ne Ener­gie, inner­halb die­ses Spiel­raums zu schau­en, was ich da an schö­nen Sachen machen kann, ist nicht so groß, wie sie sein könn­te: wozu auch.

    Ansons­ten weit­ge­hend Zustim­mung. Ich sehe kaum Sin­nes­wan­del, was das Zusper­ren von Gerä­ten betrifft, oder Lock-In, bin aber auch gera­de etwas müde.

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