Was müssen wir zukünftig wissen und können?
Es geht hoch her in Bildungsdiskussionen. Ein Mathematikprofessor aus NRW äußert sich kritisch zum Stand der aktuellen Mathematikdidaktik. Bildungstwitter geht steil nach eher konservativen Äußerungen einer ehemaligen Lehrkraft zu neuen Prüfungsformaten. Im Kern geht es um die Frage, was ein Individuum in einer Welt der Digitalität individuell beherrschen muss und was über Kompetenzen in einer digitalisierten Welt durch digitale Technologie (die meist nur ein Portal in einen virtuellen gesellschaftlichen Raum bietet) mehr oder minder mittelbar erschlossen werden kann.
- „Man muss nicht mehr programmieren können. Das werden Maschinen bald besser und automatisiert machen.“
- „Man muss bestimmte kreative Produkte bzw. Vorstufen davon nicht selbst erstellen können. Nur die wenigsten Menschen können mit den Leistungen von KI-Systemen konkurrieren.“
- „Man muss Technolgie nicht verstehen. Die kompetente Benutzung ist ausreichend.“
Viele Annahmen über die Zukunft sind Annahmen. Wir wissen nichts darüber, was gesellschaftlich und politisch geschehen wird, ob sich z.B. Demokratien mit ihren recht langwierigen politischen Prozessen gegen autokratische Staatformen vor allem wirtschaftlich behaupten werden, die eben durch ihre autokratischen Strukturen Problemen wie denen in Kontext des Klimawandels viel effektiver entgegentreten können. Wir wissen selbst in Demokratien nicht, welche Effekte durch z.B. Lobbyismus langfristig die Gesellschaft bestimmen werden.
Das mit den „Kompetenzen von morgen“ ist ein wunder Punkt in plausibel klingenden Modellen wie VUCA, BANI, die sich an Beschreibungen versuchen, aus deren Buzzwords sich aber keinesfalls konkretere Handlungen ableiten lassen.
Damit reihen sich diese Modelle wie viele andere strukturell in den Reigen von z.B. Sprachmodellen ein, die Gegenwart reproduzieren, keinesfalls aber darüber hinausgehen (können).
Weil alles so unbestimmt ist, scheint der Griff nach der guten, alten Zeit schlüssig: Das hat funktioniert. Das ist die Grundlage unserer immer noch sehr starken deutschen Wirtschaft, Anstrengungsbereitschaft, Lernen, sich mehr oder minder liebevoll leiten lassen. Und beide Lager rhetorisieren unter dem Deckmantel der Sachlichkeit mehr oder minder polarisierend aufeinander ein.
Strukturell erinnert mich das an sehr alte Konzepte und Perspektiven auf die Welt: Die Materialisten mit ihrem eher kulturpessimistischen Ansatz und die Idealisten mit ihrem Glauben an die Entwicklungsfähigkeit des Menschen.
Autopoesis des Individuums ist eine (idealistische) Utopie
Eine bestimmte Art des Lernens findet bei mir über Sinnstiftung statt: Wenn ich ein Ziel habe – etwa für eine Gruppe Gitarre spielen zu können – dann werde ich natürlich das Gitarrespielen je nach Begabung viel schneller lernen als wenn ich von meinen Eltern dazu gezwungen werden, Gitarre zu spielen. Letzteres schließt aber nicht per se aus, dass ich es in meinem Leben irgendwann bereuen könnte, nicht doch das Gitarrenspielen erlernt zu haben, weil ich eben noch nicht weiß, wie mein Leben verlaufen wird. Andere – wie in dem Beispiel meine Eltern – haben aufgrund ihrer Lebenserfahrung eine Vorstellung, wie es verlaufen könnte – die habe ich selbst zu diesem Zeitpunkt vielleicht nicht.
Wohlwollend und bezogen auf Schule sind nun Curricula („Lehrpläne“) schlicht nach Vorstellungen von dem aufgebaut, was ein auch immer geartetes Kollektiv von Menschen denkt, was im Leben von jungen Menschen eine Rolle spielen könnte – aber eben nicht muss. Und der Streit darüber, was das genau ist, findet auf mehreren Ebenen statt.
- In welchem Maß sollte Sinnstiftung beim Lernprozess die alleinige Rolle spielen?
- In welchem Maß sind komplett individualisierte Lernprozesse mit welchem System wie abbildbar?
- In welchem Verhältnis stehen Metakonzepte wie z.B. die Kompetenzorientierung zu den für ihren Erwerb notwendigen Voraussetzungen wie Wissen oder Kenntnisse von Informationen?
Kompetenzler werden antworten, dass Kompetenzen sich ja immer an einem konkreten Sachgegenstand entwickeln – ich stelle vermehrt fest, dass ich von immer mehr Dummheit umgeben bin – politisch erleben wir das gerade ganz hübsch mit dem Aufstieg rechter Parteien – überall auf der Welt. Die lokale Wirtschaft klagt, dass Auszubildende immer weniger wissen und können, was für den jeweiligen Beruf relevant ist. In meinem Studium nehme ich gar nicht so wenig Menschen wahr, die Lernen als sehr konsumorientiert wahrnehmen – es muss ihnen „gemacht werden“. Das Netz quillt über von Inhalten, die aus einer humanistischen Perspektive zumindest bemerkenswert sind: Pornografie, Selbstdarstellung, Beautywahn, die x‑te durchaus gesundheitsgefährdende TikTok-Challenge, Kommunikation auf optimierbarem Niveau. Rein quantitativ scheinen mir die Schätze und Supportsysteme dagegen „leicht“ unterrepräsentiert zu sein.
Trotzdem werden viele Verfechter „neuer Lern- und Schulkonzepte“ nicht müde, die Vorteile und Möglichkeiten, die das Internet bietet, immer wieder ins Feld zu führen. Kritik daran wird gar nicht so selten als Kulturpessimimus abgetan.
Autopoesis im Sinne einer humanistischen Denkweise benötigt Voraussetzungen, die es im Rahmen von Bildungsprozessen oft erst zu entwickeln gilt. Die Voraussetzungen dafür sind in einer Gesellschaft, die materiell im Großen und Ganzen sehr gut versorgt ist, gar nicht immer „von sich aus“ gegeben. Ich halte dieses Konzept daher zunehmend für ein äußerst optimistisches.
Das Modalverb aus dem Titel dieses Artikels
Der Titel dieses Artikels enthält das Modalverb „müssen“. Dem Wesen nach ist das schon ziemlich autokratisch. Es könnte sein, dass etwas gemusst wird, was u.U. im ersten Moment gar keine Freude macht und dessen Sinn sich dem Individuum auch nicht sofort erschließt. Klar kann ich Konversation n einer Fremdsprache mittlerweile ohne Fremdsprachenkenntnisse betreiben. Und klar wird sich diese Technologie bald sehr weit entwickelt haben – viel weniger Mühe und wesentlich spaßbetonter als z.B. Vokabeln zu lernen. Das mit den Fremdsprachen ist nur ein Beispiel. Als angehender Informatiklehrer denke ich da an Konzepte wie das Binärsystem oder Sortieralgorithmen – braucht man nicht, nur wird man sein Leben lang von Technologie umgeben sein, die darauf aufbauende Konzepte nutzt. Das Nichtwissen kann gut gehen, muss es aber nicht.
Mein Plädoyer ist daher eines für mehr Sanftmut mit Menschen, die das „Müssen“ in den Mittelpunkt ihres Handelns als z.B. Lehrperson stellen. Auch sie könnten selbst in einer stark veränderten Welt in Teilen immer nicht richtig liegen.