Selbstverstärkungsmechanismen und der Wunsch nach Sicherheit
In Niedersachsen wurden vor den Osterferien Äußerungen des Kultusministers Tonne beklagt, nach denen Fernunterricht allein auf freiwilliger Basis stattfinden könnte. Die Lage hat sich mit der zerschlagenen Hoffnung, Unterricht könne wieder ganz normal beginnen, wieder ziemlich verändert. Die Lage wird sich weiter verändern, wenn sich die Coronafallzahlen durch die anstehenden Lockerungen nicht in die erhoffte Richtung entwickeln.
Das System Schule ist verunsichert und es gibt eine Menge Detailfragen. Die jeweiligen Gegebenheit vor Ort sind komplett unterschiedliche Handlungsweisen erforderlich. Vieles dreht sich dabei leider um Prüfungen und Benotungen – beides Aspekte, um die Schule jetzt weitgehend beraubt ist. Immerhin gibt es durch die Umstellung von G8 auf G9 in Niedersachsen zumindest nur an sehr wenigen Gymnasien überhaupt Abiturprüfungen.
Es stimmt mich nachdenklich, dass JETZT im Kontext von Ausstattung und Videokonferenzen das Thema „benachteiligte Schüler*innen“ derart prominent wird. Vorher war wenig davon zu hören, wenn der z.B. mit Nachhilfestunden gut versorgte Sohn aus bürgerlichem Hause die gleiche Klausur schrieb wie ein „benachteiligtes Mädchen“ aus der Zweizimmerwohnung mit Eltern aus bildungsfernem Milieu (man entschuldige die Stereotype an dieser Stelle).
Was es meiner Ansicht nach jetzt braucht, sind Entscheidungen vor Ort losgelöst von wie auch immer gearteten Vorgaben. Da spielt vieles hinein: Schulträger, Gesundheitsamt, Organisation des Schülertranports, Versorgung mit Desinfektionsmitteln, bauliche Gegebenheiten usw.. Minister Tonne spricht dabei immer gerne von „Fahren auf Sicht“. Das Kultusministerium kann gar keine Vorgaben machen, die für jede Schulform, jeden Schulbau, jedes Hygienekonzept, jede Risikogruppe gleichermaßen verbindlich und sinnvoll sein können. Es ist schlicht nicht möglich – auch wenn man durch Presse manchmal den Eindruck erhält, hier würde gezaudert und die Schulen alleingelassen. Was Herrn Tonne hoch anzurechnen ist, ist sein klares Bekenntnis dazu, sich im Fall der Fälle vor die Entscheider vor Ort zu stellen.
Nur wenige Fragen, so nachvollziehbar und wichtig sie individuell sein mögen, können m.E. einheitlich geregelt werden. Je mehr kleinteilige Fragen kommen, desto größer wird die Verzweiflung auf Seiten des Ministeriums und der Landesschulbehörde werden – es ist schlicht keine Zeit für umfangreiche Prüfungen und Festlegungen von Verfahren, weil die momentane Lage beispiellos ist.
Das Konzept abzuwarten, bis alle relevanten Informationen und Vorgaben vorliegen, um auf jeden Fall rechtssicher agieren zu können, muss folgerichtig dazu führen, dass in zentralen Fragen schlicht gar nicht oder viel zu spät gehandelt wird. Letzteres birgt die Gefahr von Fehlentscheidungen.
Wenn man hingegen jetzt einfach handelt, ist es momentan sehr wahrscheinlich, dass erdachte Pläne immer wieder obsolet werden und der eine oder andere in seinem berechtigten Wunsch nach Sicherheit enttäuscht wird und kritisch reagiert. Es ist definitiv nicht leicht für Schulleitungen. Es ist generell auch nicht leicht für Menschen, die ein großes Sicherheitsbedürfnis haben.
Auch ich in der Medienberatung habe zurzeit mit Entwicklungen zu tun, die ich nicht gutheiße und in denen ich keinen Sinn sehe – trotzdem muss ich damit umgehen und als Regionalkonferenzleiter – glücklicherweise im Leitungstandem – Kolleg*innen mitnehmen. Ich versuche mich dabei vor allem auf die Aspekte zu konzentrieren, die ihren Wert über die Zeiten der einschränkten Schulöffnungen (voraussichtlich) hinaus behalten.
Für mich als Elternteil – ein anderer Hut als der des Staatsdieners – gibt es für Schulen Aufgaben, die so oder so jetzt erledigt werden müssen und die organisiert sein wollen – losgelöst von Vorgaben.
Informationsbeschaffung
- Ich muss als Schule wissen, wer zu einer Risikogruppe gehört oder mit Angehörigen einer Risikogruppe in häuslicher Gemeinschaft lebt. Beurteilen kann das wahrscheinlich nur ärztliches Personal – es sollte also mit einer Bescheinigung nachgewiesen werden – ganz gleich ob Eltern, Schüler*innen, Angehörige in häuslicher Gemeinschaft oder Lehrkräfte. Bei der Fristsetzung wäre ich sehr pragmatisch und würde eher vertrauen, aber dennoch die Nachweise verbindlich einfordern.
- Ich muss wissen, wie es um die digitale Ausstattung von Schüler*innen im häuslichen Bereich bestellt ist (E‑Mail, Telefon, Rauchzeichen usw.).
- Ich muss mit dem Gesundheitsamt und dem Träger rückkoppeln, welche Prioritäten bei der Schülerbeförderung gelten: Möglichst viele Schüler*innen aus einer Kommune? Möglichst viel Abstand von Schüler*innen in den Bussen? Maskenpflicht?
Auf Basis dieser Informationen kann ein Überblick darüber gewonnen werden, mit welchen Ressourcen man in der Schule überhaupt rechnen kann und welche Schüler*innen auf digitalem Weg nicht erreicht werden oder gar nicht ohne Risiko für sie oder Angehörige zur Schule kommen können. Das ist für eine Schulleitung alleine nicht zu schaffen – man wird diese Aufgaben an Lehrkräfte delegieren und für eine strukturierte Zusammenführung der Ergebnisse sorgen müssen. Dabei kann natürlich herauskommen, dass das mit den vorhandenen Personalressourcen nicht zu schaffen ist. Das wird dann nicht nur einer Schule so gehen und man wird dann kultuspolitisch darauf reagieren müssen.
Sinnvolle Angebote für den Fernunterricht
Parallel zur Informationsbeschaffung sollte sich eine Schule meiner Meinung nach Gedanken zur Ausgestaltung von Fernunterricht machen. Dabei müssen aus meiner Elternsicht bestimmte Grundsätze gelten:
- Aufgaben müssen so gestellt sein, dass Schüler*innen sie eigenständig bearbeiten können
- Korrektur und Beratung sollte soweit möglich durch Lehrkräfte erfolgen
- Lehrkräfte müssen für Rückfragen zu festen Zeiten per Telefon oder Videokonferenz erreichbar sein, wenn Probleme mit den Aufgaben und Lernangeboten gibt.
- Innerhalb einer Klasse bedarf es der Abstimmung unter den Lehrkräften bezüglich des Umfanges und der Art der Aufgaben.
- Lieber wenige, durchdachte Aufgaben, als viele ein Bisschen angerissen und nicht abgestimmt.
- Nicht nur die vermeintlichen Hauptfächer in den Blick nehmen. Bewegung und Kreativität halte ich in der Isolation für sehr wichtige Elemente.
- Schüler*innen, die nicht digital erreicht werden können, müssen auf alternativem Wege erreicht werden können.
- Schüler*innen brauchen auch Beratung in sozialen Fragen. Die Schulsozialarbeit sollte aktiv Schüler*innen über Kontaktmöglichkeiten informieren und Angebote machen.
Dafür haben hier in der Gegend einige Schulen schon Konzepte gefunden. Da das ganze Prozedere sehr anspruchsvoll und vor allem ungewohnt für viele Lehrkräfte ist, kann das meiner Meinung nach nur im Team arbeitsteilig erfolgen – da führt dann u.U. kaum ein Weg an technischen Unterstützungssystemen vorbei (Telefon- oder Videokonferenz, ggf. Foren, Chats und E‑Mail). In Niedersachsen sind ja die „häuslichen Schulzeiten“ gegenüber der sonstigen Unterrichtsverpflichtung deutlich eingeschränkt – entsprechend des Alters der Schüler*innen. Das wird nicht leicht, da sich viele Kolleg*innen schon bei einfachen Bedienerfragen sehr schwer tun. Aber Telefon- und und Briefkontakt sind keine „minderwertigen“ Kommunikationsformen. Alles darf doch gerne nebeneinanderstehen.
Prüfungen organisieren
Die Klassenarbeiten würde ich innerlich abschreiben. Die Abschlussprüfungen stehen hier in Niedersachsen noch auf der Agenda. Dafür braucht es in Abstimmung mit den lokalen Gesundheitsämtern räumliche Lösungen. Auch hier stehen Turnhallen leer – wie in China. Aber vielleicht sind ja mehrere Klassenräume sogar viel besser zu lüften? Das wissen Spezialisten, die eingebunden werden sollten.
Ich glaube nicht, dass die Seele des deutschen Schulsystems ohne Prüfungen in der gewohnten Form auskommt. Ein System spürt intuitiv, wenn es eng wird. Ohne Prüfungen in gewohnter Form sind noch ganz andere Elemente des Schulsystems infrage gestellt. Das erklärt für mich das Festhalten an Verbindlichkeiten, Benotung und Prüfung. Wie sonst sollte man Schüler*innen schließlich zum Arbeiten bewegen? Wenn sich jetzt herausstellt, dass das Studieren auch ohne Abiturklausuren nicht besser oder schlechter klappt als mit? Was wäre denn dann?
Das hört sich bestimmt alles altklug an. Unter Garantie habe ich wichtige Aspekte vergessen. Heute kam übrigens der erste Brief mit Material von unserer Grundschule hier an. Mit Anleitungen in kindgerechter Sprache und einem Elternbrief in vorwiegend leichter Sprache. Aus diesem Umschlag kommen übrigens einige Ideen in diesem Artikel.
Update, 19.4.2020:
- Auch Schulen müssen sich unbequeme Fragen stellen lassen – findet Jan-Martin Klinge
- Herr Larbig kritisiert auf Twitter Kollegen, die sich dem digitalisierten Arbeiten verweigern
Hallo Maik,
danke für das Teilhabenlassen an deinen gar nicht altklug wirkenden Gedanken. Besonders deine acht Grundsätze möchte ich vom Fleck weg unterschreiben und am liebsten meiner SL schicken. Mir geht es wie dir, was die Bildungsgerechtigkeit angeht. Auch die Verkürzung der Sommerferien soll ja unter anderem dazu dienen, die Bildungsungerechtigkeit abzufedern. Nun ja…
Habe gerade den Eindruck, dass sich unser Schulträger nur sehr träge bewegt – und habe keine Idee, ob das an mangelnder Bereitschaft, systemisch eingearbeiteter Behäbigkeit oder schlichter Überforderung liegt. Nun ja, leicht werden die es auch nicht haben.
Bin sehr gespannt auf die nächsten Wochen, wo dann ja auch „Kleinigkeiten“ wie, wie sitze ich im Lehrerzimmer oder wie verhalte ich mich auf dem Flur (früher: Ort für schnelle Klärung) eine neue Dimension gewinnen werden. Da werden wir neue Bewegungs- und Verhaltensmuster einüben.
Wünsche dir einen schönen Sonntag und dass bei dir alles gut läuft!
Hallo Heiko,
Man ist mit derartigen „revolutionären Ideen“ – was die Aufgabenkonzeption angeht – ziemlich alleine, oder? Daher so vorsichtig formuliert. Es sind strukturelle Gründe, die eine Umsetzung verhindern oder erschweren werden:
„Die digital affinen Kolleg*innen setzen jetzt ja unerfüllbare Standards!“
„Diejenige, die das alles nicht können, stehen jetzt ja vor Eltern schlecht da. Das verunsichert Eltern!“
„Wie soll man denn jetzt ‚Teamarbeit‘ organisieren, wenn man sich nicht treffen darf?“
„Es ist Kolleg*innen nicht zumuten, Post zu verteilen oder anzurufen!“
„Die Korrekturen sind viel zu viel Arbeit – und wie ist das mit der Rückmeldung?“
„Wenn es nicht bewertet werden kann, hat man ja keine Handhabe!“
usw.
Mit den Sommerferien bin ich mir nicht ganz so sicher. Es wird z.B. dringend notwendig sein, „verlorene Arbeitszeit“ der Wirtschaft wieder „zuzuführen“. Menschen, die jetzt Probleme bei der Kinderbetreuung haben, wäre durch verkürzte Sommerferien schon nicht unerheblich geholfen. Auch bei Kitas wird man darüber nachdenken müssen. Ich bin viel mit Steuerberatern zusammen – da bekommt man eher den wirtschaftlichen Gesamtblick.
An mehr Bildungsgerechtigkeit in diesem Kontext glaube ich nicht, eher an „Bildungsgleichheit“ – das übliche Gewissensplacebo. Aber ich habe quasi ohne Ferienregelung auch gut reden – formal hätte ich Ferien, real rechne ich eher in Urlaubstagen, da ich momentan nicht unterrichte – also bin ich raus aus einer Bewertung.
Der Schulträger sitzt größtenteils im Homeoffice und fragt sich eher, woher er Masken, Klopapier, Desinfektionsmittel oder Seife bekommt. Und wie man es jetzt mit dem Bustransport wirklich halten soll … Die haben andere Sorgen.
Was das Korrigieren angeht, bin ich schon fast auf Seiten der Meckerer. ;-) Habe zuletzt in meinem Moodle so viel SuS-Ergebnisse Korrektur gelesen (was man sonst so im Vorbeigehen und beim Über-die-Schulter-gucken macht), dass ich froh war, dass nicht alle Klassen vollständig den Weg dahin gefunden hatten…
Den Rest sehe ich persönlich entspannt, kann mir aber gut vorstellen, dass Kolleginnen so denken. Wichtig finde ich darum, dass die Schulleitung klare Signale gibt, denn ich habe den Eindruck, das hilft tatsächlich am besten. Ich erlebe gerade durchaus eine erstaunliche Offenheit für digitale Teamarbeit – durchaus auch von Kolleginnen, die dazu eher eine skeptische Haltung hatten.
Sommerferien als Wirtschaftshilfe sind natürlich etwas anderes als Sommerferien zur Aufarbeitung von Unterrichtsinhalten. (Ich denke, es ist reiner politischer Populismus…). Ich könnte mir vorstellen, dass die Notbetreuung für Eltern auch in den Sommerferien fortgesetzt wird – und das wäre dann ja genau das, was du ansprichst.
Was den Bustransport angeht, bin ich wirklich gespannt. Meine Tochter ist ja im Abi-Jahrgang und ich frage mich wirklich, wie man das in einer 300.000 Menschen starken Großstadt organisieren will, dass morgens im ÖPNV (der sonst pickepackevoll ist) 1,5 Meter Abstand eingehalten werden, wenn zusätzlich noch Berufsverkehr zu erwarten ist.
Wir werden sehen, wie es wird.
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Hallo Maik,
dieser Text wurde von meinen Schülern entdeckt und sorgte für lebhafte Diskussionen:
https://www.freitag.de/autoren/adm/die-kleine-hexe