Blogparade „Zeitgemäßes Lernen“
Bob Blume ruft zu einer Blogparade unter dem Titel „zeitgemäßes Lernen“ auf. Für mich gibt es kein zeitgemäßes Lernen. Für mich gibt es kein digitales Lernen. Für mich gibt es kein was auch immer für ein Lernen. Es gibt für mich nur Lernen. Was bin ich für ein digitaler Ketzer! VUCA, 4k, (S)AMR – alles habe ich nicht begriffen. Wie komme ich dazu, diesen Verrat zu begehen?
Für mich heute fundamental wichtige Dinge in meinem Leben habe ich nicht durch institutionelle Systeme wie Schule oder Universität gelernt. Ich wäre jedoch auch nicht da, wo ich jetzt bin, ohne diese Institutionen. Und innerhalb dieser Institutionen blitzte hin und wieder streiflichtartig etwas auf, was mich tief geprägt hat. Aber das eigentliche Lernen hat dort für mich in der Summe nicht stattgefunden.
Wo habe ich gelernt? Ich war in den ausgehenden 80er und 90er Jahren Teil einer großen Jugendgruppe. Wir haben offene Angebote für andere Jugendliche gemacht – z.B. Discoveranstaltungen. Wir haben riesige Sommerfreizeiten mit über 300 Personen organisiert. Wir hatten einen Treffpunkt und ein Zuhause, den Ort, an dem Lernen stattfand. Denn man braucht einiges an Wissen und Fähigkeiten, um Kindern und Jugendlichen eine schöne Sommerfreizeit in Zelten zu ermöglichen. Kochen, Nähen, Einkaufen, Präsentieren, Planen uvm.. Wir waren ca. 80 Personen. Alkoholiker, schräge Vögel, Menschen aus gutem Hause, Menschen im Handwerk, Milchbubis wie ich damals – ein bunter Haufen, der unter der Flagge „evangelische Jugend“ segelte. Die evangelische Jugendarbeit ist für mich bis heute eine der am meisten unterschätzte Größe bei der Implementation zeitgemäßen Lernens.
Humanistische Pädagogik? Danach wurde vor 30 Jahren in Jugendleiterschulungen ausgebildet. Projektlernen? Na, wenn eine Pfingstfreizeit mit 80 Kindern in Zelten inklusive Logistik kein Projekt ist, dann weiß ich auch nicht. Und im Übrigen benötigt die selbstorganisierte Durchführung einiges an Netzwerkfähigkeiten. Es gab ein Fallback in Form einer Leitung. Diese hatte auch einen Dunstkreis um sich herum. Da irgendwann dazuzugehören – das war für uns das größte Ziel.
Ich musste kochen für Gruppen lernen und fragte einmal: „Wiebke, wie viel muss ich eigentlich davon nehmen?“ Und Wiebke sagte: „Keine Ahnung, ich habe das immer so im Gefühl und liege auch oft falsch. Mach mal! Ich bin ja da!“ Wir haben den Pudding später gemeinsam im Wald beerdigt – aber ich konnte danach Pudding kochen, habe mich an Neues herangetraut und verstanden, dass mein Vater – ein begnadeter universeller Handwerker – das offenbar auch so gelernt hat. Das Falschmachen war ein Schlüssel und Teil des Lernwegs. Das übertrage ich heute auf alle Kontexte – das zweite Badezimmer, was ich bauen werde, sieht bestimmt schon viel besser als das erste aus.
Die Geschichte ging später noch weiter: Es gab auch eine evangelische Schülerinnenarbeit während meines Studiums mit Klassen, die sich ihre Themen selbst wählten. Wir mussten verpflichtend in der Ausbildung zum Klassentagungsleiter und nach einigen durchgeführten Tagungen an Supervisonen teilnehmen. Dort habe ich mich selbst gesehen – z.B. im Psychodramen, in denen andere meine Rollen in schwierigen Situationen übernahmen. Was dort passierte, ist bis heute dort geblieben.
Die Haltungen und Erfahrungen waren grundlegend für mein erfolgreiches Lernen in Institutionen. Ich bin ein Arbeiterkind mit einem klassischen Bildungsaufsteigerberuf. Mit Schule allein hätte ich das nicht geschafft, obwohl es natürlich zu meiner Zeit die sogenannten 68er-Lehrer gab, die auch schon in der Schulzeit ein waches Auge auf mich hatten – wie auch an der Universität. Aber die verhielten sich allesamt nicht in der Institution, sie verhielten sich mit Selbstvertrauen in den Lücken der Institution und wussten deren Ängste zu nutzen, um Menschen wie mich ganz persönlich zu fördern.
Ich finde nicht, dass sich an meinem Lernen heute viel geändert hat. Die Netzwerke werden durch Technologie größer, einfacher zu managen, erhalten aber durch Technologie einen oft nicht unproblematischen, aber gleichermaßen faszinierenden Zwischenlayer. In der Zeltfreizeitküche zu Pfingsten gab es auch ein Netzwerk – sogar mit Verbindungen nach außen – 60kg Hack im Zelt lagern? Das holt man sich doch lieber frisch aus der Kühlung der befreundeten Internatsküche und dann sofort in die Pfanne damit. Und ob wir uns gestritten und angemault haben!
Meine Kinder haben uns als Eltern, Sportvereine, Freunde, Schule, Konfirmandenunterricht und ab 12 Jahren auch Handys (die sie kaum nutzen). Sie wachsen hier in einer Herde artgerecht auf. Ich finde es gut, wenn auch Fremde ihnen Grenzen zeigen, sie aber auch ermuntern und fordern. Im persönlichen, nicht digital vermittelten Kontakt. Da und so kann Lernen stattfinden. Nicht im Herumhelikoptern, Abschirmen und bedingungslosem Verständnis oder Erklärung für jedes Verhalten.
Für mich bilden wir uns in Schule viel zu viel auf unseren Einfluss auf Schülerinnen und Schüler ein. Beim Ausgleich von sozialen Unterschieden kann Schule helfen (tut es in Deutschland jedoch wohl optimierbar), aber nie Zivilgesellschaft ersetzen. Zivilgesellschaft kann gerne auch in Schule präsent sein. Dann wird da vielleicht sowas wie „zeitgemäßes Lernen“ draus.
Und noch eine wüste Theorie: Zivilgesellschaft wird durch digital vermittelte Kommunikation und digital vermittelte Vernetzung vielleicht nicht in allen Bereichen stärker oder freier oder offener. Das kann und muss noch geschehen und mühsam ausverhandelt werden.
Wie Lernen funktioniert, wissen wir eigentlich intuitiv durch Anschauung unserer selbst oder durch den Spiegel, denen uns Kinder vorhalten. Unsere Treue zum „Gewohnten“ steht da manchmal im Weg. Was sich aber ändert, sind Komplexitätsgrade und Inhalte, die das Gewohnte immer stärker infrage stellen.
Edit am 8.11.2019:
Typo verbessert, Link auf Buch „Artgerecht“ (Nicola Schmidt) gesetzt.
Ich stimme dir komplett zu und fühle mich jetzt ganz deppert mit meinem Artikel. Aber so läuft Lernen ja :-)
Danke. Der Text ist tatsächlich in der Bahn mit LTE entstanden …
Pingback: BLOGPARADE: Zeitgemäßes Lernen konkret #lernparade | Bob Blume
Lieber Maik,
besser kann man es gar nicht beschreiben. Vielen Dank für diesen Beitrag.
Danke, Maik. Ein wunderbarer Artikel. Lernen nur in Institutionen, was wäre das für ein Lernen!
Aber mache mir die Institution nicht schlecht! Ich weiß, dass es irgendwie zum guten Ton gehört, „das System“ schlechtzureden, den angeblich überkommenen Unterricht niederzumachen und alles Gute dem zuzuschreiben, das nicht in Institutionen (und ihren Regeln), sondern an ihnen vorbei organisiert wird.
Ich bin auch so ein Arbeiterkind mit klassischem Aufsteigerberuf, aber ohne evangelische Jugend – mit ein wenig Glück evangelikal sozialisiert – und ich bin sehr dankbar, dass ich in der Schule eine Gegenwelt hatte, in der ich Evolutionstheorie, (Homo)sexualität und erstes wissenschaftliches Denken kennenlernen durfte; mir der verpönte klassische Bildungskanon als eine Spielfeld unseres Bürgertums vermittelt wurde; man mir trotz allem Frontalgetue das Selbstbewusstsein vermittelte, keinen Malocherjob machen zu müssen und wo man es als Stärke begriff, wenn jemand Texte schrieb, man Theater spielen oder andere Dinge ausprobieren konnte, für die es zuhause keinen Raum gab. Ich will das nicht verherrlichen, Schule war und ist auch Mist. Aber notwendiger Mist. Denn es gibt Menschen, die haben nicht so ein tolles soziales Umfeld – und denen bietet die Institution Schule trotzdem eines.
Hey Hokey! In Institutionen arbeiten und engagieren sich Menschen. Dieser Kontakt ist für mich fundamental und lebensprägend gewesen – und er wäre ohne die Institution nie möglich geworden. Für mich gilt:
„Ich wäre jedoch auch nicht da, wo ich jetzt bin, ohne diese Institutionen.“
Wichtiger aber:
„Aber die verhielten sich allesamt nicht in der Institution, sie verhielten sich mit Selbstvertrauen in den Lücken der Institution und wussten deren Ängste zu nutzen, um Menschen wie mich ganz persönlich zu fördern.“
Mal ein anderes Bild: Ich habe damals in Gottesdiensten hin und wieder Gitarre gespielt. Das habe ich nicht für die Institution Kirche getan, sondern – jetzt mal sehr pathetisch – für das Lächeln der Omi in Reihe 5 – also für die Kirche. Klingt paradox.
Vielleicht etwas Versöhnliches: Der Begriff „Schule“ hat viele Facetten, u.a. eine institutionelle, aber auch eine durch und durch menschliche. Heute war in an einer Schule, die durch und durch menschlich durch und durch durch den institutionellen Rahmen fällt. Menschen: Da weiß ich etwa zehn konkrete Namen in meinem Fall. Es geht mir weniger darum „Schule“ als Ganzes runterzuschreiben – damit täte man ganz vielen Facetten von ihr sehr unrecht und man verletzte auch Gefühle von Menschen, die nicht mit Schülerinnen und Schülern arbeiten könnten ohne institutionellen Rahmen. Deswegen braucht es Schule – auch als Institution. Aber eben nicht nur. Es braucht für Bildung für mich noch einiges mehr.
Unterschreibe ich!
Danke Maik für deinen Artikel. Vieles sehe ich auch so und habe es auch schon versucht zu verschriftlichen. Vor allem dies: „ Für mich gibt es kein was auch immer für ein Lernen. Es gibt für mich nur Lernen.“ Wenn wir Unterricht nicht konsequent aus der Perspektive der Lernenden denken, dann ist Schule tot. „ Entschulung der Schule“ (1970)
Das ich lernen muss, daran hat sich nichts bei mir geändert. Allerdings die Art und Weise. Das sage ich mit 18 Jahren. Begonnen habe ich noch mit einem Lehrer der an Tafel und Kreide geschrieben hat. Teilweise kamen dann schon Overhead zum Einsatz. Abitur kann ich nächstes Jahr am PC machen. Und jetzt bereite ich mich auf den Führerausweis vor. Geschenkt bekommt man trotz Hilfe der Technik aber nichts
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