Warum das mit der Digitalisierung in Deutschland (auch) so schwer sein könnte …
Die Bedürfnispyramide nach Maslow ist in Bildungstwittererkreisen wohlbekannt. Sie bildet die Grundbedürfnisse des Menschen in hierarchischer Form ab:
Einfach ausgedrückt muss jede Hierarchiestufe von unten her erfüllt sein, damit höhere Bedürfnisstufen überhaupt entstehen können. Einige Beispiele:
- Wer nichts zu essen hat, dem ist Sicherheit zunächst einmal nicht so wichtig. Er möchte zunächst seinen Hunger stillen.
- Wer sozial nicht eingebunden ist (das kann auch indirekte Eingebundenheit sein, z.B. durch Anerkennung), dem fällt es nach dieses Theorie schwierig, sich seiner individuellen Wünsche bewusst zu werden.
Weniger bekannt ist, dass diese hierarchische Darstellung gar nicht auf Maslow selbst zurückgeht, sondern als Interpretation Werner Correl zugeschrieben wird. Darauf hat mit Christian Schlöndorf ( @schloendorf ) auf Twitter aufmerksam gemacht,
Die Pyramidendarstellung verleitet vor allem zu einer allzu statischen Sicht auf Maslows dynamisches Modell. Das hat denn auch zu vielen Missverständnissen und unbegründeter Kritik geführt. Eklatantes Beispiel solch einer Fehlinterpretation ist etwa die Annahme, die Bedürfniskategorien seien streng diskret angeordnet, und eine Bedürfniskategorie müsse erst zu 100 % befriedigt werden, bevor die nächste Kategorie von Bedürfnissen motivierend wirken könne. Häufig reicht jedoch schon ein Befriedigungsgrad von 70 % oder weniger aus, um das nächsthöhere Bedürfnis in den Vordergrund treten zu lassen. Der empfundene Sättigungsgrad variiert zudem stark mit den individuellen Erwartungen. https://de.wikipedia.org/wiki/Maslowsche_Bed%C3%BCrfnishierarchie
Die einfache Aussage: Mit der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit ändern sich Bedürfnisse. Während als Kind vielleicht noch eher „untere“ Stufen der Bedürfnispyramide im Vordergrund stehen, geht es mit fortschreitendem Alter eher um Individuelles und Selbstverwirklichung.
Man ist finanziell vielleicht weitgehend abgesichert, hat sich stabile soziale Beziehungen erarbeitet und kann ein eigenes Leben führen. In dieser Zeit kommt es aber auch vermehrt zu Umbrüchen im Leben: Männer und Frauen orientieren sich bezeichnenderweise dann gerne neu, wenn die Kinder „aus dem Gröbsten heraus sind“, das Sicherheitsbedürfnis in diesem Punkt also z.B. in den Hintergrund rückt. Oder man fängt an, sich teure Hobbys zuzulegen, macht wieder mehr Sport oder kauft sich ein neues Auto.
Maslow und Digitalisierung
Eine andere Möglichkeit, das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung zu befriedigen, ist gerade für viele von uns Männern aber auch die öffentliche Inszenierung der eigenen Person, meist bei Themen, die gerade angesagt sind, etwa das Thema Digitalisierung. Ein befreundeter Kollege sagt dazu immer wieder:
Ich bin Kolumbus, alles unentdecktes Land!
Mit scheinen da insbesondere wir Männer anfällig zu sein, da wir im Bereich Technik ja immer alles zu können scheinen. Die wenigsten von uns wollen darüber hinaus hinter den einmal erarbeiten Status zurück. Da kommen dann so Dinge heraus wie die tolle, kreisweite Drucklösung (die zu keinem der etablierten Systeme passt), die komplette Umstellung von Schulen auf Tablets/IWBs oder die völlig überkandidelte VDI-Lösung (am besten auf OpenSource-Basis), die nur mit hochspezialisiertem Personal überhaupt lauffähig zu halten ist.
Das muss übrigens alles nicht schlecht sein, oft genug nur bleibt es gerade im Bereich der Politik oder der Schulverwaltung bei einem tollen Impuls mit Implementationsstrategie. Und nach einigen Monaten kommen nach der Anfangseuphorie dann die wirklichen Herausforderungen, weil es dann doch an den immer gleichen Stellen hakt. Die „Implementatoren“ sind dann wahlweise über alle Berge oder haben sich anderen Themen zugewandt. Das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung wird dann an andere Stelle mit ähnlichen Strategien befriedigt.
Ich bin Kolumbus, alles unentdecktes Land.
Auch ich mache immer wieder diesen Fehler. Ich fange Dinge euphorisch an, begeistere Menschen und habe dann, wenn es wirkliche Probleme gibt, nicht mehr die Ressourcen, die es dann viel mehr als zu Anfang braucht. Oft genug kommen dann andere Selbstverwirklicher wie ich hinterher und das Spiel beginnt von vorne.
Deswegen imponieren mir immer Menschen, die im Bereich der Digitalisierung von Schule einfach ihr Ding an der Basis machen, sich dazu kaum inszenieren, ihre Ergebnisse „altmodisch“ über Blogs und Wikis teilen und sich die Selbstbestätigung dann schlicht aus dem näheren Umfeld saugen. Da stellt die Persönlichkeit soziale Bedürfnisse über das Individuelle oder die Selbstverwirklichung.
Danke für diesen Text. Ich sehe dieses Problem auch sehr häufig und erlebe es auch selbst. Im Bezug auf digitale Bildung kann man z.B. meines Erachtens 80 % von dem, was wichtig ist, mit Tools realisieren, die es schon seit Jahren gibt (ZUMpad, Google Docs, Blogs, Wikis, Twitter …). Dennoch propagieren viele „digitale Kolleg/innen“ ständig den neuesten „heißen Shice“ – ich frage mich da immer, wer das außer denen noch benutzt und ob sie es ein Jahr später immer noch nutzen.
Auch beim edchat stellt sich mit die Frage, was man mit wöchentlichen Impulsen anfängt – ich bräuchte nach einem edchat erstmal Zeit, den Impuls zu hinterfragen, anzuwenden, zu reflektieren und ihn dann ggf. in meinen Unterricht zu integrieren. Da sind dann locker drei Monate um und man hat schon wieder 11 weitere Impulse bekommen.
Ich habe ja auch schon länger mal darüber geschrieben, dass da Gebot der Stunde für die digitale Avantgarde eher das Zurückschauen und Mitnehmen sein sollte. Das ist aber halt für viele nicht attraktiv und außerdem kaum prestigeträchtig.
Gern gelesen. Ich lese ja überhaupt gerne Blogeinträge, da lerne ich oft etwas, wie hier auch.