Von der Augenhöhe in pädagogischen Situationen
Gestern ging es auf Twitter eigentlich um die Nutzung von WhatsApp im Unterricht. Glücklicherweise ging es sehr schnell weg von Datenschutzfragen hin zu pädagogischen Erwägungen. Die Grundfrage dabei war: „Soll man als Lehrperson Mitglied in einer WhatsApp-Klassengruppe präsent sein?“
Die zentrale Überlegung steckt für mich in Christians erstem Tweet, den ich so verstehe:
„Wenn ich mich auf SuS zubewege, mich auf ihre Kommunikationskanäle einlasse, nehme ich sie ernst und gewinne pädagogischen Handlungsspielraum, weil ich Informationen erhalte, die ich auf anderem Wege nicht erhalte.“
Ich glaube persönlich nicht, dass das so ist. Dazu zwei Anekdoten:
Ich hatte einen Kollegen in der Schulleitung, der sich selbst auf Fachkonferenzen immer nur als Kollege mit einer Stimme sah, es aber verstand, sich inhaltlich stets im Sinne einer Bewahrlogik durchzusetzen. Das hatte sehr viel damit zu tun, dass ihn vor allem junge Kollegen als Schulleitungsmitglied wahrgenommen haben. Er verbat sich stets diesen Kritikansatz. Er könne schließlich bestimmen, in welcher Rolle er jeweils auftrete. Meine Beobachtungen dazu wären grundfalsch.
Vor Jahren habe ich große Zeltfreizeiten (Nebenschauplatz: nach diversen Besuchen in der Gedenkstätte Auschwitz haben wir das Wort „Lager“ aus unseren Freizeiten konsequent getilgt) erst als Betreuer, dann im Leitungsteam eines Zeltdorfes und schließlich als Freizeitleitung begleitet. Bei meiner ersten Zeltdorfleitung wurde ich von meinen Telnehmenden nahezu gehasst – das nie zuvor passiert, alle hatten mich immer lieb. Ich war nämlich derjenige, der das mit den manchmal notwendigen Regeln und Vereinbarungen durchsetzte. Aus Studiengründen musste ich für drei Tage weg. Als ich wiederkam, wurde ich freudig begrüßt (wohl weil in der Zwischenzeit auch für die Teilnehmer erkennbar einiges aus dem Ruder gelaufen war).
Kern ist: Ich kann mir nie aussuchen, in welcher Rolle oder wie mich mein Gegenüber wahrnimmt. Ich kann durch Verhalten bestimme Voraussetzungen schaffen, die gegenseitiges Vertrauen fördern, trotzdem bleibe ich z.B. immer Erwachsener und Lehrkraft (oder in anderen Kontexten Sohn, Vater, Kollege, Medienberater, graue Eminenz etc.). Es gibt da keine Augenhöhe für mich. Es ist für mich auf Basis meiner Erfahrungen und meines Handelns, dessen Grundlage die humanistische Pädagogik war und hoffentlich bleibt, gerade bei SuS reines Wunschdenken. Daraus erwächst ja für mich erst die besondere Verantwortung, weil ich letztlich mit Macht umgehe. In der Schule gebe ich Zensuren und bewerte – vielleicht wird das mal anders – das ist zurzeit noch eine Machtposition.
Daraus ergibt sich zweierlei:
- Ich weiß nicht, wie meine Präsenz in WhatApp-Gruppen von den einzelnen SuS wahrgenommen wird. Auch in Schulklassen gibt es soziale Gefüge, die z.B. Zwänge aufbauen oder die Äußerung von Befindlichkeiten erschweren – auch in gut funktionierenden Klassen.
- Ich weiß nicht, ob die sich mir offenbarende Kommunikation letztlich authentisch ist, also so abläuft, als wäre ich nicht präsent.
Und ja: Wenn ich nicht in einer Klassen-WhatsApp-Gruppe bin, muss ich in bestimmten Situationen darauf vertrauen, dass mich pädagogisch relevante Informationen auf anderem Wege erreichen und ich muss dafür im Unterricht oder bei anderen Aktivitäten dafür die Voraussetzungen geschaffen haben.
Genau die Herstellung dieses Vertrauens ist eines meiner pädagogischen Ziele – z.B. dass man offen im Unterricht Kritik an mir übt (erfolgreicher kann man als Lehrkraft m.E. kaum werden). Das gelingt mal besser und mal schlechter, aber die Präsenz in einer Klassen-WhatsApp-Gruppe ändert daran für mich erstmal nichts.
Nun ist mein Kontext i.d.R. ein gymnasialer. Da ich auch andere Schulformen zumindest durch eigenen Unterricht und Hospitationen kenne, würde ich überall, wo es z.B. primär um Lebenshilfe geht, noch einmal anders argumentieren – tendiere aber auch hier dazu, Räume in der persönlichen Begegnung dafür zu öffnen,
Ich sehe es genauso wie Du. Ich hatte neulich den Fall, dass in einer 7. Klasse, in der ich Klassenlehrer bin, im Klassenchat Dinge gefallen sind, die mehrere Schüler als störend und verstörend empfunden haben. Das hat mich erreicht, weil einige Schüler es zunächst indirekt, durch die Blume, verstohlen angedeutet haben. Das Gespräch darüber hat dann Einiges geklärt. Ich habe aber bewusst nicht gefragt, was genau gesagt wurde und es hat auch keine/r von den Schüler/innen gesagt – allen war klar, dass ich in diesen Raum „nicht hinein gehöre“.
Ich könnte mir auch gut vorstellen, dass nach Beitritt des Lehrers in den Klassenchat bald darauf ein zweiter, lehrerfreier Klassenchat aufgemacht wird.
Generell ist es schwierig, nicht den Eindruck des Anbiederns zu erwecken, wenn man überall mit dabei sein möchte, wo sich Schüler/innen (digital) aufhalten.
Danke für deinen Kommentar Andreas! Man müsste jetzt wahrscheinlich noch das Thema „Schulorga in WhatsApp-Gruppen“ dezidierter behandeln – mein Schluss fiele aber ähnlich aus: Da wären so Kernthemen „Selbstorganisation“ und „Selbstständigkeit“ für mich im Fokus. Wenn ich mich immer darauf verlassen kann, dass eine Lehrperson mitliest, die ich niederschwellig erreichen kann, sehe ich da nämlich die Gefahr von Anpruchshaltung und Unselbstständigkeit bei unreflektierter Nutzung.
Die Beobachtung, dass man aus einer Rolle (fast) nie komplett herauskommt, sondern dass diese meistens subtil trotzdem wirkt, teile ich.
Eine ganz andere Frage, die sich bei Lektüre des schönen Eintrags gestellt hat, ist, wie sich heute angesichts veränderter technischer Möglichkeiten eigentlich die Kommunikation zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen verändert hat? Zu meiner Schulzeit gab es zwar schon E‑Mails, aber die wurden meiner Erinnerung nach (noch) nicht genutzt. Die Idee, mit meiner Lehrerin in einer WhatsApp-Gruppe zu sein, fühlt sich für mich rückblickend irgendwie absurd und „falsch“ an (mal ganz unabhängig von den pädagogischen Überlegungen für und wider dahinter). Wie läuft die Kommunikation heute eigentlich ab?
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