Herzlos
Ich habe neulich einen meiner Schüler zum Weinen gebracht. Er war in der vorangehenden Stunde leider krank gewesen und hatte einen Zettel daher nicht erhalten. Ich hatte keinen mehr dabei. Als er mich fragte, was er nun machen solle – er wäre schließlich krank gewesen – habe ich geantwortet, dass das nicht mein Problem sei, worauf er in Tränen ausbrach.
Zugegeben: Vielleicht war ich tonal nicht vollständig entspannt, weil es eine Stunde mit einem Schülerexperiment war, was bei rund 30 Chemieanfängern manchmal doch fordernd ist. Ende vom Lied: Ich habe ihn mir nach der Stunde gemeinsam mit zweien seiner Freunde beiseite genommen und wir haben gemeinsam überlegt, was er selbst im Wiederholungsfall tun könnte, um an den Zettel zu kommen. Herzlos.
Dann bin ich – für mich eher untypisch – in der gleichen Klasse regelrecht explodiert. Wenn die Kinder dort ein Bedürfnis haben – und sei es auch noch so banal – haben sie die Angewohnheit, einfach zum Pult zu kommen, nicht zu warten und sofort ihre Frage zu stellen – völlig egal, was ich gerade mache. Sie suchen nicht einmal den Blickkontakt, bevor sie anfangen zu reden – wohlgemerkt, es ist eine weiterführende Schulform: Es scheint für sie in diesem Moment nichts Wichtigeres zu geben, als diese eine Frage. Mehrfach habe ich in der besagten Stunde mit der Klasse darüber gesprochen, warum dieses Verhalten für mich problematisch ist. Dann kam der Ausbruch. Ein Ausbruch von mir hat immer ziemliche Folgen – weil er recht selten vorkommt. Herzlos.
In Klassenarbeiten nervt mich kolossal, dass es immer SuS gibt, die meinen zu jeder Zeit eine Frage zu den Aufgabenstellungen stellen zu müssen. Damit reißen sie regelmäßig die arbeitende Mehrheit völlig aus der Konzentration. Zudem wird die gleiche Frage oft mehrfach gestellt. Einzelfragen beantworte ich nicht im Zweiergespräch während der Klassenarbeit, weil ich das im Sinne der Chancengleichheit für die anderen unfair finde. Daher gibt es bei mir folgende Regelung: Zunächst gibt es eine Zeitspanne zum Einlesen und unmittelbar danach eine Fragemöglichkeit (ca. 10 Minuten später, je nach Aufgabenumfang). Spätere Fragen beantworte ich nicht mehr – auch wenn dann geweint wird. Herzlos.
Zudem schicke ich meine eigenen Kinder auch bei Regen mit dem Fahrrad zur Schule – oder sonntags in der Früh alleine zu Fuß zum Bäcker. Herzlos.
Ich traue meinen SuS etwas zu.
Ich traue ihnen zu, dass sie eigene Wege finden, um an Arbeitsmaterialien zu kommen, wenn sie krank waren.
Ich traue ihnen zu, dass sie sehen, wann man jemanden besser nicht anspricht und wartet.
Ich traue ihnen zu, dass sie Wege finden, ihre Bedürfnisse und Unsicherheiten Stück für Stück nicht affektgesteuert, sondern dem Kontext angemessen zu artikulieren.
Ich traue ihnen zu, dass sie trotz kleinerer Unannehmlichkeiten erleben, dass sie trotzdem etwas alleine schaffen.
Damit scheine ich weitaus herzloser zu sein als manche Eltern und Kollegen, die für das Kind erledigen, was es selbst erledigen könnte und später dann beklagen, dass die Kinder so unselbstständig und unkritisch sind.
Spannend, weil ehrlich geschrieben.
Stecke immer noch und immer wieder im Spannungsfeld zwischen „nachsichtiger Onkel“ und „strenger Vater“. Bin beides.
Ich finde es gar nicht herzlos :-D Dieses ständige „Ich renne zum Pult und teile mich auf der Stelle mit“ kann richtig nerven. Ich beantworte da nur noch im Notfall Fragen und alles Andere unterbinde ich mit einem „Hinsetzen, melden, warten.“ Klar und transparent. Sie müssen einfach lernen, auch selbstständig zu werden. Den älteren Schülern trage ich eh nichts hinterher. Das erfahren sie von mir gleich am ersten Tag.
Salü Maik,
Da ich in meinem Chemieunterricht davon ausgehe, dass die wenigsten Lernenden Chemie und Co. studieren werden, rücken alle möglichen allgemeinen Kompetenzen in mein pädagogisches Blickfeld – unter anderem die von dir genannten.
Es ist eminent wichtig, dass meine Schüler(1/5 der Schweizer Jugendlichen) das lernen, was ihre Kolleginnen und Kollegen in der Berufslehre auch lernen müssen: Sich organisieren, Verantwortung übernehmen, proaktiv sein.. In dem Sinne – hoffentlich übernehmen wir Mittelschullehrer die Aufgabe, auch manchmal unbequem zu sein!
LG Giovanna