Der Philosophieprofessor
Es war ein langer Tag an der Uni, zum Kochen hatte ich keine Lust, also ging ich in die nahegelegene Studentenkneipe, in der früher über der Bar noch eine Lehmann-Eisenbahn im Pendelbetrieb verkehrte. Es gab keinen Tisch mehr. Nur noch ein Platz war frei. Daran saß ein Philosophieprofessor, bei dem ich ein Proseminar für das für Lehrämter obligatorische Philosophicum besuchte. Ich weiß nicht, was mich geritten hat, aber ich fragte ausgerechnet ihn, ob der Platz noch frei wäre. Die Geschichte endete in einem sehr persönlichen Gespräch und mit einer beglichenen Rechnung für mich: „Sie sind Student, ich bin Professor, Ihren Stolz können Sie weder essen, noch am Wochenende in eine Bar tragen – ich erledige das für Sie“.
Das Gespräch wanderte von einem Thema zum anderen – ein Satz beschäftigt mich bis heute: Er sagte, dass es arrogant von den Philosophen wäre zu glauben, dass allein ihre Tätigkeit des Denkens sie in ihrer Existenz rechtfertigen würde. Philosophen müssten sich seiner Meinung nach überlegen, wie sie unserer Gesellschaft fern von Elfenbeintürmen dienen könnten, in Wirtschaftsbetrieben, in NGOs, wo auch immer. Diese Gedanke verwirrte mich ebenso wie ein neuer physikalischer Bewegungsbegriff – fern ab von Newton. Mit Diogenes existiert innerhalb der Philosophie in romantischer Verklärung das Bild des Denkens um des Denkens Willen und in meiner damaligen Unerfahrenheit war ebendieses Bild so fest verankert.
In keinem anderen Bereich wird heutzutage so viel gedacht wie im Bereich der Bildung, was das eigentlich bedeutet, wie man sie verbessern könnte, was das Web2.0 am Bildungsbegriff ändert usw. Ich erlebe sehr selten Denkende in diesem Bereich, die gleichzeitig dazu handeln – das überlassen mir zu viele von ihnen dann den Lehrkräften vor Ort. Ihr Denken ist in den eigenen Augen eine große Leistung, ihre Ziele sind ritterlich: Sie wollen die Bildung in unserem Land verbessern. Weil ihre Ziele so uneigennützig, edel, vollkommen, durch die Hirnforschung wissenschaftlich bestätigt und richtig sind, regt sich unter ihnen gelegentlich Kopfschütteln darüber, dass das Schulsystem, dass sich die Lehrenden einfach nicht bewegen, dass Lehrende selbst eindeutige curriculare Vorgaben aussitzen, sich den modernen Lehrmethoden verweigern. Dieses Kopfschütteln erlebe ich immer wieder auf Fortbildungen zu den neuen Curricula.
Lehrende stigmatisieren diese „Bildungsdenker“ ebenso oft als Menschen aus dem Elfenbeinturm, die von der Praxis keine Ahnung hätten, die nicht den Zwängen des Alltags ausgesetzt seien usw. Da knallt dann auch schon einmal eine Tür oder der Ton wird doch recht direkt. Zudem lassen sich Lehrkräfte, die dann die notwendigen Informationsveranstaltungen durchführen, bestimmt gar nicht so einfach finden. Wenn sich schon die Denker den Anfeindungen des Volkes nicht direkt aussetzen, warum sollten es dann Mittelsmänner und ‑frauen tun wollen?
Die Lehrenden vor Ort empfinden sich auch als ritterlich, edel und gutherzig: Sie stehen vor großen Klassen, viel zu kleinen Räumen, einer Schulorganisation im 45-Minutentakt, vor Doppeljahrgängen und bewältigen diese Aufgabe. Und da kommen jetzt die Denker mit ihren neuen Ideen. Ich erlebe es mehrmals im Jahr, wie durch die Denker hervorragende Konzepte und Ideen, die aus dem Alltag der Schule erwachsen sind, nicht mehr im gegebenen curricularen Rahmen durchführbar sind und im Kontext einer Reformenflut eingestampft werden müssen.
Und da haben wir in wieder: Den Kampf zwischen Theorie und Praxis, der Schule lähmt und ihre Entwicklung stagnieren lässt. Dabei schreibt und denkt Lisa Rosa:
„Zum Verhältnis von Theorie und Praxis hab ich schonmal etwas gesagt: Die eine kommt ohne die andere nicht aus.“
Das ist in meinen Augen *zur Zeit* eine Worthülse. Zur Zeit hat es für mich den Anschein, dass die eine Seite sehr wohl ohne die andere auskommt, denn was würde eine Synthese der beiden Felder denn anderes bedeuten, als den Praktikern Zugang zu den grünen Tischen zu verschaffen und den Denkern direkten Zugang zu den Schulen? Kümmert sich jemand um die nachhaltige Überwindung des über Jahre aufgerissenen Grabens? Wer baut die notwendigen Brücken?
Den Praktikern Zutritt zu verschaffen darf dabei nicht darauf hinauslaufen zu sagen: „Ja, dann komm‘ doch!“ Es muss eine Anerkennung für diese besondere Engagement erfolgen, die mindestens in der Gewährung von Freiraum bestehen muss, der eine nachhaltige Partizipation bei simultaner Erfüllung aller anderen Pflichten ermöglicht, gleichzeitig aber so minimal ausfällt, dass der neu Engagierte nicht nicht Bezug zum Alltag verliert – das wirft man in „meinen Kreisen“ Kolleginnen und Kollegen ja oft vor, die ins voll ins Ministerium oder an das Ausbildungsseminar wechseln.
Anerkennung ist dabei für mich das eigentliche Stichwort. Die Arbeit der Denker ist wichtig und generalisierende Kritik oft unfair. Bildungsdenken ohne konkreten Alltagsbezug ist es auch, weil die damit verlangten Änderungen oft rein praktisch nicht möglich sind.
Anerkennung in Worten hat für mich in diesem Kontext nur sehr marginalen Wert. Anerkennen kann *ich* nur das konkrete Handeln – ein für mich glaubhafter Bildungsdenker muss mir konkrete Produkte, Projekte zeigen können, die er selbst im Alltag erfolgreich gestaltet hat und einsetzt. Und wenn eine Schule etwas von sich aus tut, was diese Schule weiterbringt, dann muss diese Schule das dürfen dürfen – ich glaube, dass das genau der Punkt ist, wenn manche Schulen den Wunsch äußern, einfach einmal „in Ruhe gelassen zu werden“.
Von dem Philosophieprofessor fühlte ich mich an diesem Abend anerkannt trotz des materialistischen Ausbruchs. Und aus dem Besuch seines Seminars wusste ich auch, dass er konkret handelt. Er schien mir innerhalb seiner Fakultät ein Außenseiter zu sein.
Dein Post gefällt mir eigentlich sehr gut. Ich nehme immer diesen Standpunkt ein, wenn ich mit der Schulentwicklungs-Administration zu tun habe, die diese top-down-Reformen „runterbricht“. Da kriege ich als altgediente Lehrerin dieselbe Krätze wie Du. Andererseits sind diese Leute ganz und gar keine Theoretiker – das eben gerade nicht! Dein Artikel macht m.E. insofern einen falschen Gegner aus. Denn wenn sie gute Lerntheorie hätten und gute Philosophen wären, dann hätten sie eine andere Praxis. Stattdessen sind sie schlechte Manager und Verwalter. Das ist ihre Praxis. Es fehlt ihnen an beidem: an Theorie und an den Praxiserfahrungen vor Ort, deren Praxis sie fremdsteuernd verwalten.
Zum sog. Theorie-Praxis-Verhältnis-Fehlverständnis habe ich hier meine 2c geschrieben: http://shiftingschool.wordpress.com/2009/06/22/schnittstelle-zwischen-theorie-und-praxis/
Und wie ich von den Widersprüchen meiner eigenen 20jährigen Lehrerpraxis zum Erforschen der dazu gehörigen Theorie (Aufsteigen vom Konkreten zum Abstrakten und wieder zurück) gekommen bin, das kann man in meinem Editorial zu meiner Engeström-Übersetzung „Entwickelnde Arbeitsforschung“ gut nachlesen (S. 7):
http://www.lob.de/pdf/Bd25_ICHS_Trial.pdf