Frauen werden von ihren Ehemännern die halbe Nacht durch das Bett gerudert. Männer begeben sich in Frauenkleidern ins Freie, weil sie ihre Notdurft verrichten müssen, um dort von ihrem besten Bekannten in hockender Stellung und entblößtem Gesäß überrascht und in politische Diskurse verwickelt zu werden. Angesehene Bürgerinnen proklamieren ein politisches Manifest im Geiste der Ideen von Karl Marx und Friedrich Engels – in Bezug auf die Regeln, die den sexuellen Umgang von Bürgerinnen und Bürgern festschreiben vielleicht nicht vollständig im Sinne dieser Persönlichkeiten… Alle tun das in Cloppenburg. Mitten in Cloppenburg. Auf der Bühne des Clemens-August-Gymnasiums. Und wie rechtfertigen sie ihre Taten? Sie spielen dem amüsierten wenngleich gelegentlich etwas verwirrten Publikum unter der Regie von Christiane Johannes und Hubert Gelhaus das Stück „Die Frauen in der Volksversammlung“ von Aristophanes vor, einem weitgehend unbekannt gebliebenen Dichter der griechischen Antike.
Die attische Demokratie ist korrupt geworden. Nicht das Interesse an politischen Veränderungen motiviert die männlicher Volksvertreter zum Besuch der Volksversammlung, sondern die dort ausgezahlten stattlichen Sitzungsgelder. Populisten übernehmen oft genug das politische Ruder. Wichtige Reformen können so nicht mehr stattfinden. Zu seiner Zeit beklagt selbst Perikles in einer Grabrede (gelesen in Auszügen als Prolog von Alexander Rolfes) diesen Umstand. In dieser misslichen politischen Situation beschließen die Frauen Athens (Mandy Stieber, Nicola Hachmöller, Verena Becker, Luisa Teixeira, Janna Meyer, Fidan Mutlu, Eva-Maria Evers, Dina Dvorchina) unter der Führung von Praxagora (Anja Belke) das anzugehen, was ihre Männer nicht zu tun im Stande sind. Dazu entwenden sie ihren Ehegatten (u.a. Daniel Tiemerding als Bleypyros) die notwendigen Ausrüstungsgegenstände (Mantel, Stab) und proben in nächtlichen Sitzungen ihren persönlichen Auftritt in der realen Volksversammlung. Die List gelingt: Viele von ihnen können sich in die Volksversammlung einschleichen und dort die Stimmenmehrheit erreichen. Tatsächlich gelingen ihnen in der Folge vordergründig eine Reihe von Reformen: Hab und Gut der athener Bürger sollen verstaatlicht, die sexuelle Begattung auch älterer Frauen sichergestellt und öffentliche Speisungen eingerichtet werden. Natürlich scheitert dieses gelegentlich präkommunistisch anmutende System an der Habgier und den Intrigen der einflussreichen Größen Athens, die keinesfalls gewillt sind, ihre Güter (und Frauen) mit anderen zu teilen und den sich daraus ergebenden Machtverlust hinzunehmen. Zudem regt sich auch gerade unter den Jünglingen (Judith Twenhövel) der Unmut, vor der Geliebten erst in der Pflicht zu stehen, das Bett mit einer verwelkten Blume teilen zu müssen.
Natürlich lassen sich in diesem Stück eine Reihe von Parallelen zur heutigen politischen Situation im Bundestag finden. Ebenso natürlich würde man durch derartige Festlegungen dem Werk und der Leistung der Spielenden und ihrem „Stab“ (Souffleuse: Friederike Arnold, Musiker: Henrieke Wempe, Johannes Rolfes, Sebastian Kessin, Beleuchtung: Robert Koddebusch, Kostüme: Dorothee Vorwerk, Bühne/Maske/Programm: Wilfried Körtzinger) nicht gerecht. Denn wann sonst erlebt es ein Theaterbesucher, dass im überwiegend katholischen Cloppenburg ein Stück von derartig ironischer und pikanter Sprache zum besten gegeben wird und dadurch eine Sicht auf die attische Gesellschaft offenbart, die in inhaltschweren Interpretationen oft verborgen bleibt: Diese Gesellschaft lebte und pulsierte im Genuss von Wein, Weib und Gesang. Die ausgelassenen und ausschweifenden Feste im Angesicht des Gottes Dionysos hatten ebenso ihre festen Platz wie der rationale appollinische Dienst an Staat und Philosophie.
Es geht zwar die Kunde, dass sich in unserer Gegenwart alljährlich am 1. Mai auf der Wiese des REHA-Zentrums und in den angrenzenden Wäldern vergleichbare Dionysien abspielen sollen, jedoch halte ich das allenfalls für eine Ausnahmeerscheinung, wenn nicht sogar für reines Gerede – natürlich – denn wie sonst wäre zu erklären, dass mein letzter 13er Deutschkurs es nicht durch den Füller brachte, ein Dingsymbol in Theodor Fontanes Roman „Mathilde Möhring“ als das zu benennen, was es war: Ein Symbol für die erwachende Sexualität der Protagonistin. Selbst Friederike Arnold beschreibt im Programmheft zur Aufführung, dass die Theater-AG in einer dem Original näheren Übersetzung „teilweise erschreckt von der Direktheit der vulgären Gossensprache“ war und hat dadurch mein Weltbild von einer weitgehend unverdorbenen Cloppenburger Jugend dann noch noch eine Weile erhalten.
Von Erschrockenheit war jedoch am Abend der Premiere nicht mehr viel zu sehen – hatte sich die Theater-AG zu diesem Zeitpunkt von ihren Vorbehalten bereits freigespielt? Kam nur etwas zum Vorschein, was in jedem von ihnen bereits steckte? Wenn die gezeigte Textvorlage bereits eine gemäßigte war – hätte das Publikum im Saal womöglich angesichts des Originals mit hochrotem Kopf dagesessen?
Ich zumindest bin ein weiteres Mal bezüglich der Cloppenburger Gesellschaft konstruktiv verunsichert. So viel lustbejahende Lebensfreude ist einfach zu viel für mich. Und damit ist auch jeder Versuch einer rationalen Durchdringung dieses Abends unangebracht. Dieses Stück lehrt nicht durch klare Botschaften. Es transportiert ein Stück Lebensgefühl des alten Griechenlands in unsere Zeit und stellt gerade die uns Deutschen so typische skeptische Weltsicht angenehm unaufdringlich in Frage.