Wasmanie und Komplexitätsreduktion

Bei der Dis­kus­si­on um Ver­än­de­run­gen in der Schu­le wer­den m.E. zwei schwer­wie­gen­de Feh­ler gemacht:

  1. Es gibt vie­le Defi­ni­tio­nen (z.B. Wis­sens­be­griff, Lern­be­griff, Medi­en­be­griff) und For­mu­lie­run­gen „wie Schu­le sein soll“. Ich nen­ne die­se Kon­zep­te „Was­ma­tisch“ – die beschrei­ben, was gesche­hen soll. Es gibt so gut wie kei­ne Trans­for­ma­ti­ons­for­schung dazu, wie man dahin­kommt. Das über­lässt man dem Sys­tem selbst und wun­dert sich, ja ist manch­mal sogar nahe­zu kind­lich-ver­bockt, wenn da nichts passiert.
  2. Man greift sich Aspek­te aus dem Sys­tem her­aus: „Was macht den guten Leh­rer aus?“, „Wie muss ein Klas­sen­raum aus­ge­stat­tet sein?“, „Die zehn bes­ten Apps für den Unter­richt – übri­gens jede Woche gibt es zehn neue“ usw. – eine iso­lier­te Ver­än­de­rung einer Kom­po­nen­te wird im Sys­tem nichts ändern, weil sich sel­bi­ges ein­fach so umkon­fi­gu­riert, dass die Aus­wir­kun­gen der Stö­rung mini­miert wer­den. Man kann z.B. „Tablet­klas­sen“ nicht erfolg­reich iso­liert den­ken. Das ist Komplexitätsreduktion.

Ich docke mit die­sem Arti­kel an Herr Lar­bigs lesens­wer­te Gedan­ken zum Aus­blei­ben der Revo­lu­ti­on im Schul­sys­tem an. Span­nend ist für mich sei­ne Abkehr von z.B. dem Kon­zept „iPad-Klas­se“, weil mei­ne Ein­stel­lung zu sol­chen Set­tings über die Jah­ren ben­falls grund­le­gend anders gewor­den ist und sich mitt­ler­wei­le mit der von Thors­ten deckt.

Was heißt „das System definiert sich um“?

Mir fällt zur Erklä­rung kein bes­se­res Bei­spiel als das Che­mi­sche Gleich­ge­wicht ein – ein fun­da­men­ta­les natur­wis­sen­schaft­li­ches Konzept.

Aus­gangs­si­ta­ti­on:

Wir haben ein Bäl­le­bad, wel­ches in der Mit­te geteilt ist. Ein jedem Bäl­le­bad befin­det sich eine Anzahl von Wer­fern – ein Team. Die Auf­ga­be besteht dar­in, die Bäl­le aus der eige­nen Hälf­te mög­lichst voll­stän­dig in die geg­ne­ri­sche zu wer­fen. Das grü­ne Team ist das stärkere.

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Nach einer Weile:

syst_gleichgewicht_02

Das grü­ne Team ist zwar die stär­ke­re, jedoch hat es nach einer Wei­le im Schnitt weni­ger Bäl­le im Feld, die es län­ger suchen muss. Daher kann es die Bäl­le nicht so schnell zurück­wer­fen wie das blaue Team, das zwar schwä­cher ist, aber viel schnel­ler Bäl­le zum Wer­fen findet.

Es kann Situa­tio­nen geben, in denen die Bäl­le anders ver­teilt sind, aber über die Zeit wird sich ein Mit­tel­wert ein­pen­deln – in die­sem Fall von 15 Bäl­len im blau­en und 5 Bäl­len im grü­nen Feld. In der Che­mie wür­de man jetzt die Anzahl der Bäl­le im grü­nen Feld durch die Anzahl der Bäl­le im blau­en Feld tei­len und fest­stel­len, dass über die Zeit gese­hen eine Kon­stan­te dabei her­aus­kommt ( 5:15 = 1/3 ).

Noch ein Nach­trag, der mir im Kon­text von Dis­kus­sio­nen der letz­ten Tage zu die­sem Arti­kel wich­tig erscheint: Bezo­gen auf Schu­le han­delt es sich bei den Spie­lern im Feld NICHT um Men­schen, z.B. Digi-Leh­rer gegen Ana­log-Leh­rer oder ande­re Ste­reo­ty­pe. Viel­mehr sind abs­trak­te Kräf­te am Werk, z.B. „Reform­druck“ und „Bewah­rungs­stra­te­gien“. Die Kräf­te sind lei­der oft kon­trär. Das darf man ger­ne leug­nen, aber das ändert dar­an nichts. Ein wün­schens­wer­tes Mit­ein­an­der basiert dann auf Din­gen wie Ver­ständ­nis, Ernst­neh­men, Inter­es­se auf bei­den Sei­ten – d.h. es geht dar­um, abs­trak­te Kräf­te zu beein­flus­sen. Bezo­gen auf die Che­mie ist die­ses Bild völ­lig neu­tral. Teil­chen haben eine Natur, sie „wol­len“ nichts, son­dern stre­ben ledig­lich nach der Erfül­lung phy­si­ka­li­scher Geset­ze (z.B. einem ener­ge­tisch güns­ti­gen Zustand) – Was u.U. aber auch für Men­schen gilt – aber das ist eine ande­re Geschichte.

 

Das Wesent­li­che:

In unse­rem klei­nen Sys­tem pas­siert ganz viel – stän­dig flie­gen Bäl­le hin und her (manch­mal mag es sogar schei­nen, als gewän­ne Team grün), aber trotz­dem bleibt das Anzahl­ver­hält­nis der Bäl­le in den jewei­li­gen Fel­dern im Mit­tel kon­stant. Das Sys­tem befin­det sich in einer Art Gleich­ge­wicht. Wir Che­mi­ker nen­nen das ein dyna­mi­sches Gleichgewicht.

Die Stö­rung:

Nun kann es sein, dass ein Spie­ler des blau­en Teams eine Tak­tik ent­wi­ckelt, mit der es mög­lich ist, die Bäl­le schnel­ler ins ande­re Feld zu wer­fen. Die­se Tak­tik wird nun von allen Team­mit­glie­dern adap­tiert. Dadurch ändert sich die Bäl­le­ver­tei­lung. Aber die­se Tak­tik­än­de­rung hat auch Fol­gen für die Stra­te­gie des grü­nen Teams, das sich auf die nun ver­än­der­ten Bedin­gun­gen ein­stellt und ja immer noch gewin­nen will. Da die Bäl­le­ver­tei­lung in den Fel­dern für die Geschwin­dig­keit des Zurück­wer­fens immer noch eine Rol­le spielt, kehrt das Sys­tem irgend­wann in sei­ne Aus­gangs­la­ge zurück.

Auch ein ein­zel­ner Team­play­er, der sich ganz beson­ders anstrengt, ver­liert irgend­wann sei­ne Kraft und wird in sei­nen Leis­tun­gen dann von dem ande­ren Team mit dann mehr kon­di­tio­nel­len Reser­ven kompensiert.

Das Sys­tem kon­fi­gu­riert sich bei Stö­run­gen also immer so um, dass die Aus­wir­kun­gen der Stö­rung mini­miert werden.

Das Digitale als Störung

Das Digi­ta­le ist eine Stö­rung im (Schul-)System, mit der es (noch) nicht gut umge­hen kann. Mit dem Digi­ta­len ist – genau wie z.B. mit einem beson­ders enga­gier­ten Spie­ler – oft die Hoff­nung auf eine Sys­tem­än­de­rung ver­bun­den. Das Sys­tem sucht aber nach Kom­pen­sa­ti­ons­mög­lich­kei­ten – nicht aus Bos­haf­tig­keit, son­dern weil genau das sei­ne Natur ist. Typi­sche Kom­pen­sa­ti­ons­mög­lich­kei­ten sind:

  • Ver­bo­te
  • In mei­nen Augen viel schlim­mer: Über­tra­gung ana­lo­ger Arbeits­for­men in den digi­ta­len Raum

Es gibt m.E. kei­nen Mehr­wert, statt eines Schul­hef­tes ein Blog zu füh­ren, solan­ge man die ver­än­der­ten kol­la­bo­ra­ti­ven Mög­lich­kei­ten des Blogs (z.B. Peer-Review, asyn­chro­ne Feed­back­pro­zes­se etc.) nicht nutzt.

Komplexitätsreduktion

Das Sys­tem von oben ist unglaub­lich sim­pli­fi­ziert, da es nur eine Sor­te an Bäl­len gibt und das Spiel ziem­lich ein­fach struk­tu­riert ist. Es könn­te ja z.B. auch so sein, dass ein jedem Feld Beu­tel mit bestimm­ten Anzah­len ver­schie­den­far­bi­ger Bäl­le gepackt wer­den müs­sen, die man dann ins geg­ne­ri­sche Feld wirft, wo dann die Beu­tel wie­der­um umsor­tiert zurück­ge­wor­fen wer­den. Dann ist die Sys­tem­kon­stan­te nicht mehr durch ein ein­fa­che Zäh­lung bzw. Quo­ti­en­ten­bil­dung zu bestim­men, son­dern viel­leicht durch sowas hier:

    \[ K\textsubscript{(Ausstattung, gesellschaftliche Anerkennung)}=\frac{Ressourcen^4 \cdot Reformabwehr}{Innovationsf{\"a}higkeit \cdot Selbstschutz} \]

Wenn ich in die­sem nicht zuen­de gedach­ten Bei­spiel z.B. die Res­sour­cen erhöh­te, wächst eben der Selbst­schutz­fak­tor zur Kom­pen­sa­ti­on. K selbst bleibt kon­stant – die Aus­wir­kung der „Stö­rung“ ist minimiert.

Man tut aber oft so, als wür­de sich durch Kon­zep­te, die einen bestimm­ten Bereich beackern, irgend­et­was Sub­stan­ti­el­les ändern. Damit ver­kennt man in mei­nen Augen die Kom­ple­xi­tät und die Kom­pen­sa­ti­ons­kom­pe­tenz des Sys­tems vollkommen.

Wenn ich z.B. über eine Prä­sen­ta­ti­ons­lö­sung Arbeits­blät­ter vom Platz der Schü­ler aus­fül­len und prä­sen­tie­ren las­se, mache ich ja nichts Neu­es, son­dern ledig­lich etwas Ana­lo­ges 1:1 digi­tal. Die Denk­wei­se hin­ter dem Arbeits­blatt ändert sich dadurch ja nicht – es wird halt nur etwas beque­mer und ver­spiel­ter im Klas­sen­raum. Die Aus­stat­tung wird ver­bes­sert, aber ande­re Din­ge regu­lie­ren sich dann ein­fach anders ein.

Was tun?

Ein­stein soll angeb­lich gesagt haben:

Pro­ble­me kann man nie­mals mit der­sel­ben Denk­wei­se lösen, durch die sie ent­stan­den sind.

Wenn Schu­le sich ver­än­dern soll, rei­chen alte geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Stra­te­gien wie „Begriffs­bil­dung“, „Beschrei­bung“, „Ana­ly­se“ nicht aus, um den Ver­än­de­rungs­pro­zess nach­hal­tig zu imple­men­tie­ren. Es braucht neue Ansät­ze, auf übri­gens sehr vie­len gesell­schaft­li­chen Ebe­nen, z.B. For­schung dar­über, wie Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­se gelin­gen kön­nen, die man bis­her ger­ne dem Sys­tem selbst über­lässt und die­sem dann vor­wirft, es „begeg­ne“ den „neu­en Her­aus­for­de­run­gen“ nicht hin­läng­lich. Wann wird nicht umhin­kön­nen, die beque­me (und risi­ko­lo­se) „Was­ma­nie“ zu ver­las­sen und sich dem „Wie“ zuzu­wen­den. Ich kann mir natür­lich ger­ne ein neu­es Sys­tem wün­schen oder eben mit dem arbei­ten, was nun­mal da ist.

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