Selbständigkeit und Alleinelassen

Ihr sucht euch jetzt ein­mal ein The­ma, wel­ches euch inter­es­siert und macht dar­aus ein Pro­jekt!“ „Ich gebe euch für eure Pro­jekt­grup­pe einen Punk­te­pool und ihr ent­schei­det in der Grup­pe selbst, wie vie­le Punk­te jeder von euch erhält!“ „Du bekommst als Schu­le ein Bud­get, aus dem du zuerst Fahrt­kos­ten und Fort­bil­dungs­kos­ten finan­zie­ren musst. Den Rest darfst du für ande­re Din­ge ein­set­zen!“ „Jede Schu­le muss selbst eige­ne Ver­fah­rens­be­schrei­bun­gen und Nut­zer­ord­nun­gen zum Daten­schutz erar­bei­ten!“ „Dei­ne schu­li­sche Arbeit sam­melst du in einem Port­fo­lio und über­prüfst lau­fend selbst, wel­che Kom­pe­tenz­be­rei­che du bereits abge­deckt hast!“ „Du hast von mir ein Han­dy bekom­men. Jetzt gehe mal ver­ant­wor­tungs­voll damit um!“ „Regen ist kein Grund, dass ich dich zur Schu­le fah­re!“ „Erar­bei­te mal selbst, was für Gerä­te in dei­nem Schul­netz­werk benö­tigt werden!“

Die­se Lis­te lie­ße sich belie­big fort­set­zen. Ich glau­be, dass sie ein päd­ago­gi­sches Grund­pro­blem beschreibt. Bei mir ist das so stark im Fokus, weil ich damit her­um­ex­pe­ri­men­tie­re, mei­nen Unter­richt ein wenig mehr zu öff­nen und damit so mei­ne Erfah­run­gen gemacht habe. Befür­wor­ter des offe­nen Unter­richt gehen nach mei­ner Mei­nung von einem ganz bestimm­ten Men­schen­bild aus, was mehr oder weni­ger stark aus Arti­keln und SoMe-Posts her­aus­schim­mert. Kern­punk­te die­ses Men­schen­bil­des sind:

  • Men­schen wol­len lernen
  • Men­schen wol­len hin­sicht­lich der Aus­wahl des Lern­stof­fes nicht bevor­mun­det werden
  • Men­schen sind von Natur aus neugierig
  • Men­schen wis­sen selbst am bes­ten, was gut für sie ist
  • Men­schen blü­hen auf, wenn man ihnen Frei­räu­me gibt

Schu­le in Deutsch­land wird dage­gen oft als ein fast kom­ple­men­tä­rer Raum dazu auf­ge­fasst, denn

  • Schu­le macht aus dem Wol­len ein Müssen
  • Schu­le bevor­mun­det hin­sicht­lich der Stoffauswahl
  • Schu­le weckt und beför­dert nicht die Neugier
  • Schu­le maßt sich an zu wis­sen, was für einen guten Staats­bür­ger wich­tig ist
  • Schu­le schafft kei­ne Frei­räu­me, son­dern Zwang
  • Und – fast am wich­tigs­ten: Schu­le macht das posi­ti­ve Men­schen­bild von oben kaputt.

Bei­de Ste­reo­ty­pe erle­be ich nicht so, weder das posi­ti­ve Men­schen­bild, noch die Rigi­di­tät und Enge des Schul­sys­tems. Und das ist nicht böse – halt ein­mal mehr nicht Mainstream.

Ein Bei­spiel aus mei­nem Ardui­no­ex­pe­ri­ment die­ses Jahr in der letz­ten Pha­se („Pro­jekt­pha­se“). Es gibt Schü­le­rin­nen und Schü­ler, die nicht wis­sen, was sie inhalt­lich inter­es­siert und die man schon bei der Fin­dung die­ser Idee beglei­ten muss. Eini­ge sind sogar froh, wenn ich sage: „Mach’s mal so – so schaffst du das!“. Anders­her­um gibt es groß­ar­ti­ge Ideen, die sich aber mit dem Wis­sen und den Mög­lich­kei­ten des jewei­li­gen Schü­lers gar nicht umset­zen las­sen – wo er ohne Len­kung und Hil­fe in den Wald lie­fe und eben kein Erfolgs­er­leb­nis hät­te. Wo ver­läuft also die Gren­ze zwi­schen Allei­n­elas­sen und Selbst­stän­dig­keit? Wahr­schein­lich indi­vi­du­ell und mein Job als Lehr­per­son ist es, die­se Gren­ze zu zie­hen, weil ich ver­dammt noch­mal auf­grund mei­ner Erfah­rung manch­mal eben bes­ser weiß, was klap­pen könnte.

Ein wei­te­res Bei­spiel aus dem Bereich der Pro­jekt­ar­beit: Man gibt der Grup­pe aus fünf Mit­glie­dern 30 Punk­te, die sie dann selbst auf die Grup­pen­mit­glie­der ver­tei­len sol­len, weil die Grup­pe ja am bes­ten weiß, wer sich wie ein­ge­bracht hat. Das ist ver­lo­ckend, weil man so die unan­ge­neh­me Beno­tungs­an­ge­le­gen­heit in die Grup­pe ver­schiebt. Dadurch bleibt die Ange­le­gen­heit nur immer noch unan­ge­nehm (die Bewer­tung steht ja immer­hin im nicht refor­mier­ten Raum „Schu­le“) – nur ich als Lehr­per­son bin aus dem Schnei­der, weil ich den schwar­zen Peter ver­la­ge­re. Mich unbe­liebt zu machen, ist ggf. mein Job. Ich gebe die Note und orga­ni­sie­re die Grup­pen­ar­beit und mich  ggf. so, dass ich das kann. Alles ande­re wäre für mich kei­ne Selbst­stän­dig­keit, son­dern ein Allei­n­elas­sen. Tat­säch­lich ist das ziem­lich ein­fach, da ich nach mei­nen bis­he­ri­ge Erfah­run­gen in indi­vi­du­el­len Bera­tungs­si­tua­ti­on bei Pro­jek­ten sehr viel mehr mit­be­kom­me als im sons­ti­gen klas­si­schen Unterricht.

Als Dienst­herr könn­te ich auf die Idee kom­men zu sagen, dass ab jetzt Schu­len in bestimm­ten Berei­chen selbst­stän­dig sind. Hört sich zunächst pri­ma an. Dass damit so Din­ge ein­her­ge­hen, u.U. selbst Arbeits­ver­trä­ge mit Anbie­tern für den Ganz­tags­be­reich aus­ar­bei­ten zu müs­sen, Ver­fah­rens­be­schrei­bun­gen zum Daten­schutz zu erstel­len usw., ist eine ande­re Sei­te der Medail­le. Damit dürf­ten Schu­len schlicht über­for­dert sein, da ihnen dazu die Rechts­ab­tei­lung fehlt, die ein Dienst­herr zwangs­läu­fig hat. Ok – das Know-How kann sich jede Schu­le ja ein­kau­fen – nur ist das effek­tiv, wenn das jede Schu­le ein­zeln macht, und mit den zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mit­teln rea­li­sier­bar? Zum Glück käme der Dienst­herr ja gar nicht auf sol­che Ideen.

Mei­ne Hypo­the­se ist, dass so man­che selbst­stän­di­ge Arbeits­form Schü­le­rin­nen und Schü­ler schlicht über­for­dert – allein die Auf­ga­be her­aus­zu­fin­den, was mich – mich ganz allein und per­sön­lich – wirk­lich inter­es­siert, ist schon ein Anspruch. Ande­rer­seits emp­fin­de ich es so, dass wir an ande­re Stel­len Schü­le­rin­nen und Schü­lern Erfah­run­gen an Stel­len neh­men, die sie durch­aus machen dür­fen. Man stirbt z.B. nicht, wenn man in Regen­ja­cke zur Schu­le fährt und man stirbt auch nicht dar­an, ein Fahr­rad mit einem Plat­ten nach Hau­se zu schie­ben. Es ist zumut­bar, Essen vor­ge­setzt zu bekom­men, was nicht Mami gekocht hat.

Wo las­sen wir als Gesell­schaft jun­ge Men­schen allei­ne und wo trau­en wir ihnen Selbst­stän­dig­keit zu?

 

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6 Kommentare

  • Das Kreuz mit der Selbst­stän­dig­keit. Du bringst es auf den Punkt.

  • Ich erle­be eben­falls die Ste­reo­ty­pe nicht in Rein­form. In der Schu­le, wie ich sie erle­be, sind in unter­schied­li­chen Kon­tex­ten ver­schie­de­ne der genann­ten Eigen­schaf­ten vor­herr­schend. Wie fast über­all, ist die Wirk­lich­keit ein kom­ple­xes Mosa­ik aus Grau­stu­fen – weit und breit kein schwarz und weiß zu sehen. 

    In mei­ner Pro­jekt­ar­beit habe ich vor sie­ben Jah­ren mit Opti­mis­mus die Zügel los­ge­las­sen – und war ziem­lich bald genervt von den meist ober­fläch­li­chen, unstruk­tu­rier­ten und tw. bana­len Ergeb­nis­sen. Außer­dem war schnell klar, dass selbst Schü­ler, die ein gutes Pro­jekt-Pro­dukt erstellt hat­ten, oft trotz­dem recht wenig von der fach­li­chen Mate­rie drum­her­um *wirk­lich* ver­stan­den hat­ten. Inzwi­schen bin ich also wie­der etwas mehr in Rich­tung Len­kung gewan­dert – »etwas mehr« wohlgemerkt. 

    Ich hal­te nach wie vor Pro­jekt­ar­beit in bestimm­ten Kon­tex­ten für eine her­vor­ra­gen­de Metho­de, um Schü­lern Frei­räu­me zu bie­ten und sie ihnen auch zuzu­mu­ten. Aber wie Du sagst: das geht nicht mit allen in glei­chem Maß. Bei der Beno­tung gehe ich z.B. ähn­lich vor wie in Dei­nem »30 Punkte«-Beispiel. Aller­dings wird der Pro­zess der Dif­fe­ren­zie­rung inner­halb der Grup­pe sehr aus­führ­lich und schrift­lich reflek­tiert und doku­men­tiert (schon bevor es die Note gibt). Und: ist stel­le sehr deut­lich klar, dass *ich* die abschlie­ßend Bewer­tung vor­neh­me und mir die Schü­ler ledig­lich einen *Vor­schlag* unter­brei­ten. Ich habe das hier mal doku­men­tiert: Dif­fe­ren­zier­te Beno­tung von Grup­pen­er­geb­nis­sen im Pro­jekt­un­ter­richt.

    Damit funk­tio­niert das bei mir ganz gut, meist sind die Vor­schlä­ge sinn­voll, aber die Ver­su­chung, ein­fach allen die glei­che Note zu geben und sich die läs­ti­ge Dis­ku­tie­re­rei inner­halb der Grup­pe zu spa­ren, ist *jedes Mal* in der *jeder Grup­pe* spür­bar. Inso­fern muss ich jedes Mal aktiv dafür kämp­fen, mich ggf. unbe­liebt machen zu dürfen ;-). 

    Mei­ne Hypo­the­se ist, dass so man­che selbst­stän­di­ge Arbeits­form Schü­le­rin­nen und Schü­ler schlicht überfordert

    .

    Das kann ich unter­schrei­ben. Die gro­ße Kunst in unse­rem Beruf ist es zu erspü­ren, wo man die Zügel locker las­sen kann (und viel­leicht sogar soll­te), damit bestimm­te Erfah­run­gen (auch die des Schei­terns) gemacht wer­den können. 

    Dan­ke für Dei­nen Bei­trag – hat mich weitergebracht.

  • Men­schen sind ver­schie­den, so sehe ich das auch. Des­we­gen bin ich skep­tisch bei jedem pau­scha­len Men­schen­bild, und dop­pelt skep­tisch bei „von Natur aus“ – wir haben ja gera­de des­halb die Zivi­li­sa­ti­on, weil uns die bes­ser scheint als das „von Natur aus“.

    (Und was die eigen­ver­ant­wort­li­che Shcu­le angeht, da habe ich schon den schö­nen orwell­schen Slo­gan gehört: Mehr Frei­heit erfor­dert auch mehr Kontrolle.)

  • Tommdidomm

    Als wei­te­res Bei­spiel eines mei­ner Ste­cken­pfer­de: das krea­ti­ve Schrei­ben. Ich ken­ne auch den Fall, wo man den Schü­lern wei­ßes Papier aus­teilt und den Auf­trag gibt, jetzt „schreibt mal schön krea­tiv“. Was so natür­lich nicht funk­tio­niert. Ein Rah­men, sei es als Form, Inhalt oder Anlass muss her, damit Krea­ti­vi­tät sich ent­wi­ckeln kann.
    Ich mei­ne mich zu erin­nern, dass mal jemand sag­te, dass die Krea­ti­vi­tät dann am größ­ten sei, wenn auch die Ein­schrän­kung am größ­ten sei.
    Den­noch könn­te man ja auch mal den Blick mehr auf die Lern­pro­zes­se der Schü­ler rich­ten, die in der Schu­le schein­bar unmo­ti­viert und unkon­trol­liert ablaufen.

    (Aller­dings hät­te ich in mei­ner außer­un­ter­richt­li­chen Arbeit auch ger­ne mal weni­ger Kontrolle…denn, was bin ich? Ein lang­jäh­rig aus­ge­bil­de­ter, ver­ei­dig­ter Mit­ar­bei­ter, der hoch­be­zahlt im eige­nen Büro hockt und doch jede Cent-Brief­mar­ke recht­fer­ti­gen muss – von not­wen­di­gem Per­so­nal mal ganz zu schweigen)

  • Krea­ti­ves Schrei­ben ist ein her­vor­ra­gen­des Bei­spiel: Ich „ver­der­be“ dar­an allen Schü­le­rin­nen und Schü­ler jeden Spaß, indem ich so komi­sche Übun­gen mache, z.B. zum zeit­deh­nen­den und zeit­raf­fen­den Erzäh­len oder ver­schie­de­ne Ein­stie­ge in die Hand­lung bzw. auch Erzähl­tech­ni­ken anwen­de. Damit ler­nen sie zum einen die Fach­be­grif­fe, aber eben auch, dass bestimm­te Tech­ni­ken etwas bewir­ken bzw. das „Kin­der­gar­ten­schrei­ben“ über­win­den helfen.

  • Die Zügel locker las­sen kann gut sein, kann auch schlecht sein.

    Ich habe bei mir sel­ber und Kol­le­gen beson­ders dann schlech­te Erfah­rung gemacht, wenn beim SGL (Selbst­ge­steu­er­tes Ler­nen) die Lehr­kraft sich ande­rer Tätig­keit zuwen­den muss. Stun­den­land im Gebäu­de unter­wegs, Mini-Kon­fe­renz hier … eige­ne Unter­richts­vor­be­rei­tung dort. Oder schlicht Essen gehen.

    Die Qua­li­tät hängt daher sehr von der Inten­ti­on der Lehr­kraft ab: Ist es eine Not­lö­sung um schnell irgend­was aus dem Hut zu zau­bern (recher­chie­ren sie …) oder ist eine durch­dach­te Kon­zep­ti­on (die genau­so auf Recher­che basie­ren kann.

    Im Kern basiert mein Unter­richt auf SGL. Die Qua­li­tät der Inputs müs­sen nur stim­men. Ich habe gute Erfah­run­gen mit Scrip­ten für mei­ne Schü­ler gemacht, da es in mei­ne Fächern (Druck- und Medi­en­tech­nik) zwar gute Bücher gibt aber kei­ne die 1:1 den Lehr­plan wiedergeben.

    Die Scrip­te sind fle­xi­bel genug um sie auf jede Grup­pe ein­zeln anzu­pas­sen, zu indi­vi­dua­li­sie­ren. Geben mir aber auch genug Abstand um kri­tisch zu betrach­ten ob ich stim­mi­gen Mix aus SGL, Input usw. habe. Aus dem Bauch her­aus funk­tio­niert bei mei­nen Schü­lern, z.B. im Web­de­sign, SGL dann beson­ders gut wenn etwa 60% der Klas­sen schon recht kom­pe­tent sind. 

    Je frei­er die SGL Pha­se, des­to eher kann ich Bera­tungs­ge­sprä­che mit Schü­lern füh­ren. Mitt­ler­wei­le habe ich in den Klas­sen einen Rhyth­mus gefun­den, bei dem sich die Schü­ler sel­ber ein­sor­tie­ren wie oft sie ger­ne Feed­back bekom­men. Meist wün­schen sich die Schü­ler so etwa alle 3–4 Wochen Feed­back, uns sofort ist das gan­ze mach­bar für mich.

    Auch wich­tig bei den frei­en Unter­rich­ten: Was machen mei­ne Kollegen?
    Mon­tag früh Recher­che beim Kol­le­gen X … dann das glei­che bei Y … dann ne Prä­sen­ta­ti­on … dann Diens­tag in Z Ergeb­nis­se sel­ber ver­glei­chen und auswerten .…
    Zum einen soll­te der eige­ne Unter­richt abwechs­lungs­reich sein, zum Ande­ren der Quer­schnitt mit den Kol­le­gen genauso.

    Ich den­ke der selbst­stän­di­ge und kom­pe­ten­te Schü­ler ist ein tol­les Ide­al und auf dem Weg die­ser Ent­wick­lung ist es loh­nens­wert die tat­säch­li­che Moti­va­ti­on und Reak­ti­on der Schü­ler wahr­zu­neh­men. Wenn die im Kel­ler ist, dann stimmt was mit der Metho­dik (oder noch mehr) nicht. Es bringt nicht viel dann aus dem Elfen­bein­turm her­aus die Schü­ler abzu­kan­zeln, weil sie angeb­lich zu faul für die tol­le SGL Metho­dik sind. (eine Reak­ti­on, die ich häu­fig erle­be von Kollegen)

    Ich zitie­re zum Abschluss einen wüten­den Schü­ler bei einer Aus­zu­bil­den­denrver­samm­lung, bei der es auch um die Stand­ort­fra­ge ging für eine Lan­des­fach­klas­se. Die kri­ti­sier­te Schu­len muss­ten die Azu­bis mitt­ler­wei­le an uns abgeben.

    … Herr XXXx und was haben wir gemacht??? HERUMRECHERCHIERT HABEN WIR!!! und das 3 lan­ge Jah­re lang. Und haben noch nicht ein­mal unse­re Ergeb­nis­se zusammengetragen …“

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