Changing Paradigms

Von einer fun­da­men­ta­len Ver­än­de­rung durch das Inter­net ist die Rede. Von einer völ­lig neu­en Lern­kul­tur ist die Rede. Von einem völ­lig neu­en Rele­vanz­be­griff ist die Rede. Von einem unum­gäng­li­chen Sys­tem­wech­sel zur Siche­rung unse­rer gesell­schaft­li­chen Errun­gen­schaf­ten ist die Rede.

Das alles lässt sich nicht in kur­zen Wor­ten umschrei­ben, jedoch möch­te ich in fünf Stich­punk­ten, die für mich den höchs­ten Grad an Rele­vanz besit­zen das Neue umrei­ßen, was da auf uns zukom­men wird:

  1. Im Zen­trum des Lern­pro­zes­ses steht der indi­vi­du­el­le Mensch mit sei­nen Fähig­kei­ten, die ent­deckt wer­den wollen.
  2. Das zu Ler­nen­de, das Rele­van­te, bestimmt nicht mehr eine Insti­tu­ti­on, son­dern der jewei­li­ge Mensch.
  3. Ler­nen im Gleich­schritt – jeder lernt zur glei­chen Zeit, im glei­chen Alter, im glei­chen Raum – ent­spricht nicht dem Men­schen­bild der Wissensgesellschaft.
  4. Wis­sen liegt ver­netzt im Inter­net vor und ist dort los­ge­löst von Zeit und Raum zugäng­lich, es dringt viel­fäl­tig und teil­wei­se metho­disch und didak­tisch sehr gut auf­be­rei­tet in unse­ren Lebens­raum ein.
  5. Die neu­en Tech­no­lo­gien sind gesell­schaft­li­che Schlüs­sel­tech­no­lo­gien für den anste­hen­den Wandel.

Im Zuge die­ser Ver­än­de­run­gen ist es offen­bar kon­sens­fä­hig, dass Schu­le sich die­sen Anfor­de­run­gen nicht stellt. Beim Lesen im Netz habe ich wie­der­um fünf für mich eini­ge wich­ti­ge Kri­tik­punk­te gesammelt:

  1. Ein Jour­na­list schreibt z.B.  sinn­ge­mäß, dass Leh­rer Kin­der in Eltern in Gei­sel­haft neh­men, indem sie per­so­nel­le und finan­zi­el­le Ver­än­de­run­gen im Schul­sys­tem zur Bedin­gung für eige­nes, inno­va­ti­ves Ver­hal­ten machen.
  2. Das geglie­der­te Schul­sys­tem ent­spre­che nicht den Anfor­de­run­gen einer Wis­sens­ge­sell­schaft. Nie­mand kön­ne es sich in Zukunft im euro­päi­schen Kon­text leis­ten, auch auf nur eine Bega­bung zu ver­zich­ten, die es nur zu heben gel­te. Selek­ti­on sei dabei kon­tra­pro­duk­tiv, da es Leben kate­go­ri­sie­re anstatt das maxi­ma­le Poten­ti­al jedes Men­schen zu fördern.

Also brau­chen wir die eine Schu­le für alle („kein Kind bleibt zurück“) mit Lern­in­seln, mit indi­vi­du­el­ler För­de­rung, mit päd­ago­gi­schem Per­so­nal, mit tech­ni­scher Aus­stat­tung, mit medi­al kom­pe­ten­ten Leh­rern, mit außer­schu­li­schem Lernen…

Dazu eine klei­ne Anekdote:

Ich war frü­her oft mit Jugend­grup­pen mit dem Kanu unter­wegs. Meist hat­ten wir alles für eine Über­nach­tung dabei: Zel­te, Koch­ge­rä­te, Lebens­mit­tel usw. Inner­halb unse­rer Mit­ar­bei­ter­run­de war die huma­nis­ti­sche Päd­ago­gik (TZI, TA usw.) kon­sens­fä­hig und der Lei­tungs­stil ent­spre­chend. Eine Tour wer­de ich nie ver­ges­sen: Da nicht aus­rei­chend erfah­re­ne Steu­er­leu­te für die Kana­di­er zur Ver­fü­gung stan­den, haben wir ein Boot kaum bela­den und zwei kräf­ti­ge Teil­neh­mer dort hin­ein­ge­setzt. Ich hat­te den schwers­ten Pott mit zwei jun­gen Damen zu betreu­en und zudem ein Auge auf das Boot mit den bei­den Teil­neh­mern zu wer­fen – bei gutem Wet­ter kei­ne gro­ße Herausforderung.

Bild­quel­le: dani­el stri­cker / pixelio.de

Es zog jedoch ein mitt­le­rer Sturm auf und sich dadurch die Grup­pe mit den Boo­ten weit aus­ein­an­der. Ich war jedoch irgend­wann mit mei­ner klei­nen Flot­te aus zwei Boo­ten und vier Teil­neh­men­den allei­ne auf einem wel­len­rei­chen See weit ab von jeder Stra­ße bei hef­ti­gem Gegen­wind und außer Sicht- und Ruf­wei­te zu den ande­ren Boo­ten. Das Kanu mit den bei­den Jun­gen nahm durch einen Steu­er­feh­ler viel Was­ser und droh­te zu sin­ken. Die bei­den Jun­gen schrien, gerie­ten in Panik, woll­ten mit ihrem Schwimm­wes­ten aus dem Boot sprin­gen und an Land schwim­men. Uner­freu­lich opti­ons­arm die Geschichte.

Scheiß auf TZI und TA. Zum Teu­fel mit Ich-Bot­schaf­ten. Hier ging es um Leib und Leben. Ich habe sie nicht höf­lich auf­ge­for­dert, dies oder jenes zu tun. Ich habe das Pro­blem nicht dis­ku­tiert und gemein­sa­me Lösungs­stra­te­gien erson­nen. Ich habe abso­lut auto­ri­tär agiert und sie über ihre phy­si­schen Gren­zen hin­aus gebracht – es ging in die­sem Moment allein um Funk­ti­on, um nichts ande­res.  Aus päd­ago­gi­schen Gesichts­punk­ten ist die­ses Vor­ge­hen in einem ande­ren Kon­text verwerflich.

Wir sind um die nächs­te Bie­gung in den Wind­schat­ten gekom­men. Aus eige­ner Kraft. Und dort haben wir gere­det und gemein­sam bera­ten, ja und dann haben sie auch geweint – auf dem See konn­te ich selbst das nicht dul­den – da war pad­deln und schöp­fen ange­sagt (natür­lich auch mit dem Woll­pul­li, der eigent­lich wär­men soll­te, aber eben auch sehr saug­fä­hig war). Und natür­lich haben wir bei den Erzäh­lun­gen am Abend die Geschich­te mit den Trä­nen und mei­nen doch recht bestimm­ten Pha­sen in gegen­sei­ti­gem, nicht-ver­ba­li­sier­tem Ein­ver­neh­men weg­ge­las­sen. Wir waren nach außen Hel­den – so.

(Heu­te wür­de man natür­lich mit dem iPho­ne auf dem See um Hil­fe tou­ch­en, wäh­rend das Teil­neh­mer­boot wäh­rend der Kor­rek­tur der Fehl­ein­ga­ben durch den Regen und die Ner­vo­si­tät im See ver­sinkt und das eige­ne Boot immer wei­ter auf den See hin­aus- und vom Teil­neh­mer­boot abge­trie­ben wird – Touch­screens funk­tio­nie­ren her­vor­ra­gend unter wid­ri­gen Bedin­gun­gen, wes­we­gen jedes heu­ti­ge Out­door­han­dy auch ein Touch­pa­nel hat…)

Ich füh­le mich heu­te manch­mal wie damals. Ab und zu errei­che ich punk­tu­ell eine wind­stil­le Bucht, wenn ich selbst­stän­di­ge­re Lern­for­men ein­set­ze. Aber das gelingt mir nicht durch­gän­gig mit allen Teil­neh­mer­boo­ten – eini­ge sehe ich immer wie­der hin­ter mir auch den Wel­len des Sees ver­schwin­den. Wenn ich ein bes­se­res Pad­del for­de­re, bin ich für zumin­dest den einen Jour­na­lis­ten ein Erpres­ser. Wenn ich nicht jedes Teil­neh­mer­boot in die wind­stil­le Bucht brin­ge, bin ich ein Beam­ter, der sei­ne Pri­vi­le­gi­en nicht schätzt. Ich bin auch ein nicht leis­tungs­be­rei­ter Beam­ter, wenn ich nicht jedes Boot auf dem stür­mi­schen See mit den Kom­pe­ten­zen zur Selbst­ret­tung aus­stat­te. Und wenn ich fra­ge, wie ich mit den zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mit­teln allen Boo­ten gerecht wer­den kann, dann habe ich nicht ver­stan­den, dass ja gera­de das das Neue an der Situa­ti­on ist, dass ich und mei­ne Besat­zung ihre Lösun­gen nun eben selbst durch Expe­ri­men­te fin­den müssen.

Bild­quel­le: Oli­ver And­retz­ko / pixelio.de

Ich emp­fin­de Schu­le auch – natür­lich nicht nur – als ein Bild für die­se zwei Boo­te auf dem See. Als Per­so­nal­rat schaue ich manch­mal auch aus exter­ner War­te auf die Padd­ler. Schu­le funk­tio­niert  m.E. oft nur, auch ich funk­tio­nie­re oft irgend­wie – nur mit man­chen Lern­grup­pen kom­me ich punk­tu­ell in die Bucht.

Ich möch­te erst­mal ein Boot weni­ger zur Betreu­ung. Eines kann ich auf Kurs hal­ten und trotz­dem um Hil­fe tou­ch­en. Ob ich nun 33 oder 29 SuS habe, dürf­te kei­nen Unter­schied machen. Bei 18–22 sieht das schon ganz anders auch und dann darf man mir  auch ger­ne ganz genau auf die Fin­ger schau­en und beur­tei­len, ob ich selbst genug padd­le und mein Boot rich­tig bela­de. Das darf man jetzt auch ger­ne – man wird bloß Schwie­rig­kei­ten haben unter den gege­be­nen Bedin­gun­gen ech­te Sank­tio­nen auszusprechen.

Wir müs­sen bei Schul­struk­tur­re­for­men ganz genau auf­pas­sen, ob sie nicht in ers­ter Linie fis­ka­li­schen Über­le­gun­gen geschul­det sind und es gar nicht um bes­se­re Boo­te oder weni­ger Besat­zung geht. Wir dür­fen sie nicht vor­be­halt­los begrü­ßen, nur weil da viel­leicht „Gesamt-“, „Regio­nal-“ und „Gemein­schafts­schu­le“ drauf­steht – es ist auch wich­tig, was im Boot noch mit drin ist. Dazu müs­sen wir uns aktiv in poli­ti­sche Pro­zes­se ein­schal­ten – auch wenn wir die Art von poli­ti­scher Ent­schei­dungs­fin­dung ableh­nen, wie sie zur Zeit prak­ti­ziert wird.

Übri­gens:

Stür­me im Fern­se­hen zu sehen oder über sie zu reden, ist etwas ande­res als am Abend über sie zu spre­chen oder sie selbst zu erle­ben. Selbst wir muss­ten das damals gegen­über den ande­ren Mit­a­bei­tern und Teil­neh­men­den (und vor allem den Mädels unter ihnen) schon feststellen.

Facebook Like

3 Kommentare

  • Hal­lo Maik,

    eine schö­ne Geschich­te :) Es gibt kei­ne unum­stöß­li­che Hand­lungs­emp­feh­lung, son­dern man muss ich immer wie­der neu über­le­gen, was adäquat ist.

    Zu Dei­nem Satz: Wir dür­fen sie nicht vor­be­halt­los begrü­ßen, nur weil da viel­leicht “Gesamt‑”, “Regional‑” und “Gemeinschaftsschule” drauf­steht – es ist auch wich­tig, was im Boot noch mit drin ist.

    Meinst Du mit „im Boot noch mit drin ist“ die Per­so­nen, oder auch die Theo­rien? Ich habe näm­lich das Gefühl, dass gera­de in die­ser Hin­sicht an Schu­le eine gro­ße Lethar­gie herrscht. Wo fin­den kri­ti­sche, theo­rie­ge­lei­te­te Dis­kur­se in den Kol­le­gi­en über ihre Arbeit statt? Ich erle­be oft, dass vor allen Din­gen die eige­ne emo­tio­na­le Betrof­fen­heit das zen­tra­le Kri­te­ri­um für Ent­schei­dun­gen im Schul­all­tag ist.
    Und solan­ge alle mit gegen­sei­ti­gem Respekt und Ach­tung agie­ren, tut sich auch kei­ner weh. Das ist in der tat ein posi­ti­ver Effekt. Nur ist die Fra­ge, ob das sich dadurch erge­be­ne kri­tik­lo­se Ver­hal­ten gegen­über gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren aus­rei­chend ist.

    Über die Not­wen­dig­keit neu­er kom­mu­ni­ka­ti­ver Struk­tu­ren habe ich jetzt gar nicht gespro­chen, son­dern bezie­he mich ganz auf die päd­ago­gi­sche Grundhaltung.

    Ist das Boot Schu­le denn noch anfäng­lich mit Was­ser voll­ge­lau­fen? Woher weht der Wind? Lässt sich das loka­li­sie­ren? Und wer spielt in die­ser etwas ande­ren Geschich­te die Auto­ri­tät? Wo ist die Buch? 

    :)

  • Meinst Du mit „im Boot noch mit drin ist“ die Per­so­nen, oder auch die Theorien?“

    Das ist ja das Schö­ne an Meta­phern, dass jeder sie so lesen kann, wie er mag – daher ist die­ses sprach­li­che Bild der Meta­pher z.B. für Nietz­sche oder auch Hof­manns­thal die ein­zi­ge wah­re Art der Kom­mu­ni­ka­ti­on – aber mal im Ernst:

    Es fängt mit ganz vie­len Din­gen an, z.B. mit einer zeit­ge­mä­ßen IT-Aus­stat­tung. Es geht wei­ter über ent­spre­chend aus­ge­bil­de­te Coa­ches, die Schu­len unter­stüt­zen, exter­ne Ideen­ge­ber sein kön­nen, es reicht wei­ter zu Men­schen – sehr umfas­send also.

    Wir sind hier vor Ort übri­gens genau an der Theo­rie­dis­kus­si­on dran, müs­sen aber die Mau­er „Das hat ja doch kei­nen Sinn!“ über­win­den und dafür Stra­te­gien fin­den. Wir sind ein Grup­pe von Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen, die stän­dig wächst.

    Ich war in der Ereig­nis­er­zäh­lung die Auto­ri­tät, weil die­se Lei­tungs­form in der kon­kre­ten Situa­ti­on das Fall­back war: Es funk­tio­niert und muss auch nichts ande­res als funktionieren.

    Schu­le funk­tio­niert ja auch irgend­wie – wie und womit sind noch ein­mal ande­re Fragen.

  • Dan­ke für den schö­nen Arti­kel! Mehr tou­che ich jetzt nicht in mein Tele­fon, aber du sprichst mir gera­de aus der See­le, beson­ders, weil gera­de eini­ge Boo­te dahin drif­ten, wo ich sie ungern hin­drif­ten las­sen kann.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert