Changing Paradigms
Von einer fundamentalen Veränderung durch das Internet ist die Rede. Von einer völlig neuen Lernkultur ist die Rede. Von einem völlig neuen Relevanzbegriff ist die Rede. Von einem unumgänglichen Systemwechsel zur Sicherung unserer gesellschaftlichen Errungenschaften ist die Rede.
Das alles lässt sich nicht in kurzen Worten umschreiben, jedoch möchte ich in fünf Stichpunkten, die für mich den höchsten Grad an Relevanz besitzen das Neue umreißen, was da auf uns zukommen wird:
- Im Zentrum des Lernprozesses steht der individuelle Mensch mit seinen Fähigkeiten, die entdeckt werden wollen.
- Das zu Lernende, das Relevante, bestimmt nicht mehr eine Institution, sondern der jeweilige Mensch.
- Lernen im Gleichschritt – jeder lernt zur gleichen Zeit, im gleichen Alter, im gleichen Raum – entspricht nicht dem Menschenbild der Wissensgesellschaft.
- Wissen liegt vernetzt im Internet vor und ist dort losgelöst von Zeit und Raum zugänglich, es dringt vielfältig und teilweise methodisch und didaktisch sehr gut aufbereitet in unseren Lebensraum ein.
- Die neuen Technologien sind gesellschaftliche Schlüsseltechnologien für den anstehenden Wandel.
Im Zuge dieser Veränderungen ist es offenbar konsensfähig, dass Schule sich diesen Anforderungen nicht stellt. Beim Lesen im Netz habe ich wiederum fünf für mich einige wichtige Kritikpunkte gesammelt:
- Ein Journalist schreibt z.B. sinngemäß, dass Lehrer Kinder in Eltern in Geiselhaft nehmen, indem sie personelle und finanzielle Veränderungen im Schulsystem zur Bedingung für eigenes, innovatives Verhalten machen.
- Das gegliederte Schulsystem entspreche nicht den Anforderungen einer Wissensgesellschaft. Niemand könne es sich in Zukunft im europäischen Kontext leisten, auch auf nur eine Begabung zu verzichten, die es nur zu heben gelte. Selektion sei dabei kontraproduktiv, da es Leben kategorisiere anstatt das maximale Potential jedes Menschen zu fördern.
Also brauchen wir die eine Schule für alle („kein Kind bleibt zurück“) mit Lerninseln, mit individueller Förderung, mit pädagogischem Personal, mit technischer Ausstattung, mit medial kompetenten Lehrern, mit außerschulischem Lernen…
Dazu eine kleine Anekdote:
Ich war früher oft mit Jugendgruppen mit dem Kanu unterwegs. Meist hatten wir alles für eine Übernachtung dabei: Zelte, Kochgeräte, Lebensmittel usw. Innerhalb unserer Mitarbeiterrunde war die humanistische Pädagogik (TZI, TA usw.) konsensfähig und der Leitungsstil entsprechend. Eine Tour werde ich nie vergessen: Da nicht ausreichend erfahrene Steuerleute für die Kanadier zur Verfügung standen, haben wir ein Boot kaum beladen und zwei kräftige Teilnehmer dort hineingesetzt. Ich hatte den schwersten Pott mit zwei jungen Damen zu betreuen und zudem ein Auge auf das Boot mit den beiden Teilnehmern zu werfen – bei gutem Wetter keine große Herausforderung.
Es zog jedoch ein mittlerer Sturm auf und sich dadurch die Gruppe mit den Booten weit auseinander. Ich war jedoch irgendwann mit meiner kleinen Flotte aus zwei Booten und vier Teilnehmenden alleine auf einem wellenreichen See weit ab von jeder Straße bei heftigem Gegenwind und außer Sicht- und Rufweite zu den anderen Booten. Das Kanu mit den beiden Jungen nahm durch einen Steuerfehler viel Wasser und drohte zu sinken. Die beiden Jungen schrien, gerieten in Panik, wollten mit ihrem Schwimmwesten aus dem Boot springen und an Land schwimmen. Unerfreulich optionsarm die Geschichte.
Scheiß auf TZI und TA. Zum Teufel mit Ich-Botschaften. Hier ging es um Leib und Leben. Ich habe sie nicht höflich aufgefordert, dies oder jenes zu tun. Ich habe das Problem nicht diskutiert und gemeinsame Lösungsstrategien ersonnen. Ich habe absolut autoritär agiert und sie über ihre physischen Grenzen hinaus gebracht – es ging in diesem Moment allein um Funktion, um nichts anderes. Aus pädagogischen Gesichtspunkten ist dieses Vorgehen in einem anderen Kontext verwerflich.
Wir sind um die nächste Biegung in den Windschatten gekommen. Aus eigener Kraft. Und dort haben wir geredet und gemeinsam beraten, ja und dann haben sie auch geweint – auf dem See konnte ich selbst das nicht dulden – da war paddeln und schöpfen angesagt (natürlich auch mit dem Wollpulli, der eigentlich wärmen sollte, aber eben auch sehr saugfähig war). Und natürlich haben wir bei den Erzählungen am Abend die Geschichte mit den Tränen und meinen doch recht bestimmten Phasen in gegenseitigem, nicht-verbalisiertem Einvernehmen weggelassen. Wir waren nach außen Helden – so.
(Heute würde man natürlich mit dem iPhone auf dem See um Hilfe touchen, während das Teilnehmerboot während der Korrektur der Fehleingaben durch den Regen und die Nervosität im See versinkt und das eigene Boot immer weiter auf den See hinaus- und vom Teilnehmerboot abgetrieben wird – Touchscreens funktionieren hervorragend unter widrigen Bedingungen, weswegen jedes heutige Outdoorhandy auch ein Touchpanel hat…)
Ich fühle mich heute manchmal wie damals. Ab und zu erreiche ich punktuell eine windstille Bucht, wenn ich selbstständigere Lernformen einsetze. Aber das gelingt mir nicht durchgängig mit allen Teilnehmerbooten – einige sehe ich immer wieder hinter mir auch den Wellen des Sees verschwinden. Wenn ich ein besseres Paddel fordere, bin ich für zumindest den einen Journalisten ein Erpresser. Wenn ich nicht jedes Teilnehmerboot in die windstille Bucht bringe, bin ich ein Beamter, der seine Privilegien nicht schätzt. Ich bin auch ein nicht leistungsbereiter Beamter, wenn ich nicht jedes Boot auf dem stürmischen See mit den Kompetenzen zur Selbstrettung ausstatte. Und wenn ich frage, wie ich mit den zur Verfügung stehenden Mitteln allen Booten gerecht werden kann, dann habe ich nicht verstanden, dass ja gerade das das Neue an der Situation ist, dass ich und meine Besatzung ihre Lösungen nun eben selbst durch Experimente finden müssen.
Ich empfinde Schule auch – natürlich nicht nur – als ein Bild für diese zwei Boote auf dem See. Als Personalrat schaue ich manchmal auch aus externer Warte auf die Paddler. Schule funktioniert m.E. oft nur, auch ich funktioniere oft irgendwie – nur mit manchen Lerngruppen komme ich punktuell in die Bucht.
Ich möchte erstmal ein Boot weniger zur Betreuung. Eines kann ich auf Kurs halten und trotzdem um Hilfe touchen. Ob ich nun 33 oder 29 SuS habe, dürfte keinen Unterschied machen. Bei 18–22 sieht das schon ganz anders auch und dann darf man mir auch gerne ganz genau auf die Finger schauen und beurteilen, ob ich selbst genug paddle und mein Boot richtig belade. Das darf man jetzt auch gerne – man wird bloß Schwierigkeiten haben unter den gegebenen Bedingungen echte Sanktionen auszusprechen.
Wir müssen bei Schulstrukturreformen ganz genau aufpassen, ob sie nicht in erster Linie fiskalischen Überlegungen geschuldet sind und es gar nicht um bessere Boote oder weniger Besatzung geht. Wir dürfen sie nicht vorbehaltlos begrüßen, nur weil da vielleicht „Gesamt-“, „Regional-“ und „Gemeinschaftsschule“ draufsteht – es ist auch wichtig, was im Boot noch mit drin ist. Dazu müssen wir uns aktiv in politische Prozesse einschalten – auch wenn wir die Art von politischer Entscheidungsfindung ablehnen, wie sie zur Zeit praktiziert wird.
Übrigens:
Stürme im Fernsehen zu sehen oder über sie zu reden, ist etwas anderes als am Abend über sie zu sprechen oder sie selbst zu erleben. Selbst wir mussten das damals gegenüber den anderen Mitabeitern und Teilnehmenden (und vor allem den Mädels unter ihnen) schon feststellen.
Hallo Maik,
eine schöne Geschichte :) Es gibt keine unumstößliche Handlungsempfehlung, sondern man muss ich immer wieder neu überlegen, was adäquat ist.
Zu Deinem Satz: Wir dürfen sie nicht vorbehaltlos begrüßen, nur weil da vielleicht “Gesamt‑â€, “Regional‑†und “Gemeinschaftsschule†draufsteht – es ist auch wichtig, was im Boot noch mit drin ist.
Meinst Du mit „im Boot noch mit drin ist“ die Personen, oder auch die Theorien? Ich habe nämlich das Gefühl, dass gerade in dieser Hinsicht an Schule eine große Lethargie herrscht. Wo finden kritische, theoriegeleitete Diskurse in den Kollegien über ihre Arbeit statt? Ich erlebe oft, dass vor allen Dingen die eigene emotionale Betroffenheit das zentrale Kriterium für Entscheidungen im Schulalltag ist.
Und solange alle mit gegenseitigem Respekt und Achtung agieren, tut sich auch keiner weh. Das ist in der tat ein positiver Effekt. Nur ist die Frage, ob das sich dadurch ergebene kritiklose Verhalten gegenüber gesellschaftlichen Strukturen ausreichend ist.
Über die Notwendigkeit neuer kommunikativer Strukturen habe ich jetzt gar nicht gesprochen, sondern beziehe mich ganz auf die pädagogische Grundhaltung.
Ist das Boot Schule denn noch anfänglich mit Wasser vollgelaufen? Woher weht der Wind? Lässt sich das lokalisieren? Und wer spielt in dieser etwas anderen Geschichte die Autorität? Wo ist die Buch?
:)
„Meinst Du mit „im Boot noch mit drin ist“ die Personen, oder auch die Theorien?“
Das ist ja das Schöne an Metaphern, dass jeder sie so lesen kann, wie er mag – daher ist dieses sprachliche Bild der Metapher z.B. für Nietzsche oder auch Hofmannsthal die einzige wahre Art der Kommunikation – aber mal im Ernst:
Es fängt mit ganz vielen Dingen an, z.B. mit einer zeitgemäßen IT-Ausstattung. Es geht weiter über entsprechend ausgebildete Coaches, die Schulen unterstützen, externe Ideengeber sein können, es reicht weiter zu Menschen – sehr umfassend also.
Wir sind hier vor Ort übrigens genau an der Theoriediskussion dran, müssen aber die Mauer „Das hat ja doch keinen Sinn!“ überwinden und dafür Strategien finden. Wir sind ein Gruppe von Kolleginnen und Kollegen, die ständig wächst.
Ich war in der Ereigniserzählung die Autorität, weil diese Leitungsform in der konkreten Situation das Fallback war: Es funktioniert und muss auch nichts anderes als funktionieren.
Schule funktioniert ja auch irgendwie – wie und womit sind noch einmal andere Fragen.
Danke für den schönen Artikel! Mehr touche ich jetzt nicht in mein Telefon, aber du sprichst mir gerade aus der Seele, besonders, weil gerade einige Boote dahin driften, wo ich sie ungern hindriften lassen kann.