Soziogramme mit Google
Es gibt eine recht einfache Übung, in Unterstufenklassen Hierarchien zu ermitteln: Man bittet vor einer Klassenfahrt alle SuS einen Zettel abzugeben, auf dem drei mögliche Zimmergenossen für ein Vierbettzimmer stehen sollen. Danach werden die Namen nach Häufigkeit ausgezählt und schon ergibt sich ein recht genaues soziales Ranking: Wer steht ganz oben? Wer ist in der Klasse eher gering vernetzt?
Man kann das Ganze etwas abschwächen, indem Übungen á la „Gruppe malt Gruppe“ durchgeführt werden. So lässt z.B. in Kleingruppen gemeinsam ein Bild malen, etwa ein Aquarium, in dem jeder aus der Klasse als Fisch in einer bestimmten Position dargestellt ist. Danach wird in einer Reflexion jedes Bild vorgestellt und besprochen, wobei jeder einzelne „Fisch“ sich auch selbst äußern darf. Auf diese Weise entsteht ein differenzierteres Bild, weil sich gewisse Aussagen relativieren lassen.
Soziogramme haben für mich in der Schule absolut nichts verloren.
- Klassen sind Zwangsgemeinschaften, in den das Vertrauen und die sozialen Kompetenzen oft nicht so entwickelt sind, wie es nötig wäre. Soziogramme habe ich in sozial kompetenten Gruppen sowohl in der Teilnehmenden- als auch in der Leiterrolle als Bereicherung erlebt. In einer „Zwangsgruppe“ habe ich ernste Bedenken.
- Wir Lehrer verfügen in der Regel nicht über eine adäquate pädagogische Ausbildung, das aufzufangen, was daraus entstehen kann. Es ist z.B. nämlich hart zu sehen, dass das, was man als „Underdog“ schon intuitiv weiß, auch alle anderen so sehen
- In der Schule gibt nur in den seltensten Fällen einen geeigneten Rahmen, um derartige Übungen produktiv zu nutzen – es gehört für mich z.B. immer ein Leitungsteam bestehend aus beiden Geschlechtern sowie Zeit, Zeit und nochmals Zeit dazu. Die Reflexion ist dann abgeschlossen, wann sie abgeschlossen ist, nicht dann, wenn die Busse fahren.
Ich denke, es herrscht Einigkeit darüber, dass Soziogramme – wenn sie funktionieren sollen – von Fachpersonal durchgeführt und die Ergebnisse nicht in welcher Form auch immer veröffentlich werden.
Zimmergenossen braucht es im Web2.0 nicht – da könnte das z.B. bei Twitter so aussehen (Quelle: http://twitnest.appspot.com ):
Ich erhalte so einen schnellen Überblick darüber, wer mit wem vernetzt ist, wie stark derjenige vernetzt ist und wie stark seine Follower untereinander vernetzt sind. Als Mensch kann ich auf diese Weise schnell zu anderen, für mich interessanten Twitternutzern kommen und diesen dann auch folgen. Als Maschine kann ich auf einfache Weise diese „modernen Soziogramme“ noch viel komplexer abbilden und ggf. nutzen – bei Twitter ist noch nicht ganz klar, wie eine solche Nutzung aussehen könnte, da es noch kein brauchbares Geschäftsmodell zu geben scheint. Wirtschaftlich spannend könnte in meinen Augen die Bereitstellung der Vernetzungsdaten für einen Dienst sein, der personalisierte Werbung verkauft, also z.B. Facebook oder Google. Bei Twitter dürfte jedem klar sein, dass Tweets grundsätzlich öffentlich und mit einer E‑Mailadresse verknüpft sind. Was ich in Twitter einspeise, entscheide ich selbst und ich übernehme dafür auch die volle Verantwortung. Soweit – so gut.
Viele Menschen synchronisieren ihre Kontakte über zentrale Dienste, z.B. Google. Der Vorteil daran ist, dass ich über fast jedes beliebige internetfähige Endgerät an jedem beliebigen Ort auf diesen Datenbestand zugreifen und ihn sogar pflegen kann – sehr komfortabel. Einige Adressen in meinen Kontakten gehören zu Menschen, die dem Netz reserviert gegenüberstehen und sehr auf den Schutz ebendieser Daten bedacht sind. Wenn ich diese Daten mit zentralen Diensten synchronisiere, ermögliche ich auch für diese Menschen „moderne Soziogramme“, da eine solche Adresse bestimmt nicht nur in einem Adressbuch vorhanden ist und sich darüber intern Verknüpfungen herstellen lassen – genau wie über Twitternamen. Dadurch liefere ich diesen Diensten indirekt auch über diese Personen Daten, obwohl sie genau das ggf. gar nicht wollen. Ein beliebtes Beispiel ist die Mailaccountscanfunktion von Facebook. Das finde ich schwierig, weil es ja eben nicht nur um allgemein verfügbare Kontaktdaten geht, sondern um soziale Beziehungen (die jeweilige Tiefe sei einmal dahingestellt), die nicht in z.B. einem öffentlich zugänglichen Telefonbuch stehen. Nun gut. Als Erwachsener muss man wohl damit leben, auch wenn das jeweilige Motiv des Datenübermittlers erstmal ein egoistisches ist: „Ich möchte von überall her auf meine Kontaktdaten zugreifen können. Ich will, dass das funktioniert. Wie ist mir erstmal egal. Ich nutze die fantastischen neuen Möglichkeiten.“
Ich persönlich rechne damit, dass genau dies mit meiner E‑Mailadresse gemacht wird und bin deswegen niemandem böse, auch wenn die Entscheidung, wie und wo das veröffentlicht wird, nicht bei mir liegt. Das entscheiden andere für mich. Helfen kann dagegen nur, dass ich versuche, diese Datenspur, die ich auch dadurch zwangsläufig und unkontrolliert hinterlasse, selbst zu besitzen, indem ich sehr bewusst Informationen über mich in das Netz z.B. über mein Blog hier einspeise. Wer nicht einmal weiß, dass er auch jetzt schon ohne direkt im Web2.0 aktiv zu sein, durch die Weitergabe seiner Daten durch Dritte eine solche Spur hinterlässt, hat keine Chance, in dieser Weise zu agieren und wird später von seinen eigenen Fußspuren überrascht werden – für ein sehr schönes Beispiel halte ich hier Spickmich.de: Ich kann viel cooler mit meiner Bewertung dort umgehen, weil ich dem Glauben unterliege, dass dieses Blog und meine anderen Netzaktivitäten ebendiese in einer Art und Weise kontextualisieren, die diese reine Schwarz-/Weißwahrnehmung meiner Person zumindest erschweren. Das Googeln des eigenen Namens reicht als Kontrolle nach meiner Meinung schon lange nicht mehr aus. Prosumation (Rezipieren & Einspeisen) ist geboten, um den Tanker ein wenigsten ein bisschen steuern zu können. Verkürzt zu sagen: „Och, da lässt sich eh nichts kontrollieren, das ist eben Post-Privacy“, halte ich für zu einfach und wenig selbstreflexiv.
Wenn sich in meinem mit Google synchronisierten Adressbuch z.B. Kontaktdaten von SuS oder Eltern oder KuK befinden, halte ich die Synchronisation mit öffentlichen Diensten moralisch für ausgesprochen schwierig. Noch spannender wird es, wenn man eigentlich als geschlossene Umgebungen gemeinte Systeme via SSO o.ä. an Google-Apps anbindet. Jede E‑Mailadresse ist ein weiterer Baustein für das „moderne Soziogramm“ – und speziell SuS können sich zunächst nicht ihre Datenspur zu eigen machen. Daran ändert für mich nichts, dass sie schon längst solche Spuren im Netz freiwillig hinterlassen. Ich fürchte mich eher davor, dass wir Lehrer dabei dann auch die Verknüpfung von Schule und Privatleben der SuS ermöglichen, indem wir z.B. Moodle an Google-Apps verifiziert(!) anbinden – immerhin wird da ein asymmetrisches Schlüsselpaar ausgetauscht. Ich habe nichts gegen Google-Apps. Ich nutze es auch gerne. Ich bekomme bloß Kopfschmerzen bei der Vorstellung, dass ich durch diese Anbindung „mal eben“ hunderte von E‑Mailadressen einspeise, die nun für eine algorithmische Verknüpfung für das „moderne Soziogramm“ zur Verfügung stehen. Und wenn anerkannte Medienpädagogen damit weniger Kopfschmerzen haben, ändert das für mich nichts an meiner Grundhaltung, dass ich Entscheidungen für meine Person treffen kann, so viel ich will, aber nicht für Menschen, die mir in ihrem Lernprozess anvertraut sind.
Die Veröffentlichung der Raumbelegungsliste einer Klasse empfinden wir zu Recht als empörend und Eingriff in die Privatsphäre der Gruppe (oder nicht?). Das Einspeisen von in dieser Weise verknüpfbaren Daten in soziale Netzwerke oder zentrale PIM-Dienste stellt offenbar dagegen kein größeres Problem dar. Wir werten die „Zimmerliste“ ja nicht aus – das mache intelligente Algorithmen, die mich selbst wieder und wieder faszinieren. Die Feedvorschläge im Googlereader für mich sind schon top und werden immer besser und besser. Das ist hübsch und gleichzeitig auch nicht hübsch. Wer ist schon gerne „berechenbar“?
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