Wir können nicht mehr alles wissen…“

… denn unser Wis­sen selbst ver­al­tet so schnell, dass Inhal­te mehr und mehr irrele­vant wer­den. Täg­lich kommt so viel Wis­sen hin­zu, dass wir ein­mal mehr die­ses Wis­sen nie­mals beherr­schen kön­nen – selbst wenn wir woll­ten. Des­we­gen müs­sen wir in der Schu­le weg von der Kul­tur der rei­nen inhalt­li­chen Wis­sens­ver­mitt­lung. Wir müs­sen hin zu einer Kul­tur der Kom­pe­tenz­ver­mitt­lung. Wir müs­sen den SuS Mög­lich­kei­ten und Metho­den an die Hand geben, damit die­se das Wis­sen der Welt selbst erschließen.Denn wir bil­den heu­te Men­schen für Beru­fe aus, die es in ihrer Pro­fi­lie­rung erst noch geben wird.

Grob zusam­men­ge­fasst höre ich die­se Töne gera­de im Kon­text von Web2.0 sehr oft. Die Bezeich­nung durch das Wort „Töne“ impli­ziert bereits mei­ne Ein­stel­lung zu sol­chen Sät­zen. Ich hal­te den Anspruch – zumin­dest in bestimm­ten Alters­tu­fen für sehr gefähr­lich. Vol­ker Pis­pers stellt die in mei­nen Augen mög­li­chen Kon­se­quen­zen sehr über­zo­gen und gene­ra­li­sie­rend dar, trifft aber den Kern mei­ner Kri­tik am ver­ab­so­lu­tier­ten Kompetenzkonzept:

Neh­men wir ein­mal an, es gibt wirk­lich Unter­neh­mens­be­ra­ter, Invest­ment­ban­ker usw., die so kli­schee­haft han­deln, wie von Vol­ker Pis­pers 2004(!) dar­ge­stellt. Sie könn­ten nach mei­nem Ver­ständ­nis nicht exis­tie­ren ohne gewal­ti­ge Kom­pe­ten­zen im kom­mu­ni­ka­ti­ven und metho­di­schen Bereich. Was müss­ten sie aber kön­nen, um nach­hal­ti­ge volks­wirt­schaft­li­che Wer­te zu schaf­fen? Was müss­ten sie wis­sen, um Unter­neh­men erfolg­reich zu beraten?

In mei­nen Augen müss­ten sie etwas über z.B. Huma­nis­mus wis­sen. Sie müss­ten etwas über Sozio­lo­gie und Poli­tik wis­sen. Sie müss­ten etwas über geschicht­li­che Zusam­men­hän­ge wis­sen. Sie müss­ten etwas über das Pro­dukt der Fir­ma und die Arbeits­be­din­gun­gen in der Fir­ma wis­sen bzw. erfah­ren haben, was z.B. kör­per­li­che Arbeit bedeutet.

Dazu gehört für mich in Ansät­zen auch tech­ni­sches Know-How, das ich so oft auch im Web2.0‑Kontext ver­mis­se. Der Aus­druck von Unwis­sen im Web2.0 lau­ten für mich: „Ich will anwen­den, das muss bunt sein und die Tech­nik dahin­ter inter­es­siert mich nicht – das kann man doch nicht alles wis­sen!“. Die­ses Wis­sen kann z.B. anhand von Bei­spie­len ver­mit­teln wer­den, die idea­ler­wei­se pro­to­ty­pi­sche Kon­zep­te vorbereiten/implizieren. Ohne die Bei­spie­le kann ich den pro­to­ty­pi­schen Cha­rak­ter nicht abs­tra­hie­ren, weil ich dazu ja Par­al­le­len fin­den muss, bzw. auch par­al­le­le Bei­spie­le. Das kann in mei­nen Augen kein Unter­stu­fen­schü­ler in die­ser Abso­lut­heit leis­ten. Er muss z.B. mit ver­schie­de­nen Wer­te­sys­te­men kon­fron­tiert wer­den – das geht zunächst nur über den Inhalt, wor­aus dann Kom­pe­ten­zen erwach­sen, die unbe­dingt zu reflek­tie­ren, auf einer Meta­ebe­ne auf­zu­be­rei­ten und ein­zu­üben sind, indem man die auf neue Sach­ver­hal­te pro­je­ziert. Das im Kom­pe­tenz­um­feld ent­wi­ckel­te Akzep­tor-/Do­na­tor­kon­zept in der Che­mie fin­de ich in die­ser Bezie­hung ganz hervorragend.

Das was wir an Wis­sen nicht haben, wer­den wir spä­ter durch Kom­pe­ten­zen nicht auf­wie­gen. Der rei­ne Kom­pe­tenz­mensch ist in mei­nen Augen der abhän­gi­ge Mensch von Mor­gen. Wie vie­le Men­schen sind z.B. von einer bestimm­ten Benut­zer­ober­flä­che eines Rech­ners abhän­gig, weil sie nicht ver­ste­hen wol­len, was der Rech­ner für sie macht? Rele­van­tes Wis­sen im IT-Bereich bedeu­tet das Erler­nen von Kon­zep­ten – etwa der Objekt­ori­en­tie­rung – die es erlau­ben, jedes Schreib­pro­gramm, wel­che objekt­ori­en­tiert arbei­tet (das tun fast alle) zu bedie­nen. Das ermög­lich mir Frei­heit bei der Wahl mei­nes Soft­ware­an­bie­ters. Dazu benö­ti­ge ich zunächst aber Wis­sen um die Objekt­ori­en­tie­rung und ich brau­che jeman­den, der erkennt, dass die Objekt­ori­en­tie­rung rele­van­tes Wis­sen dar­stellt. Habe ich die­ses Wis­sen nicht, muss ich ande­re Leu­te fra­gen oder für eine Dienst­leis­tung zahlen.

Kom­pe­ten­zen fan­gen für mich immer mit dem Inhalt an – nie mit der Metho­de, nie mit dem Medi­um. Wir kön­nen nicht alles wis­sen. Das heißt aber nicht, dass wir kein Wis­sen mehr ver­mit­teln soll­ten oder dass wir kei­nes mehr brau­chen. Jun­ge Men­schen wis­sen natur­ge­mäß weni­ger oder ande­re Din­ge über das, was man Leben nennt. Geben wir unser Wis­sen an die Jün­ge­ren wei­ter – unser rele­van­tes Wis­sen bzw. das Wis­sen, wel­ches wir dafür halten.

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7 Kommentare

  • Sehr schön. Du sprichts an, was die Gegen­be­we­gung zur rei­nen Kom­pe­ten­zen­ori­en­tie­rung schu­li­scher Bil­dung an Argu­men­ten haben wird – wenn sie in den Kul­tus­be­hör­den ange­kom­men ist und Gehör fin­det. Das gilt es wei­ter zu kon­zep­tua­li­sie­ren und zu diffundieren.

  • In der Infor­ma­tik sol­len die Schü­ler das Prin­zip Rekur­si­on erler­nen – und pro­gram­mie­ren daher selbst Lis­ten mit rekur­si­ven Funk­tio­nen. Die bringt Java aber bereits mit. Trotz­dem, begrei­fen kann man das erst, wenn man es selbst pro­gram­miert hat.

    • Das ist genau das. Ein ande­res Bei­spiel wäre der gra­fik­fä­hi­ge Taschen­rech­ner mit Alge­bra­sys­tem. Da tip­pert man eben schnell SOLVE(10/4=20/x;x) und schon steht da x=8. Das geht auch zu Fuß durch Umformen/Kürzen (oder eben durch Über­le­gen), aber das weiß kaum einer mehr… (ich habe in Che­mie jed­we­den Bekeh­rungs­ver­such auf­ge­ge­ben – und nut­ze aber auch das Werk­zeug TR ausgiebig).

      Kli­schee­kom­pe­ten­zie­rer wür­de jetzt sagen: Das ist doch Stuss, sowas ler­nen zu müs­sen, wenn es doch einen Taschen­rech­ner gibt. Und dann steht spä­ter der Jung­in­ge­nieur vor den Stein­pa­let­ten auf dem Bau und rech­net, ob die noch rei­chen, wäh­rend der (unstudier­te) Polier nach kur­zem Blick schon Stei­ne nach­be­stellt hat – gut für die Autorität… 

      Hat­te gera­de hier einen Mau­rer, der mir die Sta­tik für einen Anbau fast über den Kopf hau­en woll­te: Ich hät­te als Nut­zungs­zweck wohl nicht „Wohn­raum“, son­dern „Luft­schutz­raum“ beim Sta­ti­ker ange­ge­ben. Was soll’s: Stahl gibt es ja unend­lich auf der Welt.

  • Kom­pe­ten­zen fan­gen für mich immer mit dem Inhalt an – nie mit der Metho­de, nie mit dem Medium.

    Das sehe ich auch so – und Du hast die gedank­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen sehr schön auf den Punk­te gebracht. 

    Was ich außer­dem noch beach­tens­wert halte: 

    Täg­lich kommt so viel Wis­sen hin­zu, dass wir ein­mal mehr die­ses Wis­sen nie­mals beherr­schen können

    Das mag rich­tig sein, doch soll­te man sich fra­gen, inwie­fern die­ses vie­le neue Wis­sen für jeman­den rele­vant ist, der gera­de die ers­ten Schrit­te in einem Fach unter­nimmt. Wenn ich noch kei­ne Ahnung von Phy­sik habe, ist es ziem­lich irrele­vant, dass die gro­ßen Phy­si­ker gera­de ein revo­lu­tio­nä­res Welt­bild ent­wer­fen. Ich muss mich zunächst mir dem Atom­mo­dell, mit Mecha­nik oder Elek­tri­zi­tät beschäf­ti­gen, damit ich über­haupt die Mög­lich­keit habe, mir spä­ter (wenn ich dann Phy­sik stu­die­re) mit den wei­ter­ge­hen­den Fra­gen aus­ein­an­der set­zen zu können.

    Oder: wenn ich mir (ganz kom­pe­tenz­ori­en­tiert) aus einem kom­ple­xen Text Infor­ma­tio­nen erar­bei­ten soll, dann muss ich per­ma­nent beur­tei­len, wel­che Ele­men­te des Tex­tes für mich rele­vant sind und wel­che nicht. Dazu muss ich aber schon etwas über das The­ma wis­sen. Ich kann nicht beur­tei­len ohne Grund­la­gen­wis­sen, das mir als Refe­renz bei der Beur­tei­lung dient. 

    Inso­fern müs­sen wir nach wie vor einen Grund­stock von Wis­sen ver­mit­teln, der als eine sol­che Grund­la­ge die­nen kann. Und dann wird es (wie Du ja schon gesagt hast) dar­um gehen, die Kom­pe­ten­zen auf neue Fel­der anzu­wen­den und sie dar­an zu einzuüben.

  • Pingback: herrlarbig.de » Blog Archiv » Zwischen Kompetenzen und Literacy oder: Ohne Inhalt keine Kompetenz

  • Jean-Pol Martin

    Lus­tig. Ich bin gera­de dabei, die geschich­te der phi­lo­so­phie (in Kurz­fas­sung) noch ein­mal durch­zu­le­sen und zu memo­rie­ren. Das wer­de ich in Senio­ren­kreis als Kurs anbie­ten. Struk­tur­wis­sen eben, und kei­ne Kompetenzen.

  • Dazu benö­ti­ge ich zunächst aber Wis­sen um die Objekt­ori­en­tie­rung und ich brau­che jeman­den, der erkennt, dass die Objekt­ori­en­tie­rung rele­van­tes Wis­sen dar­stellt. Habe ich die­ses Wis­sen nicht, muss ich ande­re Leu­te fra­gen oder für eine Dienst­leis­tung zahlen.
    Da wird mir doch wie­der ein­mal bewusst, wie wich­tig Biblio­the­ka­re sind ^^ – nur müss­ten Biblio­the­ka­re mehr Kapa­zi­tä­ten haben, um Stu­die­ren­de beim Ler­nen und bei der Infor­ma­ti­ons­re­cher­che bes­ser unter­stüt­zen zu kön­nen (z. B. Zusam­men­ar­beit von Lehrern/ Dozen­ten mit Biblio­the­ka­ren und dar­aus resul­tie­ren­de, gemein­sam durch­ge­führ­te Ver­an­stal­tun­gen und Projekte)

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