Von uns Gralshütern – oder wie Beratung in sozialen Medien scheitern muss

Es gibt auf Twit­ter bestimm­te Plots, die immer wie­der ablaufen:

  1. Jemand gibt bekannt, das er/sie eine Klas­se mit Gerä­ten neu über­nimmt und fragt nach Pro­gram­men, Tipps und Ressourcen
  2. Das wird dann kom­men­tiert mit Hin­wei­sen wie: „Aber so oder so muss das doch schei­tern, es gibt ja kein Konzept!“
  3. Dann schal­ten sich Twit­ter­au­tori­tä­ten ein und ver­wei­sen auf Theo­rie­ar­ti­kel und beschrei­ben, inwie­fern die­se oder jene Vor­ge­hens­wei­se alte Struk­tu­ren zemen­tie­ren würde.
  4. Viel­leicht erbarmt sich noch irgend­wer und gibt eine lösungs­ori­en­tier­te Antwort.

Ich habe mich oft genug in den Schrit­ten 2–3 ein­ge­schal­tet und in Kon­zept- und Visi­ons­blind­heit dabei flei­ßig mitgemacht.

Ich habe mitt­ler­wei­le Fra­gen zu sol­chen Abläu­fen, die oft genug fast schon reflex­haft sind:

  1. Für vie­le Lehr­kräf­te ist es eine Über­win­dung, sich in sozia­len Netz­wer­ken anzu­mel­den. Meist hören sie dann zunächst nur still mit.
  2. Für vie­le Lehr­kräf­te ist es eine Über­win­dung, sich zu trau­en eine Fra­ge zu stel­len, die im Kern eigent­lich auf ihr eige­nes Unwis­sen zurück­ver­weist. Sie ver­trau­en impli­zit – in Unkennt­nis der Dyna­mi­ken auf Social­me­dia dar­auf, dass nur Men­schen reagie­ren, die lösungs­ori­en­tiert agie­ren. Sie bekom­men aber Meta­ana­ly­sen, die sie und ihr Han­deln infra­ge stellen.
  3. Vie­le Lehr­kräf­te befin­den sich hin­sicht­lich ihrer Ent­wick­lung in Bezug auf den Ein­satz digi­ta­ler Gerä­te oder gar im Hin­blick auf eine ver­än­der­te Schul­kul­tur ganz am Anfang.

Das Ziel von uns Medi­en­fuz­zi­es ist ja irgend­wie, einen Rah­men zu schaf­fen Kom­pe­ten­zen inner­halb der Leh­rer­schaft zu ent­wi­ckeln. Indem auch ich mich lan­ge Zeit so ver­hal­ten habe, habe ich die­ses Ziel oft genug aus den Augen ver­lo­ren. „Pap­per­la­papp – wer sich öffent­lich so äußert, muss sich mit sach­li­cher Kri­tik aus­ein­an­der­set­zen!“ Vor einer Grup­pe öffent­lich in die­sem Real­li­fe wie sach­lich auch immer kri­ti­siert zu wer­den, ist schon nicht leicht – man braucht gute Ref­raming-Tech­ni­ken, um nicht auf die per­sön­li­che Ebe­ne zu rut­schen. In der völ­lig schutz­lo­sen Social­me­dia-Öffent­lich­keit ist das bestimmt noch viel schwieriger.

Daher ent­glei­sen Dis­kur­se: „Du stellst mich infra­ge, das muss ich mir hier nicht bie­ten las­sen!“ vs. „Sach­li­cher Kri­tik muss man sach­lich begeg­nen, das gehört zum Erwach­sen­sein!“. Hin­ter­her sind bei­de muksch – wie man hier im Nor­den sagt und gewon­nen ist auch so ziem­lich gar nichts – denn: Die „sach­li­chen Grals­hü­ter“ wer­den ledig­lich in „Son­der­bla­sen“ iso­liert, igno­riert, ent­folgt. Und das in einem Umfeld, das an sich schon eine win­zi­ge Bla­se in der Leh­rer­schaft ist. Ins­be­son­de­re der Ver­hält­nis zwi­schen Schu­le und uni­ver­si­tä­rer Didak­tik ist mei­ner Auf­fas­sung nach ein Mus­ter­bei­spiel für die­se Art von struk­tu­rel­ler Ver­här­tung. Ein guter Kon­takt zur Infor­ma­tik­di­dak­tik in Olden­burg hat mich gelehrt, dass es ganz anders gehen kann.

Ich mag Theo­rie sehr, sehr ger­ne und ich fin­de Kri­tik wich­tig. Aber Sach­lich­keit ist ledig­lich ein not­wen­di­ges Kri­te­ri­um von Kri­tik und kein hin­rei­chen­des. Ich möch­te zukünf­tig mehr aner­ken­nen, dass es bei mei­ner Ent­wick­lung Pha­sen der unre­flek­tier­ten Tech­nik­nut­zung gab und gibt. Und die­se Pha­sen sind auch wich­tig! Ent­schei­dend waren für mei­ne Ent­wick­lung per­sön­li­che Begeg­nun­gen und Rah­men­be­din­gun­gen, in denen Kri­tik mich auch errei­chen konn­te. Social­me­dia ist dafür über­haupt kein guter Rah­men. „Mis­sio­nie­ren“ kann man anders­wo impli­zit viel bes­ser. Und das soll­te man mei­ner Mei­nung nach ger­ne tun.

Gera­de Twit­ter führt oft genug in Ver­su­chung, eine Per­son auf Basis einer ein­zi­gen Äuße­rung zu bewer­ten. Das ist mir selbst auch schon pas­siert. Sys­te­misch ist das kom­plett falsch und es kann nicht auch nur zu irgend­was führen.

Denn wir wissen eigentlich nicht, was wir tun …

Wenn ich Web­i­na­re mache, redet meist nur eine Per­son. Alle ande­ren schwei­gen oder tip­pen maxi­mal. Web­i­na­re als For­mat sind metho­disch für mich ähn­lich metho­den­arm wir der momen­ta­ne Prä­senz­un­ter­richt. Ich weiß eigent­lich nichts dar­über, wie mei­ne kru­den Ideen ankom­men oder ob die­se Ver­an­stal­tun­gen für irgend­wen dar­in einen Wert haben. Es ist ein Blind­flug, weil ich eine Sache nicht mache, die gera­de jetzt in der Kri­se wahr­schein­lich immens wich­tig ist – für mich und mein Han­deln und dafür, pas­sen­de Ange­bo­te zu ent­wi­ckeln: Die Evaluation.

Als Lei­tung bist du im Auge des Hur­ri­cans – alles dreht sich um dich, aber nur die dicks­ten Bro­cken fal­len dir vor die Füße. Von der Mas­se bekommst du nichts mit!“

Das ist eine Aus­sa­ge, die auf meh­re­ren mei­nen dama­li­gen Jugend­lei­ter­schu­lung gefal­len ist – ich behaup­te: Ich als Fort­bild­ner und Schul­lei­tun­gen han­deln momen­tan pri­mär auf der Basis von Infor­ma­tio­nen, die von extro­ver­tier­ten Men­schen bekom­men. Auch exter­ne Stim­mungs­la­gen auf z.B. Social­me­dia bil­den nur die Rea­li­tät der Lau­ten ab.

Auf­lö­sen kann ich das nur durch Eva­lua­ti­on, weil die­se mir Infor­ma­tio­nen in einer Brei­te lie­fert, die nicht nur die Lau­ten ein­schließt. Des­we­gen gehört Eva­lua­ti­on – mög­lichst nied­rig­schwel­lig – viel­leicht zu den aller­wich­tigs­ten Din­gen, die man heu­te machen muss. Die Fra­gen soll­ten dabei nicht „wis­sen­schaft­lich belast­bar“ sein. Es soll­ten mei­ne Fra­gen sein, die ich brau­che, um Ideen für mein wei­te­res Han­deln zu bekom­men. Das kann ich auch der Grup­pe gegen­über so trans­pa­rent machen. Momen­tan wären mit qua­li­ta­ti­ve Eva­lua­ti­ons­it­ems viel wich­ti­ger als quantitative.

Wenn ich Schulleitung wäre – was würde ich wissen wollen?

Von Eltern:

  1. Was macht Ihnen zur­zeit am meis­ten Sor­gen in Bezug auf die Bil­dung Ihrer Kinder?
  2. Wie bewer­ten Sie ins­ge­samt die Betreu­ung durch die Lehrkräfte?
  3. Was brau­chen Sie von uns, um mit der momen­ta­nen Situa­ti­on bes­ser zurechtzukommen?
  4. Was brau­chen Ihrer Mei­nung nach Ihre Kin­der von uns, um mit der momen­ta­nen Situa­ti­on bes­ser zurechtzukommen?
  5. Was möch­ten Sie uns noch mitteilen?

Von Schüler:innen:

  1. Was macht dir zur­zeit am meis­ten Sor­gen, wenn du an Schu­le denkst?
  2. Wie bewer­test du ins­ge­samt die Betreu­ung durch dei­ne Lehrkräfte?
  3. Nen­ne uns ein Bei­spiel für eine Lehr­kraft, die Ihren Job gera­de dei­ner Ansicht nach sehr gut macht. Beschrei­be uns kurz, was sie genau macht!
  4. Was brauchst du von uns, damit du mit der momen­ta­nen Situa­ti­on bes­ser zurechtkommst?
  5. Was möch­test du uns noch mitteilen?

Von Lehrer:innen:

  1. Was berei­tet Ihnen zur­zeit die meis­ten Sor­gen in Bezug auf die Bil­dung Ihrer Schüler:innen?
  2. Wie kom­men Sie mit der momen­ta­nen Unter­richts­si­tua­ti­on zurecht?
  3. Beschrei­ben Sie uns kurz eine Metho­de, die für Sie und Ihre Schüler:innen nach Ihrer Mei­nung zur­zeit gut funktioniert.
  4. Was brau­chen Sie von uns als Schul­lei­tung zur­zeit am notwendigsten?
  5. Was möch­ten Sie uns noch mitteilen?
Der erhoffte Effekt

Durch Eva­lua­ti­on kom­men Men­schen vor, die i.d.R. nicht laut sind, z.B. die Gewis­sen­haf­ten. Schüler:innen als Schu­le nach Ihrer Mei­nung zu fra­gen, ist auch ein sozia­les Zei­chen: Ich neh­me dich / euch ernst!

Medi­al kom­men Schüler:innen zur­zeit näm­lich gar nicht vor: Sie sind vor­wie­gend Objek­te von Ent­schei­dun­gen ande­rer – weni­ger Sub­jek­te. Wenn Tei­le der gewon­ne­nen Erkennt­nis­se dann tat­säch­lich in die wei­te­re Orga­ni­sa­ti­on des Schul­all­tags ein­flie­ßen, lässt sich der Effekt der „Ernst­ge­nom­men­wer­dens“ noch stei­gern – igno­riert man das, ver­spielt man Ver­trau­en. Daher ist es wich­tig, von vorn­her­ein Res­sour­cen für die Umset­zung der Ein­ga­ben bereit­zu­stel­len – sonst wird man mehr ver­lie­ren als man gewin­nen kann.

Eine sol­che qua­li­ta­ti­ve Eva­lua­ti­on kann zudem Din­ge sicht­bar machen, die im Kon­zert der Lau­ten unter­ge­hen. Dabei fällt so man­cher Gold­ring ins Auge des Hurricans.

(Ich glau­be, das bie­te ich den Schu­len mal an. Tech­nisch umset­zen und auto­ma­ti­siert aus­wer­ten ist für mich nicht so ein gro­ßes Problem.)

 

Was wir in Bezug auf Technisierung nach Corona an Schulen sehen werden

Twit­ter ist ein Bla­se. Mein Land­kreis ist eine Bla­se. For­schungs­pro­jek­te im Bereich der Didak­tik sind lei­der auch oft Bla­sen (hier die Tech­ni­sie­rungs­pro­ble­ma­tik). In der einen Bla­se wird z.B. gefei­ert, dass man jetzt über Auf­ga­ben­mo­du­le Schüler*innen Mate­ri­al bereit­stel­len kann.

Und es gibt ers­te Ten­den­zen: Mein Ältes­ter (hin­rei­chend über Jah­re von mir indok­tri­niert), prognostizierte:

Dem­nächst wer­den Lehr­kräf­te Auf­ga­ben­mo­du­le auch nach den coro­nabe­ding­ten Schul­schlie­ßun­gen wei­ter­nut­zen. Dann gibt es kei­ne Chan­ce mehr, Auf­ga­ben nicht recht­zei­tig auf­zu­ge­ben oder nicht zu erledigen!“

Schon ziem­lich am Anfang der Nut­zung von Auf­ga­ben­mo­du­len kam bei eini­gen Lehr­kräf­te hier im Land­kreis der Wunsch auf, gestell­te tech­ni­sier­te Auf­ga­ben jetzt effek­tiv zu archi­vie­ren – samt Schüler*innenlösungen. Und das ist mehr als nachvollziehbar.

Die Reak­ti­on der Twit­ter­bla­se auf sol­che Ent­wick­lun­gen ist vor­her­seh­bar: „Tech­nik als Kon­troll­in­stru­ment!“ „Das an Schu­le tech­ni­sie­ren, was am ehes­ten zu tech­ni­sie­ren geht!“ Alles böse.

Aber auch eine Fra­ge der Per­spek­ti­ve. Ich bin unglaub­lich froh dar­über und ste­he stau­nend davor, wie sich jetzt durch Tech­ni­sie­rung des Unter­richts, Bedien- und Anwen­dungs­kom­pe­ten­zen bei deut­lich mehr Kolleg*innen ent­wi­ckeln – wie Fra­gen kom­men, die bis­her nie eine Rele­vanz hat­ten im All­tag. Von da aus wird der Schritt zur Digi­ta­li­sie­rung kleiner.

Auf der ande­ren Sei­te wird durch Tech­ni­sie­rung auch recht bru­tal trans­pa­rent, wie Unter­richt von Lehr­kräf­ten gedacht wird und wel­che Rol­len Schüler*innen dabei ein­neh­men. Anhand von Auf­ga­ben­for­ma­ten und metho­di­schen Vor­ge­hen las­sen sich u.U. gan­ze Men­schen­bil­der vermuten.

Auf der einen Sei­te wird Unter­richt durch Tech­ni­sie­rung „doku­men­tier­ba­rer“, vor­der­grün­dig „objek­ti­ver nach­prüf­bar“ („Wer hat wann und über­haupt abge­ge­ben?“). Das ist kein Prin­zip, was auf Auf­ga­ben­mo­du­le beschränkt ist. So erzähl­te mir letz­tens ein Schulleitungsmitglied:

Seit Ein­füh­rung des tech­ni­sier­ten Klas­sen­buch sind die Kopf­no­ten aller unser Schüler*innen viel schlech­ter geworden!“

Auf der ande­ren Sei­te gilt das natür­lich auch für die Arbeit der Lehr­kräf­te: Es ist leicht nach­prüf­bar, wer wie vie­le Auf­ga­ben gestellt und auch kor­ri­giert hat. Oder wie vie­le E‑Mails ver­schickt wur­den. Dafür braucht es ledig­lich ein paar Skrip­ten und Log­file­aus­wer­tun­gen. Sagt das etwas über Qua­li­tät von Arbeit aus?

Und die­se Ansät­ze schei­nen für man­che Schul­lei­tun­gen gar nicht so abwe­gig zu sein. Durch Tech­ni­sie­rung kön­nen Leis­tun­gen von Schüler*innen und Lehr­kräf­ten glei­cher­ma­ßen doku­men­tiert und aus­ge­wer­tet wer­den. Mitarbeiter*innen eini­ger Kon­zer­ne ken­nen das schon.

Durch Tech­ni­sie­rung bil­den sich Vor­aus­set­zun­gen für digi­ta­li­sier­tes Arbei­ten. Die­ses kann auch ganz los­ge­löst von als Tech­nik bezeich­ne­ter Tech­nik funk­tio­nie­ren – man­che Din­ge sind dann bloß erheb­lich aufwändiger.

Was ist für mich der Unter­schied zwi­schen Tech­ni­sie­rung und Digi­ta­li­sie­rung? In einer Fort­bil­dung habe ich ver­sucht, das schlag­licht­ar­tig in zwei Sät­ze zu pressen:

  • Digi­ta­le didak­ti­sche Set­tings ermög­li­chen Schüler*innen, ihre eige­nen Struk­tu­ren zu finden.
  • Digi­ta­le didak­ti­sche Set­tings ermög­li­chen, die die bereits vor­han­de­nen Kom­pe­ten­zen der Schüler*innen nut­zen und sicht­bar wer­den lassen.

In der Pha­se der coro­nabe­ding­ten Ein­schrän­kun­gen des Schul­be­triebs hel­fen der­ar­ti­ge Set­tings, nicht zur „Kor­rek­tur- oder Aus­füll­ma­schi­ne“ zu ver­kom­men – Schüler*innen und Lehr­kräf­ten gleichermaßen.

Das alles geht tech­ni­siert, z.B. mit kol­la­bo­ra­ti­ven Schreib­werk­zeu­gen – aber auch – eben­falls tech­ni­siert, nur eben anders tech­ni­siert – mit einem Pla­kat oder Schuh­kar­ton. Ent­schei­dend ist das Setting.

Und ein: „Lass doch mal zu, dass dei­ne Schüler*innen die Argu­men­te im Ether­pad nach Gewich­tig­keit selbst ord­nen!“ ist viel schwie­ri­ger, als wie gewohnt zu Hau­se ein Ether­pad vor­struk­tu­riert vor­zu­be­rei­ten, wie man es von einem Tafel­bild gewohnt ist.

Die digi­ta­le Tech­nik ist meist das viel klei­ne­re Problem.

Ent­schei­dend ist für mich das „sowohl – als auch“. Instruk­ti­ve Pha­sen kön­nen Kom­pe­tenz­ent­wick­lung durch­aus posi­tiv beein­flus­sen – wenn ich hin­ter­her aus einer Meta­per­spek­ti­ve mit Schüler*innen dar­auf schaue: „Das war jetzt ein gän­gi­ger Ansatz! Der ermög­licht das und das. Habt ihr Ideen für ande­re Ansät­ze?“ (Wie könn­te man das Tafelbild/die Prä­sen­ta­ti­on viel­leicht noch gestalten?).

Tech­ni­sie­rung“ hal­te ich für eine wesent­li­che Vor­aus­set­zung für „Digi­ta­li­sie­rung“. Wenn Tech­ni­sie­rung durch eine digi­ta­le Ziel­per­spek­ti­ve unter­mau­ert ist, fin­de ich sie ganz erträg­lich und hel­fe auch sehr ger­ne auf die­ser Ebe­ne. Das macht mir inhalt­lich über­haupt kei­nen Spaß. Aber ich ler­ne viel durch die Begeg­nun­gen mit Men­schen dabei.

 

 

 

Selbstverstärkungsmechanismen und der Wunsch nach Sicherheit

In Nie­der­sach­sen wur­den vor den Oster­fe­ri­en Äuße­run­gen des Kul­tus­mi­nis­ters Ton­ne beklagt, nach denen Fern­un­ter­richt allein auf frei­wil­li­ger Basis statt­fin­den könn­te. Die Lage hat sich mit der zer­schla­ge­nen Hoff­nung, Unter­richt kön­ne wie­der ganz nor­mal begin­nen, wie­der ziem­lich ver­än­dert. Die Lage wird sich wei­ter ver­än­dern, wenn sich die Coro­na­fall­zah­len durch die anste­hen­den Locke­run­gen nicht in die erhoff­te Rich­tung entwickeln.

Das Sys­tem Schu­le ist ver­un­si­chert und es gibt eine Men­ge Detail­fra­gen. Die jewei­li­gen Gege­ben­heit vor Ort sind kom­plett unter­schied­li­che Hand­lungs­wei­sen erfor­der­lich. Vie­les dreht sich dabei lei­der um Prü­fun­gen und Beno­tun­gen – bei­des Aspek­te, um die Schu­le jetzt weit­ge­hend beraubt ist. Immer­hin gibt es durch die Umstel­lung von G8 auf G9 in Nie­der­sach­sen zumin­dest nur an sehr weni­gen Gym­na­si­en über­haupt Abiturprüfungen.

Es stimmt mich nach­denk­lich, dass JETZT im Kon­text von Aus­stat­tung und Video­kon­fe­ren­zen das The­ma „benach­tei­lig­te Schüler*innen“ der­art pro­mi­nent wird. Vor­her war wenig davon zu hören, wenn der z.B. mit Nach­hil­fe­stun­den gut ver­sorg­te Sohn aus bür­ger­li­chem Hau­se die glei­che Klau­sur schrieb wie ein „benach­tei­lig­tes Mäd­chen“ aus der Zwei­zim­mer­woh­nung mit Eltern aus bil­dungs­fer­nem Milieu (man ent­schul­di­ge die Ste­reo­ty­pe an die­ser Stelle).

Was es mei­ner Ansicht nach jetzt braucht, sind Ent­schei­dun­gen vor Ort los­ge­löst von wie auch immer gear­te­ten Vor­ga­ben. Da spielt vie­les hin­ein: Schul­trä­ger, Gesund­heits­amt, Orga­ni­sa­ti­on des Schü­ler­tran­ports, Ver­sor­gung mit Des­in­fek­ti­ons­mit­teln, bau­li­che Gege­ben­hei­ten usw.. Minis­ter Ton­ne spricht dabei immer ger­ne von „Fah­ren auf Sicht“. Das Kul­tus­mi­nis­te­ri­um kann gar kei­ne Vor­ga­ben machen, die für jede Schul­form, jeden Schul­bau, jedes Hygie­ne­kon­zept, jede Risi­ko­grup­pe glei­cher­ma­ßen ver­bind­lich und sinn­voll sein kön­nen. Es ist schlicht nicht mög­lich – auch wenn man durch Pres­se manch­mal den Ein­druck erhält, hier wür­de gezau­dert und die Schu­len allein­ge­las­sen. Was Herrn Ton­ne hoch anzu­rech­nen ist, ist sein kla­res Bekennt­nis dazu, sich im Fall der Fäl­le vor die Ent­schei­der vor Ort zu stellen.

Nur weni­ge Fra­gen, so nach­voll­zieh­bar und wich­tig sie indi­vi­du­ell sein mögen, kön­nen m.E. ein­heit­lich gere­gelt wer­den. Je mehr klein­tei­li­ge Fra­gen kom­men, des­to grö­ßer wird die Ver­zweif­lung auf Sei­ten des Minis­te­ri­ums und der Lan­des­schul­be­hör­de wer­den – es ist schlicht kei­ne Zeit für umfang­rei­che Prü­fun­gen und Fest­le­gun­gen von Ver­fah­ren, weil die momen­ta­ne Lage bei­spiel­los ist.

Das Kon­zept abzu­war­ten, bis alle rele­van­ten Infor­ma­tio­nen und Vor­ga­ben vor­lie­gen, um auf jeden Fall rechts­si­cher agie­ren zu kön­nen, muss fol­ge­rich­tig dazu füh­ren, dass in zen­tra­len Fra­gen schlicht gar nicht oder viel zu spät gehan­delt wird. Letz­te­res birgt die Gefahr von Fehlentscheidungen.

Wenn man hin­ge­gen jetzt ein­fach han­delt, ist es momen­tan sehr wahr­schein­lich, dass erdach­te Plä­ne immer wie­der obso­let wer­den und der eine oder ande­re in sei­nem berech­tig­ten Wunsch nach Sicher­heit ent­täuscht wird und kri­tisch reagiert. Es ist defi­ni­tiv nicht leicht für Schul­lei­tun­gen. Es ist gene­rell auch nicht leicht für Men­schen, die ein gro­ßes Sicher­heits­be­dürf­nis haben.

Auch ich in der Medi­en­be­ra­tung habe zur­zeit mit Ent­wick­lun­gen zu tun, die ich nicht gut­hei­ße und in denen ich kei­nen Sinn sehe – trotz­dem muss ich damit umge­hen und als Regio­nal­kon­fe­renz­lei­ter – glück­li­cher­wei­se im Lei­tung­s­tan­dem – Kolleg*innen mit­neh­men. Ich ver­su­che mich dabei vor allem auf die Aspek­te zu kon­zen­trie­ren, die ihren Wert über die Zei­ten der ein­schränk­ten Schul­öff­nun­gen (vor­aus­sicht­lich) hin­aus behalten.

Für mich als Eltern­teil – ein ande­rer Hut als der des Staats­die­ners – gibt es für Schu­len Auf­ga­ben, die so oder so jetzt erle­digt wer­den müs­sen und die orga­ni­siert sein wol­len – los­ge­löst von Vorgaben.

Infor­ma­ti­ons­be­schaf­fung

  1. Ich muss als Schu­le wis­sen, wer zu einer Risi­ko­grup­pe gehört oder mit Ange­hö­ri­gen einer Risi­ko­grup­pe in häus­li­cher Gemein­schaft lebt. Beur­tei­len kann das wahr­schein­lich nur ärzt­li­ches Per­so­nal – es soll­te also mit einer Beschei­ni­gung nach­ge­wie­sen wer­den – ganz gleich ob Eltern, Schüler*innen, Ange­hö­ri­ge in häus­li­cher Gemein­schaft oder Lehr­kräf­te. Bei der Frist­set­zung wäre ich sehr prag­ma­tisch und wür­de eher ver­trau­en, aber den­noch die Nach­wei­se ver­bind­lich einfordern.
  2. Ich muss wis­sen, wie es um die digi­ta­le Aus­stat­tung von Schüler*innen im häus­li­chen Bereich bestellt ist (E‑Mail, Tele­fon, Rauch­zei­chen usw.).
  3. Ich muss mit dem Gesund­heits­amt und dem Trä­ger rück­kop­peln, wel­che Prio­ri­tä­ten bei der Schü­ler­be­för­de­rung gel­ten: Mög­lichst vie­le Schüler*innen aus einer Kom­mu­ne? Mög­lichst viel Abstand von Schüler*innen in den Bus­sen? Maskenpflicht?

Auf Basis die­ser Infor­ma­tio­nen kann ein Über­blick dar­über gewon­nen wer­den, mit wel­chen Res­sour­cen man in der Schu­le über­haupt rech­nen kann und wel­che Schüler*innen auf digi­ta­lem Weg nicht erreicht wer­den oder gar nicht ohne Risi­ko für sie oder Ange­hö­ri­ge zur Schu­le kom­men kön­nen. Das ist für eine Schul­lei­tung allei­ne nicht zu schaf­fen – man wird die­se Auf­ga­ben an Lehr­kräf­te dele­gie­ren und für eine struk­tu­rier­te Zusam­men­füh­rung der Ergeb­nis­se sor­gen müs­sen. Dabei kann natür­lich her­aus­kom­men, dass das mit den vor­han­de­nen Per­so­nal­res­sour­cen nicht zu schaf­fen ist. Das wird dann nicht nur einer Schu­le so gehen und man wird dann kul­tus­po­li­tisch dar­auf reagie­ren müssen.

Sinn­vol­le Ange­bo­te für den Fernunterricht

Par­al­lel zur Infor­ma­ti­ons­be­schaf­fung soll­te sich eine Schu­le mei­ner Mei­nung nach Gedan­ken zur Aus­ge­stal­tung von Fern­un­ter­richt machen. Dabei müs­sen aus mei­ner Eltern­sicht bestimm­te Grund­sät­ze gelten:

  1. Auf­ga­ben müs­sen so gestellt sein, dass Schüler*innen sie eigen­stän­dig bear­bei­ten können
  2. Kor­rek­tur und Bera­tung soll­te soweit mög­lich durch Lehr­kräf­te erfolgen
  3. Lehr­kräf­te müs­sen für Rück­fra­gen zu fes­ten Zei­ten per Tele­fon oder Video­kon­fe­renz erreich­bar sein, wenn Pro­ble­me mit den Auf­ga­ben und Lern­an­ge­bo­ten gibt.
  4. Inner­halb einer Klas­se bedarf es der Abstim­mung unter den Lehr­kräf­ten bezüg­lich des Umfan­ges und der Art der Aufgaben.
  5. Lie­ber weni­ge, durch­dach­te Auf­ga­ben, als vie­le ein Biss­chen ange­ris­sen und nicht abgestimmt.
  6. Nicht nur die ver­meint­li­chen Haupt­fä­cher in den Blick neh­men. Bewe­gung und Krea­ti­vi­tät hal­te ich in der Iso­la­ti­on für sehr wich­ti­ge Elemente.
  7. Schüler*innen, die nicht digi­tal erreicht wer­den kön­nen, müs­sen auf alter­na­ti­vem Wege erreicht wer­den können.
  8. Schüler*innen brau­chen auch Bera­tung in sozia­len Fra­gen. Die Schul­so­zi­al­ar­beit soll­te aktiv Schüler*innen über Kon­takt­mög­lich­kei­ten infor­mie­ren und Ange­bo­te machen.

Dafür haben hier in der Gegend eini­ge Schu­len schon Kon­zep­te gefun­den. Da das gan­ze Pro­ze­de­re sehr anspruchs­voll und vor allem unge­wohnt für vie­le Lehr­kräf­te ist, kann das mei­ner Mei­nung nach nur im Team arbeits­tei­lig erfol­gen – da führt dann u.U. kaum ein Weg an tech­ni­schen Unter­stüt­zungs­sys­te­men vor­bei (Tele­fon- oder Video­kon­fe­renz, ggf. Foren, Chats und E‑Mail).  In Nie­der­sach­sen sind ja die „häus­li­chen Schul­zei­ten“ gegen­über der sons­ti­gen Unter­richts­ver­pflich­tung deut­lich ein­ge­schränkt – ent­spre­chend des Alters der Schüler*innen. Das wird nicht leicht, da sich vie­le Kolleg*innen schon bei ein­fa­chen Bedie­ner­fra­gen sehr schwer tun. Aber Tele­fon- und und Brief­kon­takt sind kei­ne „min­der­wer­ti­gen“ Kom­mu­ni­ka­ti­ons­for­men. Alles darf doch ger­ne nebeneinanderstehen.

Prü­fun­gen organisieren

Die Klas­sen­ar­bei­ten wür­de ich inner­lich abschrei­ben. Die Abschluss­prü­fun­gen ste­hen hier in Nie­der­sach­sen noch auf der Agen­da. Dafür braucht es in Abstim­mung mit den loka­len Gesund­heits­äm­tern räum­li­che Lösun­gen. Auch hier ste­hen Turn­hal­len leer – wie in Chi­na. Aber viel­leicht sind ja meh­re­re Klas­sen­räu­me sogar viel bes­ser zu lüf­ten? Das wis­sen Spe­zia­lis­ten, die ein­ge­bun­den wer­den sollten.

Ich glau­be nicht, dass die See­le des deut­schen Schul­sys­tems ohne Prü­fun­gen in der gewohn­ten Form aus­kommt. Ein Sys­tem spürt intui­tiv, wenn es eng wird. Ohne Prü­fun­gen in gewohn­ter Form sind noch ganz ande­re Ele­men­te des Schul­sys­tems infra­ge gestellt. Das erklärt für mich das Fest­hal­ten an Ver­bind­lich­kei­ten, Beno­tung und Prü­fung. Wie sonst soll­te man Schüler*innen schließ­lich zum Arbei­ten bewe­gen? Wenn sich jetzt her­aus­stellt, dass das Stu­die­ren auch ohne Abitur­klau­su­ren nicht bes­ser oder schlech­ter klappt als mit? Was wäre denn dann?

Das hört sich bestimmt alles alt­klug an. Unter Garan­tie habe ich wich­ti­ge Aspek­te ver­ges­sen. Heu­te kam übri­gens der ers­te Brief mit Mate­ri­al von unse­rer Grund­schu­le hier an. Mit Anlei­tun­gen in kind­ge­rech­ter Spra­che und einem Eltern­brief in vor­wie­gend leich­ter Spra­che. Aus die­sem Umschlag kom­men übri­gens eini­ge Ideen in die­sem Artikel.

Update, 19.4.2020:

 

 

 

 

These: Im Fernunterricht wird viel sichtbar, was im Alltag eher verborgen ist

Es gibt Kolleg*innen, die mit viel Witz und Krea­ti­vi­tät von Schüler*innen aus den­ken und in der schul­frei­en Zeit für Eltern und Schüler*innen in beson­de­rer Wei­se sicht­bar sind. Es gibt Schu­len, die alles dar­an set­zen, dass durch Struk­tu­ren im Rah­men des Mög­li­chen wenigs­tens gewähr­leis­tet ist, dass Eltern sich nicht auch noch mit der Kor­rek­tur von gestell­ten Auf­ga­ben befas­sen müs­sen und die Auf­ga­ben auch phy­sisch für die­je­ni­gen zugäng­lich machen, die zu Hau­se nicht über die not­wen­di­ge Aus­stat­tung ver­fü­gen (Dru­cker, PC, Lap­top). Im ein­fachs­ten Fall sind das nach Schul­klas­sen geord­ne­te lee­re Dru­cker­pa­pier­kar­tons, in denen Arbeits­ma­te­ri­al aus­ge­druckt vor oder in gro­ßen Räu­men inner­halb der Schu­le ausliegt.

Das löst nicht das Pro­blem, wie das Mate­ri­al schließ­lich zu den Schüler*innen nach Hau­se kommt. Ins­be­son­de­re bei wei­ter­füh­ren­den Schu­len in der Flä­che (Gym­na­si­en, BBSen) ist das ein schier unlös­ba­res Pro­blem. Grund­schu­len und Ober-/Re­al-/Haupt­schu­len sind meist wohn­ort­nah mit dem Fahr­rad erreich­bar (Und selbst das ist hier im Land­kreis Clop­pen­burg manch­mal ein anstän­di­ges Stück). Da bräuch­te man eigent­lich noch „Base­camps“ in den weit außer­halb lie­gen­den Dörfern.

Das löst auch nicht das Pro­blem, dass Kolleg*innen oft nicht beson­ders gut aus­ge­stat­tet sind. Aller­dings soll­te Zugriff auf das Inter­net, Tele­fon und einen Rech­ner hier meist gege­ben sein. Eini­ge Land­kreis­schu­len haben hier sogar Dienst-iPads für die Kolleg*innen erhal­ten. Gleich­wohl mag es an Fort­bil­dung dazu feh­len – inwie­weit ist aber gera­de jetzt erwart­bar, dass man sich mit der Mate­rie beschäf­tigt? Ich weiß es nicht …

Gele­gent­lich kommt es vor, dass beson­ders enga­gier­te Kolleg*innen jetzt Pro­ble­me bekom­men. Sie wür­den „Stan­dards“ set­zen, die für ande­re uner­füll­bar sind. Und es gibt dem­entspre­chend dann Gegen­wind von unter­schied­li­chen Seiten.

Ich glau­be nicht, dass die­se Pro­ble­me jetzt auf­tre­ten – sie wer­den jetzt nur ganz beson­ders deut­lich. Kin­der erzäh­len im All­tag wenig. Im „Fern­un­ter­richt“ sind Eltern ziem­lich unmit­tel­bar mit Kolleg*innen in Inter­ak­ti­on – oder eben auch gera­de nicht.

Ich bin bewusst nicht in der Posi­ti­on einer Schul­lei­tung. Ich den­ke, dass enga­gier­te Kolleg*innen gera­de jetzt ganz beson­ders wich­tig für Schüler*innen sind. Sie ver­die­nen m.E. Aner­ken­nung und beson­de­ren Schutz.

Die Lösung kann für mich eigent­lich nur sein, sich Arbeit soli­da­risch in Fach­teams zu tei­len. Der/die eine ist her­vor­ra­gend im Erstel­len digi­ta­ler Lern­pfa­de. Die/der ande­re hat eine hohe Kom­pe­tenz beim Kor­ri­gie­ren von Tex­ten. Wenn Stär­ken ein­zel­ner koor­di­niert zusam­men­kom­men, soll­te Ler­nen auch inner­halb eines Kol­le­gi­ums mög­lich sein. Viel­leicht bleibt ja davon sogar etwas Brauch­ba­res übrig für den All­tag nach Corona?

Das zu orga­ni­sie­ren kann in gro­ßen Schu­len nicht die Schul­lei­tung allei­ne stem­men. Ins­be­son­de­re Fach­ob­leu­te und Team­lei­tun­gen wer­den in gro­ßen Sys­te­men dabei eine Rol­le spie­len müs­sen sowie jeder ein­zel­ne mit größt­mög­li­cher Offen­heit – aber kön­nen Fach­ob­leu­te Men­schen und Kolleg*innen in ihren Arbeits­ab­läu­fen wirk­lich struk­tu­rie­ren? Woher hät­ten sie das ler­nen sollen?

Schul­lei­tung ist aber für mich ganz zen­tral, die sie allein die Struk­tu­ren für sol­che Arbeits­ab­läu­fe schaf­fen kann. Die Art der bis­he­ri­gen(!) Per­so­nal­füh­rung ent­schei­det wahr­schein­lich dar­über, was mög­lich sein wird und was nicht.

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