Schwachstellen im Schulsystem
Seit geraumer Zeit bewege ich mich mehr in einer Beobachterposition im Schulsystem. Ich habe regelmäßig Kontakt mit allen denkbaren Hierarchieebenen. Das liegt vor allem daran, dass Medienberatung massiv in Fokus gerät, seitdem „Digitalisierung“ als eines der politischen Hauptthemen in Erscheinung tritt. Zunehmend fährt man als medienpädagogische Beratung nicht mehr „unter dem Radar“, sondern ich bin mit meinen Kolleg:innen durchaus in Prozesse von landesweiter Bedeutung hier in Niedersachsen eingebunden. Dadurch dass alles gerade „ganz schnell“ gehen muss, kommt es immer wieder zu Begegnungen mit sehr grundsätzlichen Schwachstellen im System, die m.E. man eigentlich „nur“ gezielt „unter Feuer“ nehmen müsste, um Veränderungen zu beschleunigen. Als Beamter fehlt allerdings das Instrumentarium, bzw. es sollte tunlichst im Schrank bleiben, wenn die eigene Machtposition lediglich eine ideelle ist. „Unter Feuer nehmen“ ist dabei wirklich kein schöner Ausdruck, aber ein guter Spiegel so manches Wunsches, der einem manchmal kommt. Welche Schwachstellen meine ich?
Schwachstelle 1: Alle müssen unter allen Umständen ihr Gesicht wahren können
Im Schulsystem arbeiten Menschen in Leitungspositionen, die Fehler machen. Darf man das offen benennen? Einer der wesentlichen stillen Verträge schreibt m.E. ungesagt fest, dass das nicht geschehen darf. Ich kenne Schulleitungen, die versucht haben, offen damit umzugehen und erleben mussten, dass ihnen das nicht als Stärke angerechnet wurde. Es gibt „Sprachregelungen“ – durchaus auch für massives Fehlverhalten, z.B. „nicht den notwendigen Abstand zu Schüler:innen eingehalten“. Im Grunde geht es für mich dabei darum, Verantwortung zu entpersonalisieren. Auf Schul- und Schulamtsebene wird nur das reproduziert, was u.a. Presseabteilungen von Ministerien vorleben. Wenn sich etwas nicht 120%ig auf eine Regelung oder einen Erlass zurückführen lässt, gibt es äußerst selten schriftliche Auskünfte oder Gespräche in größeren Gruppen. Das gesprochene Wort genießt in Deutschland einen hohen Schutzstatus und ist relativ leicht glaubhaft im Nachhinein erinnerungstechnisch modifizierbar.
Ich bin selbst Teil dieser stillen Verträge. Materialien und Vorgaben, die ich oder meine Kolleg:innen produzieren, erscheinen „entpersonalisiert“ auf offiziellen Webseiten und sind von außen nur immens schwierig einer Person zuzuordnen. Das ist manchmal ganz angenehm, allerdings profitiere ich auch indirekt davon, was ich an anderer Stelle kritisiere. Ich kann Inhalte setzen – ganz ohne Verantwortung.
Eigentlich steckt für mich dahinter insgesamt viel Angst. Angst z.B. vor einer medialen Darstellung, die sehr verkürzt und oft „plakativ“ operiert, damit Komplexität möglichst einfach zu verstehen ist. Oder Angst, an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Diese Angst ist gerade im Beamtenstatus objektiv eigentlich völlig unbegründet (zumindest wirtschaftlich), aber auch ich muss beim öffentlichen Schreiben diese im System verankerten Ängste immer mitdenken und im Blick haben – zumute ist mir manchmal durchaus anders.
Ich arbeite in einem Umfeld, in dem mein Vorgesetzter mir bei Fehlern immer sagt: „Und Maik, haste was draus gelernt?“ – und danach wird besprochen und es geht weiter. Das passiert übrigens innerhalb des Systems. Absolut ist nichts.
Schwachstelle 2: Angst vor Öffentlichkeit
Eigentlich hängt diese Schwachstelle sehr eng mit der ersten zusammen. Im Beamtensystem ist immens stark reglementiert, wer sich zu was im System öffentlich äußern darf. Die Konsequenzen bei einer Überschreitung sind relativ deutlich. Das bekommen Journalisten zu spüren, die zitierbare Aussagen von Lehrkräften in Interviews erhalten möchten. Oft bin ich schon gefragt worden, ob ich Schulen kennen würde, die dies und jenes schon realisiert haben oder in dieser oder jener Problemstellung stecken. Natürlich versuche ich, Kontakte herzustellen, allerdings steht davor immer das Beratungsgeheimnis: Ich entscheide nicht, ob eine Schule sich zu dieser oder jener Sache äußern möchte. Ich identifiziere nicht für Journalisten Schulen, die zu dieser oder jener Fragestellung passen OHNE mir vorher die Legitimation zu holen. Und genau da wird es immer wieder schwierig: Das braucht u.U. so viel Zeit, dass Deadlines in Redaktionen dann schon längst verstrichen sind und die Sache dann im Sande verläuft. Es gibt eine unglaubliche Scheu, sich als Schulleitung öffentlich zu bestimmten Abläufen im Schulsystem zu äußern – wahrscheinlich weil die Abhängigkeiten sehr groß sind, z.B. bei der Lehrer:innenversorgung. Zu allgemeinen politischen Aussagen geht das zunehmend. Zu Herausforderungen, die „dienstintern“ auftreten, geht das nicht, da die Treuepflicht dem entgegensteht. Allerdings sitzen in Schulvorständen, in denen solche Dinge diskutiert werden, stets auch Personen, die nicht diesen Regularien unterliegen und die direkte Anfragen ohne Einhaltung des Dienstweges an die Behörde stellen könnten – was im ersten Schritt ein Gebot der Fairness wäre, bevor man nach außen geht. Dennoch: Die Angst vor Öffentlichkeit ist tief verwurzelt im Schulsystem und sie ist daher geeignet, Veränderungen zu beschleunigen.
Schwachstelle 3: Rang sticht inhaltliche Kompetenz
„Der/Die A15er:in entwirft Konzepte, der/die A14er:in setzt diese dann in der Schulgemeinschaft um!“ (Bitte nicht über die Besoldungsstufen wundern, ich komme aus einem gymnasialen System). Anders geht es anscheinend nicht. Dieses Denken ist tief verwurzelt in manchen Schulstrukturen. Als ich damals angefangen habe, konsequent nach diesem Anspruch zu arbeiten, hatte ich auf einmal viel weniger zu tun (und weniger Motivation, viel weniger Spaß sowie erstmal schlaflose Gewissensnächte). Ich war ja nur derjenige, der umsetzt. Die ganzen Transaktionskosten für unausgegorene Projekte konnte ich dann nach oben wieder abgeben. Um diesen Mechanismus auszuhebeln, muss man nur aufhören, unausgegorene Überlegungen aus Verantwortungsbewusstsein „zu retten“ und „nachzusteuern“. Man könnte die Verantwortung einfach nur dahin umleiten, wo sie hingehört, anstatt sich selbst verantwortlich zu fühlen und inhaltlich etwas bewegen zu wollen. Wenn das alle machen würden, wäre Schule viel, viel ärmer, aber die Struktur bekäme mehr und mehr Risse. Gerade das Thema Digitalisierung legt fehlende Kompetenzen recht schonungslos offen. Warum nicht die institutionell „Höherstehenden“ einfach in die Verantwortung nehmen, statt immerzu zu retten, was zu retten ist?
Und damit ist nichts einfach …
Das Spiel heißt im Grunde immer wieder „Anpassung und Widerstand“. Und es heißt auch Verantwortung und stetiges Abwägen, wenn „dienstlichen Interessen“ sinnhaftem Verhalten manchmal entgegenstehen. „Das System“ ist im Grunde nicht so stark, wie es manchmal scheint. Von innen heraus ist man als Kritiker immer sehr stark auf die Solidarität von anderen angewiesen, sonst kann es schnell zu institutionellen Machtausbrüchen und Kurzschlüssen kommen, bei denen man das Einzelner kaum bestehen kann – außer wenn „öffentliche Scheinwerfer“ das ermöglichen – aber auch dieser labile „Schutz“ ist extrem flüchtig.