Buchprojekt „Digitalisierung und Schule“ – Streiflichter
Ich entleere gerade meinen Kopf in ein LaTeX-Dokument, in dem ich in lesbarer Form meiner Erfahrung aus der Beratung von Schulträgern und Schulen zusammenfasse. Die Printrechte werden verkauft – die digitalen werden wahrscheinlich nach dem Motto „Do what you fucking want with it“ gestaltet sein. Volle DINA4-Seiten sind es momentan ca. 50 – bis zum Herbst könnte der erste Teil stehen – da geht es erstmal rund um alles Wichtige für die erste Phase des Digirtalpaktes.
Die Struktur ist nicht so ganz einfach, ebenso die Interdependenzen zwischen den Kapiteln, weil ich das Gefühl habe, dass ein Buch eher sowas wie ein Foto ist: Eine Momentaufnahme von Sichtweisen und Gedanken, während schon wieder neue Sichtweisen und Gedanken entstehen.
Zwei Bilder aus Shoshana Zuboffs „Der Plattformkapitalismus“ werfen mich gerade etwas durcheinander. Das erste Bild ist das des Beispiellosen:
Vor einigen Jahren schlug in einer stürmischen Nacht der Blitz bei uns ein, und ich er fuhr die sich jedem Verständnis sperrende Kraft des Beispiellosen am eigenen Leib. Wenige Augenblicke nach dem Einschlag schon quoll dicker schwarzer Rauch aus dem Erdgeschoß die Treppe herauf. Als wir, endlich handlungsfähig, die Feuerwehr riefen, meinte ich, ein, zwei Minuten zu haben, um noch etwas Nützliches zu tun, bevor ich mich der nach draußen geflüchteten Familie anschloß. Zuerst lief ich nach oben und schloß alle Türen, um die Zimmer vor dem Rauch zu schützen. Als Nächstes rannte ich wieder hinab ins Wohnzimmer, wo ich so viele von unseren Fotoalben zusammenraffte, wie ich nur tragen konnte, um sie auf die Veranda in Sicherheit zu bringen. Just in dem Augenblick, in dem der Rauch mich erreichte, bekam der Einsatzleiter der Feuerwehr mich an der Schulter zu fassen und zerrte mich aus dem Haus. Fassungslos standen wir im strömenden Regen, als das Haus auch schon explosionsartig in Flammen aufging.
( Aus: „Der Plattformkapitalismus“, Shoshana Zuboff, Campus-Verlag, 2018 )
Zuboff konnte die Gefährlichkeit der Situation nicht einschätzen, weil sie so etwas in ihrem Leben noch nicht erlebt hatte. Die Stärke in ihrem gesamten Buch ist für mich das Anekdotische: Sie beschreibt das Gesamtbild nie ohne es auf sich selbst als Person zu beziehen (Stepping out – Diving in, oder: Versatilität).
Für die Grundstruktur des Beispiellosen gibt es viele Beispiele – hier einige – und in der Twitter-Filterblase oft bemühte – aus dem technischen Bereich: Henry Fords Fließbandproduktion von Automobilen, die Entdeckung des Erdöls, die Erfindung des Personal Computers, AppleMusic – das alles war zum Zeitpunkt des Entstehens beispiellos für – hier – das bestehende wirtschaftliche System und das erklärt die aus eine geschichtlichen Perspektiven restrospektiv grotesken Fehleinschätzungen – teilweise sogar von den Erfindern diese Dinge selbst.
Steve Jobs wusste 100%ig nicht, was er mit dem iPhone geschaffen hatte. Google lehrt es uns heute.
Die Digitalisierung selbst ist historisch gesehen beispiellos – und zwar nicht allein im Bereich der Technologie – sondern kulturell, d.h. erhebliche Teile unseres gewohnten Lebens umfassend. Bis zu dieser Erkenntnis kommen wir. Spannend ist, welches Verhalten bzw. welche Haltung daraus folgt – ich beobachte zwei Grundhaltungen:
- Wir können noch gar nicht wissen, wo „es“ hingeht, müssen aber offen und vorurteilsfrei damit umgehen.
- Das alles ist bedrohlich für die Art unseres bisherigen Zusammenlebens, wir müssen „es“ regulieren und in Zaum halten.
Beide Haltungen gibt es nie in Reinform, sondern stets paradox gemischt: z.B. der Netzverweigerer mit der Payback- oder Kreditkarte in der Tasche.
Aber was ist dieses „Es“ eigentlich? Das führt mich zum zweiten Bild, dem Bild des Puppenspielers und der Puppe:
Unsere Anstrengungen, dem Beispiellosen zu begegnen, müssen mit der Erkenntnis beginnen, daß wir hinter dem Puppenspieler her sind und nicht hinter der Puppe. Eine erste Hürde vor einem Verständnis ist die Verwechslung des Überwachungskapitalismus mit den Technologien, derer er sich bedient. Der Überwachungskapitalismus ist keine Technologie; er ist vielmehr die Logik, die die Technologie und ihr Handeln beseelt. Der Überwachungskapitalismus ist eine Marktform, die außerhalb des digitalen Milieus unvorstellbar ist, aber sie ist nicht mit »dem Digitalen« gleichzusetzen.
( Aus: „Der Plattformkapitalismus“, Shoshana Zuboff, Campus-Verlag, 2018 )
Wir schauen oft nur die Puppe an, etwa ein Onlinespiel für Jugendliche. Wir (als Gesellschaft) beklagen z.B. dessen Suchtpotential und bewundern und beschreiben fasziniert gleichzeitig das Beispiellose hinsichtlich der Wirkung dieses Spiels auf Kultur (etwa die „Tanzcodes“, die durch Fortnite entstehen). Allen voran der Journalismus.
Und wir geraten darüber in Streit. Aber wir streiten letztlich um die Puppe. Beide oben beschriebenen Haltungen zielen allein auf die Puppe und ermöglichen dem Spieler die ungestörte Beibehaltung der Logik hinter seinem Puppenspiel.
Wir können die negativen Aspekte letztlich nur kontrollieren, wenn wir verstehen, nach welcher Logik der Puppenspieler arbeitet und wer der Puppenspieler eigentlich ist. Den Puppenspieler zu kontrollieren, kann eigentlich nur bedeuten, dessen Logik z.B. unattraktiv und eine andere dafür attraktiv zu machen. Aber wer bestimmt darüber, was gut oder böse ist?
Harter Tobak, oder? Und übrigens keine Angst vor dem Buch: Auch diese Gedanken hier sind nur eine Puppe. Aber die Logik hinter Zuboffs Gedanken fasziniert mich immens. Und die kommt ins Buch. Ich weiß nur noch nicht wie …
Solange sei euch Zuboffs Buch wärmstens empfohlen.