Tzvetan Todorov hat in der Auseinandersetzung mit Literatur aus der Epoche der Romantik (überwiegend) eine Theorie entwickelt, wie Fantastik eigentlich funktioniert. Diese Idee lässt sich auch auf moderne Texte oder Filme anwenden. In Filmen oder Texten begegnen uns fantastische Ereignisse:
Das Unheimliche
In der Matrixtrilogie wird eine Welt entworfen, die fantastisch und bedrohlich ist. Maschinen nutzen Menschen als Energiequelle und erhalten ihre Körper dadurch am Leben, dass sie ihnen eine neue Welt, eine „Matrix“ schaffen, in der sich das Leben abspielt. Diese Welt existiert nur im Geiste der Menschen, Sinnesreize werden durch Stimulation von Nerven künstlich erzeugt. Die Körper liegen tatsächlich in „Brutkästen“ und liefern biochemische Ernergie. Diese Welt nehmen die meisten Menschen als wirklich wahr. Die Matrixtrilogie ist deswegen unheimlich, weil es theoretisch denkbar ist, die dazu notwendigen Mensch-Maschineinterfaces zu bauen. Es mag mit der heutigen Technologie nicht möglich sein, aber vielleicht mit einer zukünftigen. Gleichwohl gibt es Menschen (Identifikationsfiguren) in dieser Welt, die aus ihr ausbrechen, die in die Wirklichkeit gelangen und die Brutkästen sehen.
Das Wunderbare
Der „Herr der Ringe“ – als Buch oder Kinofilm – bietet hingegen eine Welt an, die voller Zauberei und Fabelwesen ist. Teilweise sind übernatürliche, tranzendentale Kräfte am Werk. Die Existenz von Wesen wie Dämonen oder sich bewegenden Bäumen steht nicht mit den Naturgesetzen in Einklang. Die Menschen in dieser fantastischen Welt sehen diese Elemente als selbstverständlich an – der Leser weiß es natürlich besser: So etwas kann es nicht geben. Daher löst er diesen Widerspruch für sich so auf, dass er Wunderbares sieht. Das Wunderbare berührt in ganz anderer Art und Weise wie das Unheimliche.
Die Postmoderne
Viele fantastische Texte wird man mit Todorovs Theorie sehr gut in den Griff bekommen, weil der Text selbst und die Erfahrung des Lesers den Weg der individuellen Auflösung der Fantastik bestimmen. Im Text werden durch unzählige Signale Deutungshinweise gegeben. Es gibt jedoch auch Texte, die sich den Kategorien Todorovs entziehen, z.B. Christoph Ransmayrs Roman „Die letzte Welt“. Hauptansatzpunkt von Todorov ist ja, dass Leser und handelnde Figuren gleichermaßen unschlüssig sind, der Leser jedoch die Unschlüssigkeit für sich auch mit Hilfe des Textes auflösen kann. Das ist in diesem postmodernen Roman an vielen Stellen jedoch nicht erfüllt, weil er inkompatible „Unschlüssigkeitsbewältgungssignale“ sendet und damit vor allem auch den Aspekt der Wirklichkeitserfahrung von Leser und Figuren („In welchen Verhältnis stehen Fantasie und Wirklichkeit?“) vielschichtig problematisiert.
Durch die dadurch – und viele weitere Elemente, z.B. „invertierte Personifikationen“ – ausgelöste Irritation eröffnet sich für mich ein ganz anderer Blick auf „klassische Literatur“ mit den Fantastikkonzepten, wie sie mit Todorov fast immer zu knacken sind.
Wer mehr dazu erfahren möchte, dem sei der Roman selbst empfohlen wie auch eine ausgearbeitete Unterrichtsreihe von Dr. Carsten Lange. In Kombination aus beidem wird der Roman mit seinem extrem hohen Lesewiderstand (er hält sich einfach nicht an Literaturregeln…) viel besser zugänglich. Mit einem fitten Leistungskurs Deutsch lässt sich dieses Werk nach meiner Erfahrung ganz gut angehen – ich habe eine Unterrichtsreihe selbst gesehen und eine durchgeführt. Es ist natürlich ein Luxusthema, für das man sich in Zeiten zentraler Prüfungen den Raum schon schaffen muss.