Tag 9 der Familienquarantäne – Gedanken zur Epidemie
Ich wohne im Landkreis Cloppenburg. Das Infektionsgeschehen stellt sich zur Zeit bei uns so da:Die Inzidenz pendelt momentan so um die 40 Infektionen pro 100.000 Einwohner. Cloppenburg ist ein Zentrum der fleischverarbeitenden Industrie. Auch Gemüseanbau ist hier ein großer Wirtschaftszweig, wobei 1kg Gemüse ja mittlerweile mehr kostet als teilweise 1kg Fleisch.
Wir alle im Landkreis haben mit einem Ausbruch gerechnet. Mit einem Ausbruch in der Fleisch- oder Agrarindustrie. Der Ausbruch, um dessen Eindämmung sich alle hier redlich und nach bestem Wissen und Gewissen in der Verwaltung mühen, kommt aber wahrscheinlich eher aus der Mitte der Gesellschaft. Cloppenburg ist mit einem Durchschnittsalter um die 40 Jahre ein sehr junger Landkreis. Wir sehen hier gerade eine Reihe völlig komplikationsloser Infektionen unter jungen Menschen und Kindern – bzw. sehen wir sie wahrscheinlich gerade nicht in dem wirklichen Ausmaß. Dagegen helfen keine Masken und keine Abstandregelungen im öffentlichen Raum oder Schulen.
Unsere Familie hat es jetzt erwischt: Eines meiner Kinder ist vorletzten Mittwoch positiv getestet worden. Wir hätten unter normalen Umständen nicht getestet. Der Arzt hatte eine Testung zunächst abgelehnt. Trotz Kontakt mit einer Person, die positiv gestetet worden war, sind bei unserem Kind keine Symptome aufgetreten, die sich in irgendeiner Form einer COVID-19-Erkrankung zuordnen ließen. Da muss man dann schon etwas insistieren und das langjährige Vertrauen („Wenn die Rieckens kommen, dann ist da auch was!“) ausspielen.
Seit vorletzten Donnerstag sind wir als Familie offiziell, seit dem Dienstag davor in freiwilliger Quarantäne. Ich habe mich danach beim Hausarzt testen lassen, meine Frau in einem tierärztlichem Labor (Ja, das geht hier, schnell und zertifiziert) – beide Tests waren negativ. Die Umstände waren aber so, dass wir uns bei unserem Kind hätten infizieren müssen (drei Stunden Film in einem 7qm Raum ohne offenes Fenster). Es spricht also einiges dafür, dass wir beide bereits eine Infektion durchgemacht haben, die aber komplikationslos verlaufen ist. Das wäre durch einen Antikörpertest abzusichern. Vielleicht leiste ich mir selbst den – dann auch wieder nicht so aussagekräftigen – Spaß.
Das Infektionsgeschehen in unserer Familie hat wahrscheinlich einen Ausgangspunkt in einer privaten Feier mit sehr begrenzter Personenzahl. Aber das ist nicht sicher. Vieles spricht in der Rückschau dafür.
Eines ist aber ziemlich sicher: Wir als Gesellschaft wissen über das Virus und seine Ausbreitung eigentlich noch viel zu wenig. Wir wissen nichts über die Dunkelziffer, die jetzt hier in Cloppenburg in Teilen ausgeleuchtet wird.
Sicher ist auch, welche Folgen eine bestätigte Infektion innerhalb eines Jahrgangs in einer Schule hat: Der gesamte Jahrgang wird freigesetzt. Alle Schüler:innen müssen sich in ihren Haushalten in Zimmerquarantäne begeben und z.B. auch getrennt von ihrer Familie essen. Eine Testung zu Anfang dieser Quarantäne findet aus Kapazitätsgründen nicht statt. Die übrigen Familienmitglieder müssen sich lediglich von dem Kind in Quarantäne fernhalten, stehen selbst aber nicht unter Quarantäne.
Natürlich finden z.B. Reihentestungen zum Ende der Quarantäne auch bei Schüler:innen statt. Aber die bringen maximal eine Absicherung darüber, dass mit Aufnahme des Schulbetriebs ein bestimmter Personenkreis an einem bestimmten Tag nicht infektiös ist. Nach zwei Wochen kann man sich recht sicher sein, dass alle Ergebnisse negativ ausfallen.
Ein größerer Erkenntnisgewinn über das Infektionsgeschehen würde aber ein Reihentest zu Anfang einer Quarantäne bieten, weil m.E. dann deutlicher würde, wie weit die Infektion in der jüngeren Bevölkerung verbreitet ist. Positive Testungen hier würden aber weitere Dinge auslösen, z.B. Quarantäne für den gesamten Haushalt und Kontaktnachverfolgungen. Die Testkapazitäten wären wohl da, nicht aber das Personal, für das, was danach kommen könnte.
Deswegen habe ich Freunden entgegen meiner sonst doch eher nüchternen Art doch recht fatalistisch folgendes gepostet:
Das Spiel ist eigentlich verloren.
Gedreht werden kann es nur durch recht drastische Maßnahmen, die auch so ihre Folgen nach sich ziehen. Vielleicht werden das im besten Fall „Wandermaßnahmen“ – dann käme der Landkreis Cloppenburg als einer der ersten wieder aus der Nummer teilweise heraus.
Quarantäne ist ein schwerer Grundrechtseingriff, der sich zwar als Beamter mit Einfamilienhaus, Garten und funktionierendem sozialen Netz für die Grundversorgung gut aushalten lässt (selbst Baumaterial kommt hier an), aber natürlich auch wieder Schlaglichter auf Schule und Fernunterricht wirft. Sport fällt auch flach – selbst im Lockdown konnte man zumindest alleine durch den Wald toben.
Wenn meine Disziplin und Selbstbeherrschung in einer äußerst privilegierten Position Kratzer erleiden – wie mag es da anderen ergehen? Noch länger diese Maßnahmen? In der Breite der Gesellschaft? Ohne definiertes Ende?
Ich ertappe mich tatsächlich gelegentlich dabei, mittlerweile eher Richtung Durchseuchung um den Preis des Ausschlusses gefährdeter Personen vom öffentlichen Leben zu denken – quasi der „optimierte schwedische Weg“. Aber das würde wohl mit ziemlicher Sicherheit zu den italienischen Verhältnissen vom Frühjahr führen.
Was werden wir für Stimmungsbilder nach Weihnachten, nach einem weiteren halben Jahr der Einschränkungen sehen? Was lässt sich tun, um dem zu begegnen? Was kann der Anteil von uns daran sein?
Zarter Anfang:
Ich glaube, wir brauchen mehr Datenqualität, mehr Testungen zu Beginn einer Quarantäne, mehr ziviles und ehrenamtliches Engagement in der Gesundheitsämtern. Aber das ist nur ein intellektueller Anfang. Viel bedeutender ist der Blick auf die Emotionen in der Zivilgesellschaft, die sich nicht optimieren mit zunehmender Dauer von Beschränkungen.