Ich wusste es schon immer: Wir sind Mittlerfiguren, wir stehen in der Tradition des Mondes, von Hermes, der Josephsfigur aus Thomas Manns längstem – und genialstem – Roman. Wir sind Lehrer. Wer es nicht glaubt, kann es hier bei Adorno nachlesen, der wahrlich auch die Herausforderungen beim Namen nennt.
Gekommen bin ich auf den Text durch die Sendung „Lehrer aus Leidenschaft“ aus der Sendereihe „Menschen hautnah“. Die komplette Sendung kann man sich als Podcast herunterladen. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass der Redakteur bei der Auswahl der Lehrertypen und der Themen sehr oft in Schwarze trifft. Gerade durch die alleinige Untermalung durch Adornos Gedanken gewinnt diese deskriptive Dokumentation in meinen Augen ungemein.
… denn unser Wissen selbst veraltet so schnell, dass Inhalte mehr und mehr irrelevant werden. Täglich kommt so viel Wissen hinzu, dass wir einmal mehr dieses Wissen niemals beherrschen können – selbst wenn wir wollten. Deswegen müssen wir in der Schule weg von der Kultur der reinen inhaltlichen Wissensvermittlung. Wir müssen hin zu einer Kultur der Kompetenzvermittlung. Wir müssen den SuS Möglichkeiten und Methoden an die Hand geben, damit diese das Wissen der Welt selbst erschließen.Denn wir bilden heute Menschen für Berufe aus, die es in ihrer Profilierung erst noch geben wird.
Grob zusammengefasst höre ich diese Töne gerade im Kontext von Web2.0 sehr oft. Die Bezeichnung durch das Wort „Töne“ impliziert bereits meine Einstellung zu solchen Sätzen. Ich halte den Anspruch – zumindest in bestimmten Alterstufen für sehr gefährlich. Volker Pispers stellt die in meinen Augen möglichen Konsequenzen sehr überzogen und generalisierend dar, trifft aber den Kern meiner Kritik am verabsolutierten Kompetenzkonzept:
Nehmen wir einmal an, es gibt wirklich Unternehmensberater, Investmentbanker usw., die so klischeehaft handeln, wie von Volker Pispers 2004(!) dargestellt. Sie könnten nach meinem Verständnis nicht existieren ohne gewaltige Kompetenzen im kommunikativen und methodischen Bereich. Was müssten sie aber können, um nachhaltige volkswirtschaftliche Werte zu schaffen? Was müssten sie wissen, um Unternehmen erfolgreich zu beraten?
In meinen Augen müssten sie etwas über z.B. Humanismus wissen. Sie müssten etwas über Soziologie und Politik wissen. Sie müssten etwas über geschichtliche Zusammenhänge wissen. Sie müssten etwas über das Produkt der Firma und die Arbeitsbedingungen in der Firma wissen bzw. erfahren haben, was z.B. körperliche Arbeit bedeutet.
Dazu gehört für mich in Ansätzen auch technisches Know-How, das ich so oft auch im Web2.0‑Kontext vermisse. Der Ausdruck von Unwissen im Web2.0 lauten für mich: „Ich will anwenden, das muss bunt sein und die Technik dahinter interessiert mich nicht – das kann man doch nicht alles wissen!“. Dieses Wissen kann z.B. anhand von Beispielen vermitteln werden, die idealerweise prototypische Konzepte vorbereiten/implizieren. Ohne die Beispiele kann ich den prototypischen Charakter nicht abstrahieren, weil ich dazu ja Parallelen finden muss, bzw. auch parallele Beispiele. Das kann in meinen Augen kein Unterstufenschüler in dieser Absolutheit leisten. Er muss z.B. mit verschiedenen Wertesystemen konfrontiert werden – das geht zunächst nur über den Inhalt, woraus dann Kompetenzen erwachsen, die unbedingt zu reflektieren, auf einer Metaebene aufzubereiten und einzuüben sind, indem man die auf neue Sachverhalte projeziert. Das im Kompetenzumfeld entwickelte Akzeptor-/Donatorkonzept in der Chemie finde ich in dieser Beziehung ganz hervorragend.
Das was wir an Wissen nicht haben, werden wir später durch Kompetenzen nicht aufwiegen. Der reine Kompetenzmensch ist in meinen Augen der abhängige Mensch von Morgen. Wie viele Menschen sind z.B. von einer bestimmten Benutzeroberfläche eines Rechners abhängig, weil sie nicht verstehen wollen, was der Rechner für sie macht? Relevantes Wissen im IT-Bereich bedeutet das Erlernen von Konzepten – etwa der Objektorientierung – die es erlauben, jedes Schreibprogramm, welche objektorientiert arbeitet (das tun fast alle) zu bedienen. Das ermöglich mir Freiheit bei der Wahl meines Softwareanbieters. Dazu benötige ich zunächst aber Wissen um die Objektorientierung und ich brauche jemanden, der erkennt, dass die Objektorientierung relevantes Wissen darstellt. Habe ich dieses Wissen nicht, muss ich andere Leute fragen oder für eine Dienstleistung zahlen.
Kompetenzen fangen für mich immer mit dem Inhalt an – nie mit der Methode, nie mit dem Medium. Wir können nicht alles wissen. Das heißt aber nicht, dass wir kein Wissen mehr vermitteln sollten oder dass wir keines mehr brauchen. Junge Menschen wissen naturgemäß weniger oder andere Dinge über das, was man Leben nennt. Geben wir unser Wissen an die Jüngeren weiter – unser relevantes Wissen bzw. das Wissen, welches wir dafür halten.
Am vergangenen Freitag war die Bildungsexpedition bei uns zu Gast. „Expeditiert“ wurde das Streitschlichterprojekt bei uns an der Schule – mit dem ich absolut nichts zu tun habe, außer dass ich es für so bemerkenswert hielt, um einen Vorschlag meinerseits für die Bildungsexpedition zu rechtfertigen. Natürlich gibt es auch einen Film:
An dem Film gefällt mir, dass auch SuS zu Wort kommen und ihre Eindrücke schildern. Außerdem bin ich überrascht von der Qualität, an der zu sehen ist, dass ein Lutz Berger das nicht zum ersten Mal macht. An dem Gespräch haben mir die lockere und warme Atmosphäre sowie das offenkundige Interesse der Expediteure am Streitschlichterprojekt ungemein zugesagt. Ich bin übrigens der Typ mit dem Hausaufgaben-T-Shirt…
Später am Abend habe ich alle Expediteure noch beim Abendessen getroffen – nein in diesem Hotel gab es kein WLAN (gibt ja im ländlichen Bereich hier in der Gegend nur rudiementär DSL) – und mich interviewen lassen. Wer es sich anhören mag:
Mir hat es Spaß gemacht und ich habe einmal mehr wieder neue Techniken kennen gelernt (1000mikes). Alle Interviews der Bildungsexpedition gibt es hier.
PS:
Ich glaube, dass die Expediteure sich vielleicht nicht genug klarmachen, was für ein Push-Effekt gerade für SuS von Ihrer gelungenen und positiven(!) Aktion ausgeht. Das sind u.a. Referenzen, die jeder potentielle Arbeitgeber später gerne sieht. Von den Auswirkungen auf das eigene Selbst möchte ich hier gar nicht erst sprechen…
„[…] bevor es besser werden kann. Das ist bei Erkältungen ganz oft so. Erst wenn man richtiges Fieber bekommt, wird man danach so richtig gesund“ – „Ja, und bei der Figur Alex ist es doch genau so: Jetzt sind zwar alle Probleme an der Oberfläche und sie hat richtig Stress, aber das ist doch erst die Voraussetzung für ein Happyend.“
In der 7. Klasse spreche ich gerade über innere Konflikte und darüber, dass dabei oft alle zur Verfügung stehenden Optionen Konsequenzen nach sich ziehen, die schwerwiegend und keinesfalls immer positiv sind (Anm. der Redaktion: Sonst könnte man sich den inneren Konflikt literarisch auch sparen). Die von uns betrachtete Figur hatte sich in der Handlung für eine Option entschieden, die (erstmal) zu einem Scherbenhaufen führt – daraufhin kam der oben in etwa im Wortlaut wiedergegebene Einwand der Klasse.
Solche Erlebnisse und die Gewissheit an der Entstehung solcher Gedanken nicht ganz unbeteiligt zu sein, schaffen den Sinn, der trotz der oft im Vordergrund stehenden Widrigkeiten meinen Beruf schön macht. Und wenn man genau hinschaut, ist an fast jedem Tag ein bisschen davon vorhanden.
Ein Seitenhieb sei hier noch gestattet:
Ohne den Inhalt „Innerer Konflikt“ wäre dieser Gedanke in dieser Stunde undenkbar gewesen. Nicht Kompetenzen schaffen an dieser Stelle Fähigkeiten zur z.B. inhaltlichen Erschließung, sondern Inhalte schaffen Kompetenzen.