Es ist sehr spannend, mitzuverfolgen, wie die Einführung der neuen Schulform „Oberschule“ hier in Niedersachsen vor allem von außen wahrgenommen wird.
- Es gibt die Spötter, die sagen, dass es lediglich ein politisch anderer Begriff für Gesamtschule wäre, den vor allem die CDU-Landesregierung natürlich nicht in den Mund nehmen könne.
- Es gibt den Philologenverband, der natürlich dagegen wettert, weil er den Bestand kleiner Gymnasien durch die Konkurrenz durch gymnasiale Zweige an der Oberschule gefährdet sieht. Es gibt Diskussionen, ob die Bildungsqualität an einer Oberschule der eines klassischen Gymnasiums äquivalent ist.
- Und nicht zuletzt gibt es auch in unserem Landkreis kleinere Scharmützel in der Presse, denn auch hier hat eine Gemeinde die Einrichtung einer Oberschule beantragt.
Viel Aufregung – erstaunlich wenig Gesetzespapier dazu, in §10a bzw. §183a NSchG ist zu lesen:
(1) 1In der Oberschule werden Schülerinnen und Schüler des 5. bis 10. Schuljahrgangs unterrichtet. 2Die Oberschule vermittelt ihren Schülerinnen und Schülern eine grundlegende, erweiterte oder vertiefte Allgemeinbildung und ermöglicht ihnen im Sekundarbereich I den Erwerb derselben Abschlüsse wie an den in den §§ 9, 10 und 11 genannten Schulformen. 3Sie stärkt Grundfertigkeiten, selbständiges Lernen, aber auch wissenschaftspropädeutisches Arbeiten und ermöglicht ihren Schülerinnen und Schülern entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit und ihren Neigungen individuelle Schwerpunktbildungen. 4Die Schwerpunktbildung befähigt die Schülerinnen und Schüler, nach Maßgabe der Abschlüsse ihren Bildungsweg berufs‑, aber auch studienbezogen fortzusetzen. 5Der Umfang der Schwerpunktbildung richtet sich nach den organisatorischen, personellen und sächlichen Gegebenheiten der einzelnen Schule. 6Die Oberschule arbeitet eng mit berufsbildenden Schulen zusammen.
(2) 1In der Oberschule werden die Hauptschule und die Realschule als aufeinander bezogene Schulzweige geführt oder sie ist nach Schuljahrgängen gegliedert. 2Die Schule entscheidet jeweils nach Maßgabe der Sätze 3 und 4 sowie des Absatzes 3 Satz 3, in welchen Schuljahrgängen und Fächern der Unterricht jahrgangsbezogen oder schulzweigspezifisch erteilt wird. 3In der Oberschule soll ab dem 9. Schuljahrgang der schulzweigspezifische Unterricht überwiegen. 4Ist die Oberschule in Schulzweige gegliedert, so wird der Unterricht überwiegend in schulzweigspezifischen Klassenverbänden erteilt.
(3) 1Die Oberschule kann um ein gymnasiales Angebot erweitert werden.2§ 11 Abs. 1 gilt entsprechend. 3Für die Schülerinnen und Schüler des gymnasialen Angebots soll ab dem 7. Schuljahrgang und muss ab dem 9. Schuljahrgang der Unterricht überwiegend in schulzweigspezifischen Klassenverbänden erteilt werden. 4Der 10. Schuljahrgang des gymnasialen Schulzweigs ist zugleich die Einführungsphase der gymnasialen Oberstufe.
Und ein paar interessante Sonderregelungen (teilweise für die Übergangszeit) gibt es auch:
(1) 1An neu errichteten Oberschulen sind die Vorschriften für die Oberschule im ersten Schuljahr nach ihrer Errichtung nur auf den ersten Schuljahrgang anzuwenden. 2Für die übrigen Schuljahrgänge sind die Vorschriften weiter anzuwenden, die für die entsprechenden bisherigen Schulformen gelten.
(2) 1An neu errichteten Oberschulen kann die Qualifikationsphase der gymnasialen Oberstufe geführt werden, wenn bei Errichtung der Oberschule gleichzeitig eine Gesamtschule aufgehoben wird, die die Qualifikationsphase der gymnasialen Oberstufe geführt hat.2Abweichend von § 10a Abs. 1 werden dann auch Schülerinnen und Schüler des 11. und 12. Schuljahrgangs unterrichtet und es können auch alle Abschlüsse wie am Gymnasium erworben werden. 3§ 11 Abs. 3 Satz 4 und Abs. 4 bis 9 gilt entsprechend.
(3) Genehmigungen zur Errichtung von Oberschulen mit Wirkung ab 1.August 2011 können bereits vor diesem Zeitpunkt erteilt werden.
Ein wenig Übersetzung:
Die Oberschule kann bis zum Jahrgang 6 so geführt werden, dass alle SuS gemeinsam unterrichtet werden – im Prinzip halte ich das für eine kleine Renaissance unserer kürzlich abgeschafften Orientierungsstufe. Ab der 7. Klasse werden die gymnasialen SuS schrittweise abgesondert, bzw. „schulzweigspezifisch“ unterrichtet (Soll-Regelung – beamtisch fast ein „Muss“), ab der 9. Klasse ist das zwingend Vorschrift (muss – beamtisch: geht nicht anders). Es gibt also eine äußere Leistungsdifferenzierung, jedoch eine „sanftere“. In der Tat sehe ich hier so manches Element von kooperativen und integrativen Gesamtschulen realisiert, wobei es dabei durchaus Gestaltungsspielraum zu geben scheint. Das Ding darf natürlich nicht Gesamtschule heißen, da dies als 70er-Jahrebegriff vor allem für die CDU wahrscheinlich ideologisch verbrannt ist.
Wie kommt es zu den Oberschulen?
Es mag verwirren, dass „ausgerechnet die CDU“ jetzt Quasi-Gesamtschulen einführt, jedoch ist es eigentlich recht logisch. Mit der Oberschule lassen sich gerade in einem Flächenland eine Reihe von politischen und demographischen Problemen lösen. Niedersachsen wird in den nächsten Jahren einen Rückgang der Schülerzahlen erleben, der jedoch regional sehr unterschiedlich ausfallen kann. Unser Landkreis ist als katholischen Dispora in Verbindung mit zwei Nachbarkreisen immer noch ziemlich fruchtbar – allerdings noch stark getragen durch Spätaussiedler.
Was wollen die Schulträger?
Junge Familien bringen eine gewisse wirtschaftliche Dynamik in eine Region. Eine Region wird attraktiv durch eine breites und ortsnahes Bildungsangebot. Zudem laufen die Hauptschulen zurzeit schlecht – manche Zahlen behaupten, dass 70% der niedersächsischen Hauptschulen nicht mehr die gesetzlich vorgeschriebene Mindestzügigkeit aufweisen – dafür aber oft sehr kleine Lerngruppen, kleine Schulen sind teuer. Durch die Oberschule kann ich als Schulträger Schüler an einem Ort bündeln und so sogar als mittelgroße Gemeinde die Anforderungen für einen gymnasialen Zweig erfüllen – attraktiv und prestigeträchtig. Beförderungskosten für SuS spare ich natürlich auch.
Was wollen die Eltern?
Ich als Vater (gesetzt, ich wäre ein solcher) würde ungern ansehen wolle, dass mein Kind über 20km in die nächstliegende Bildungseinrichtung gekarrt wird und so Lebenszeit in vollen Bussen verliert, die oft an jeder Milchkanne halten müssen und damit langsam sind. Begrüßen würde ich auch, wenn meine Kinder in ihren gewohnten sozialen Umfeld verbleiben könnten nicht dem „Umorientierungsstress“ ausgesetzt wären. Außerdem spare ich mir vielleicht pragmatisch auch so manche Abholfahrt zum Freund im übernächsten Dorf.
Ich müsste aber auch abwägen, ob ich em Konzept einer Oberschule so sehr vertraue, dass ich sie einem weiter entferntem Gymnasium vorzöge. Da es noch keine Oberschulen gibt, habe ich noch keinen Vergleich – schwierig. Meine Entscheidung gegen die Oberschule würde ich wahrscheinlich mit einem Jahresbusticket bezahlen müssen, wenn in meiner Gemeinde an der Oberschule ein entsprechendes Schulangebot vorliegt. Ich kann mein Kind auch regulär an einem Gymnasium anmelden, das der Schulträger in zumutbarer Entfernung vorhalten muss. Natürlich stünde mir dann auch ein Busticket zu. Dächten viele mit mir so, könnte das Gymnasium noch elitärer werden.
Was wollen die Kinder?
Zuerst einmal sind Kinder keine Wähler (das war böse). Ich könnte mir vorstellen, dass Kinder auch nicht unbedingt stundenlang Bus fahren und ständig zu ihren Freunden gebracht werden wollen. Ich denke, dass Kinder durchaus die Vorteile eines ortnahen Bildungsangebots zu schätzen wissen. Ich würde auch begrüßen, dass die Lerngruppen mit einem 28er-Teiler kleiner als z.B. an einem Gymnasium sind. Verhältnisse wie in mancher Hauptschulklasse wird es hinsichtlich der Klassengröße jedoch nicht geben… In diesem einen Punkt tritt mit Sicherheit eine Verschlechterung zur bisherigen Situation ein.
Vorläufiges Fazit
Das Konzept der Oberschule ermöglicht also eine Flexibilisierung des Bildungsangebots in Niedersachsen. Mit seinem Bildungsangebot vor Ort und dem im Vergleich zum Gymnasium kleineren Klassenteiler ist es für Schulträger, Eltern und SuS bestimmt erstmal interessant.
Die Ängste
Eine gesellschaftlich nicht weiter relevante Gruppe macht sich natürlich auch Sorgen: Die Lehrer (zum Glück muss ich gesellschaftlich nicht nur in der Rolle „Lehrer“ agieren). Lehrer an einer Hauptschule sehen sich und ihre Schützlinge in einer vielleicht bisher ungewohnten 28er Lerngruppe. Mit Pech wird eine kombinierte Real-/Hautschule durch Zusammenlegung weniger Klassen haben als zwei getrennte Schulen. Das spart natürlich Personal ein, da dadurch Lehrerstunden gewonnen werden. Der umgekehrte Fall dürfte fast nur bei einem vorhandenen, gymnasialen Zweig auftreten.
Wenn ein gymnasialer Zweig angeboten wird, muss der auch durch Personal bedient werden, d.h. eventuell wird der eine oder andere Gymnasiallehrer an eine Oberschule abgeordnet werden – protestieren kann man dagegen, hat jedoch kaum ein Argument auf seiner Seite: Entweder ein Lehrer fährt oder ein ganzer Bus SuS.
Einige kleine Gymnasien fürchten um ihren Bestand, wenn in ihrem Umkreis Oberschulen mit ihren gymnasialen Zweigen SuS „abziehen“ und so die Mindestzügigkeit des betroffenen Gymnasiums unterschritten wird.
Insgesamt scheinen mir die Ängste also primär im gymnasialen Umfeld angesiedelt zu sein, bzw. halte ich diese Wahrnehmung für die öffentlich präsenteste.
Lose Gedanken
Die Bildungsreform in Hamburg wurde dadurch zu Fall gebracht, dass sich das Bildungsbürgertum ihr verweigert hat. Die Einrichtung gymnasialer Zweige in Oberschulen könnte davon abhängen, inwieweit die hiesigen „Bildungsbürger“ entscheiden. Ich brauche ja eine gewisse Mindestschülerzahl, um den gymnasialen Zweig bis zur 10. Klasse zu führen (dauerhaft über einen Zeitraum von zehn Jahren 27 ). Angesichts der zu erwartenden demographischen Entwicklung dürfte diese auch für recht große Gemeinden schwer zu erreichen sein, sobald es viele „Jahresbusfahrkartenkäufer inanspruchnehmer zum nächsten Gymnasium“ im Ort gibt. Das macht ja auch die Sekundarstufe II an einer Oberschule so brisant: Ich muss ja lt. Erlass erst das sprachliche und das naturwissenschaftliche Profil anbieten, bevor ich Dinge wie eine gesellschaftliche, künstlerische oder sportlich orientierte Profilierung realisieren kann.
Schon mit 40–50 SuS in einem Oberstufenjahrgang könnte das organisatorisch interessant werden… Da ist von der Profilierung her ein mittelgroßes Gymnasium oder ein spezialisiertes Fachgymnasium attraktiver aufgestellt.
Eine Oberstufe an einer Oberschule ist nur in Ausnahmefällen vorgesehen – wenn z.B. eine Gesamtschule mit bestehender Oberstufe in eine solche umgewandelt wird. Es braucht hier eine Mindestschülerzahl von 54 SuS in der Oberstufe. Die Probleme mit dem Profilangebot bleiben.
Vielleicht ist das der Grund dafür, das eine oder andere Bonbon für die Oberschule herauszurücken, z.B. eine sozialpädagogische Betreuung und ein eben niedrigerer Klassenteiler als am Gymnasium. Dennoch sind Oberschulen von den Privilegien her weit weniger gut ausgestattet wie eine „richtige Gesamtschule“. Dummerweise entstehen dadurch wohl kaum mehr sozialpädagogische Stellen an Oberschulen, da wahrscheinlich das bestehende Personal an Hauptschulen bei der Umwandlung schlicht übernommen wird.
Mit einem kompetenten Schulvorstand bietet die Oberschule jedoch bestimmt auch Bildungspotentiale, die in der öffentlichen Diskussion allenfalls angerissen oder pauschalisiert dargestellt werden. Vielleicht entsteht im Zuge meiner Gedanken ja eine Diskussion – ich habe ja nun recht viel deskribiert und die pädagogische Dimension fast gar nicht umrissen – das ist ohne konkrete Beispiele jedoch auch schwierig – es gibt eben noch keine Oberschulen.
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