Neues Format. Eine Gedankensammlung. Erstmal vier Geschichten.
Die erste Geschichte
Yvonne Gebauer erwirbt eine Drei-Jahres-Lizenz der Brockhaus-Onlineenzyklopädie zur Nutzung durch alle Schüler:innen in NRW. Der Spott der Onlinecommunity und einiger kritischer Journalisten ist ihr sicher.
Ich bin mir sicher, dass Frau Gebauer das maximal verwirrt: Schließlich hat sie ja nicht direkt diesen Deal eingefädelt, sondern die Vorbereitungen und die Idee dazu kommen ja aus ihrem Ministerium von Fachreferaten. Sie hat sich auf diese inhaltliche Vorarbeit verlassen, die leider an den momentanen Bedarfen geringfügig vorbeigeht. Die Mittel, die dafür eingesetzt wurden, sind höchstwahrscheinlich Mittel aus dem Digitalpakt: Ein Teil der Zuwendungen an die Länder ist für Vorhaben auf Landesebene vorgesehen.
Die zweite Geschichte
Unter vielen Journalisten gibt es ein Narrativ, dass die Digitalpaktmittel einfach nicht abgerufen werden. Die Nachfragen an die Kultusministerien türmen sich. Mich haben auch schon einige Anfragen dazu erreicht, aber meine Antworten stießen auf wenig Gegenliebe: Zu wenig plakativ, zu komplex, in der Öffentlichkeit nicht vermittelbar. Jetzt gibt es in Niedersachsen einen 10-Punkte-Plan Digitalisierung. Dieser sieht als Zielvorgabe vor, noch im Jahr 2021 mindestens 50% der Digitalpaktmittel „zu binden“. Denn: Zahlen – so wichtig!
Dass die Ursachen für den geringen Mittelabfluss ganz woanders liegen (und der Stau bzw. Knoten sich recht bald lösen wird), hätte Recherchen vorausgesetzt. Stattdessen schaut man leider im Journalismus oft gerne auf Zahlen.
Und Politik liefert diese dann, weil so das Spiel funktioniert. Ich sehe für Niedersachsen momentan eine große Gefahr, dass unter dem öffentlichen Druck das Pendel von „sinnvoller Digitalisierung von schulischen Prozessen“ stark hinüberschwingt: „Die Kohle muss raus, lass‘ mal Geräte anschaffen!“ Mit inhaltlicher und pädagogischer gelungener Arbeit ist keine Profilierung möglich. Ein schickes Foto vor dem LCD-Panel ist da viel fluffiger: Für alle Seiten: Journalisten, Politik und Schule. Und hinterher wird dann gejammert, dass man sich ja viel zu wenig Gedanken gemacht hat.
Die dritte Geschichte
Es gibt Dienstgeräte zur Ausstattung von Lehrkräften. Unter dem Begriff werden in der öffentlichen Darstellungen ganz viele Dinge in einen Topf geworfen. Das Sofortausstattungsprogramm des Bundes führt gerade nicht zur Anschaffung von Geräten, die im dienstlichen Kontext rechtssicher eingesetzt werden können. Allenfalls wird es vielerorts schulgebundene Geräte geben, die an Lehrkräfte von den Trägern „verliehen“ werden, um deren rechtskonformen Einsatz und um deren Administration sich die Lehrkräfte selbst kümmern müssen. Um das zu begreifen, muss man Förderrichtlinien lesen (und zur Verfügung haben). Letztlich bekommen diese Geräte dann den Status eines Privatgerätes, was man dann nur nicht selbst finanzieren muss. Gerade für die Zielgruppe unter den Lehrkräften, für die das interessant wäre, nämlich die bisher digital Vorsichtigen, ist der tatsächliche Nutzen dann doch eher begrenzt. Diese Diskrepanz aus öffentlicher Darstellung und schmuckloser Realität bringt mich hier an die Grenze dessen, was ich noch sachlich in der Beratertätigkeit vermitteln kann.
Die vierte Geschichte
Meine Twitteraktivitäten sind sehr begrenzt geworden, ich filtere viel und mute Dinge, die mich ggf. triggern könnten. Vor Gralshütern kann man sich auch durch diese Taktik kaum schützen. Sachlich stimmt alles, Schule ist voll reformbedürftig und Prüfungskultur muss sich ändern – kein Dissenz soweit. Aber in der pandemischen Situation nehme ich gerade andere Bedürfnisse und andere Notwendigkeiten wahr – nicht alle gefallen mir inhaltlich. Einiges lässt sich durch bestimmte Weichenstellungen in Bahnen lenken, die später eher einen offenen Entwicklungsrahmen bieten. Und es werden nicht die Menschen gehört, die inhaltlich am weitesten sind, sondern diejenigen, die die momentanen pragmatischen Notwendigkeiten am ehesten bedienen. Schon schlimm, ich weiß. Ich bin voller Bewunderung für Bücher, die zum neuen Lernen gerade entstehen. Ich könnte erst nach längerer Erfahrung über diese Dinge schreiben und weiß noch viel zu wenig über Distanzlernen oder die Gestaltung von Videokonferenzen.
Was ist das Gemeinsame an allen Geschichten?
Ich habe sehr lange gesucht, ob es irgendeinen gemeinsamen Nenner gibt. Ich glaube vorsichtig, dass der Schlüssel im Begriff der Profilierung liegt und dass Digitalthemen hier in besonderem Maße unproduktive Profilierung fördern.
Politik muss sich profilieren, was oft genug über Zahlen funktioniert. Das ist so gelernt, dass man daran letztlich gemessen wird. Manche Journalisten müssen sich profilieren, weil Digitalthemen nunmal ganz oben in der Wahrnehmung sind. Verantwortliche für Beschaffungsprozesse können sich profilieren, indem möglichst schnell mit möglichst großen Zahlen etwas beschafft wird. Beschaffungen sind dann gut, wenn sie öffentlich sichtbar sind, d.h. wenn man sich vor ihnen fotografieren lassen kann. Dann ist „die Öffentlichkeit“ zufrieden und damit auch die Politik. Mit möglichst radikalen Thesen zum Umbau des Schulsystems kann man sich profilieren und wird gehört. Das ist z.B. auch eine meiner Profilierungsansätze, das „Brain“ zu sein, zu hinterfragen, es komplex zu machen. Mit immer neuen Meta-Plattformen kann man sich profilieren und zwar bitte jede Institution immer wieder neu. Da geht es gar nicht um Inhalte, da geht es um Darreichungsformen.
Pädagogische Konzepte und pädagogische Arbeit kann man nicht fotografieren. Man braucht zudem Zeit, um sie zu verstehen. Und es braucht noch mehr Zeit, um sie zu entwickeln und in diesem Entwicklungsprozess zu lernen. Es ist diffuses Wissen in einer Region, was die eine Schule kann und die andere nicht. Der Erfolg solcher Konzepte ist ein stiller. Gefühlt sind meine Beratungen erfolgreicher, wenn ich stiller bin, mehr zuhöre, weniger plakativ auftrete, mich zurücknehme – weil ich dann besser weiß, was ich sagen oder fragen „darf“. Profilierung vergiftet inhaltliche Arbeit, sie stellt sich davor und überstrahlt mit ihrem LED-Kaltlichtscheinwerfer jedes warme Glühen. Ich erlebe es oft, dass wir Männer damit ein viel größeres Problem als Frauen haben.
Viele Lehrkräfte machen sich gerade auf den Weg und nehmen zum ersten Mal Technik in die Hand. So wie sie es tun, hat es vielleicht zunächst noch nichts mit Digitalisierung zu tun. Was nicht passieren darf ist, jetzt zusätzlich zu sagen: „Du musst es von Anfang an mit einem anderen Mindsetting daran! Die bist erwachsen und studiert!“ Pandemie + Technik + Mindset ist vielleicht – zumindest für ganz „normale“ Menschen – gerade dann doch etwas ein klein wenig zu viel.