Ich habe meinen Twitteraccount gestern nach wochenlanger Überlegung gelöscht. Ich habe diese Überlegungen nicht öffentlich gemacht, aber sie laufen im Kern auf einen Gedanken hinaus, den Jean-Pol Martin zumindest sinngemäß einmal geäußert hat: Verantwortung für sich selbst bedeutet auch, sich mit Menschen und Informationen zu umgeben, die die eigenen Bedürfnisse maximal befriedigen, um handlungsfähig und explorativ zu bleiben. Das kommt sehr schön (und augenzwinkernd!) in einem seiner Videos zum Ausdruck, in dem er u.a. seine Gedanken zum Thema Liebe äußert.
Ist Twitter jetzt keine Quelle der Bedürfnisbefriedigung für mich?
Und ob Twitter das ist. Über Twitter habe ich eine ganze Reihe von Menschen kennen gelernt, die mir sehr wichtig sind und die mir unzählige Gedanken, Texte, Links usw. zugänglich gemacht haben, auf die ich ohne sie nie Zugriff erhalten hätte. Twitter macht mir wahnsinnig viel Spaß und hat mich daher jeden Tag innerlich und äußerlich beschäftigt – aber genau das wurde auch zu einem Problem.
Welches Problem?
Ich habe private Verantwortung, ich habe berufliche Verantwortung und ja – ich habe auch noch Hobbys, z.B. dieses Blog hier. Ich habe also unzählige Quellen der Bedürfnisbefriedigung, so viele, dass ich auswählen muss. Twitter hat bei mir doch eine ganze Menge an stark fragmentierten Zeitressourcen verlangt, die dann bei anderen Quellen fehlten. Dazu kommt, dass bei Twitter die bedürfnisbefriedigenden Ereignisse, die Emergenzen einfach immer schwer „planbar“ waren – das sind sie im Leben ja auch. Twitter hat für mich immer etwas wie ein Kneipenabend. Man redet über sehr viel, man hört sehr viel, aber das Informationsdestillat – so schön und vollmundig es immer auch war – konnte für mich bald nicht mehr mit dem anderer Quellen konkurrieren. Und in die Kneipe könnte ich übrigens auch einmal öfter gehen…
Was war der endgültige Auslöser?
Das war Zoe (Name verfälscht). Ich weiß nicht, wer Zoe ist – ich vermute ein Teenager. Zoe hat mir zu einem Artikel, den ich hier geschrieben habe, zwei Fragen gestellt, die mich nochmal ganz neu über den Lehrinhalt aus dem Artikel und über den Umgang mit diesen Lehrinhalten in meinen Unterricht überhaupt haben nachdenken lassen, weil es unglaublich gute Fragen sind. Zoes Fragen werden sofort mein unterrichtliches Handeln bestimmen – und allein im Handeln liegt für mich persönlich zur Zeit die „Hauptbedürfnisbefriedigungsquelle“.
Und die ganzen Menschen auf Twitter?
Mein Feedreader ist aber sowas von aufgebohrt, dass ich hoffe, kaum einen aus den Augen zu verlieren. Fast alle führen Blogs oder sind auch noch auf andere Art und Weise im Netz zu erreichen, z.B. über die Kommentarfunktion ihrer Blogs oder bei engagiert organisierten Live-Events. Für mich waren oft die Diskussionen, die in den Blogs stattfanden, eine Quelle der Bedürfnisbefriedigung – nicht unbedingt eine bessere als Twitter, aber eine entschleunigtere – denn: Man wird ja nicht jünger :o)…
Aber der Account hätte doch bleiben können?
Nee – ganz oder gar nicht. Der Finger zuckte schon jetzt viel zu oft beim Überfahren des gelben Tweetdeck-Icons und dann wollte man eigentlich das Arbeitsblatt für morgen – aber da kam ja dann der Link auf den Artikel sowieso rein und schon dauerte eine Arbeit, die ansonsten in 30 Minuten durch gewesen wäre, locker einmal 90 Minuten. Die persönlichen Lernergebnisse in den 90 Minuten waren super, aber das Arbeitsblatt wurde oft einfach nicht fertig. Ich bin da einfach zu undiszipliniert :o)…
Aber wenn es sonst weniger wird – ist Twitter dann wieder eine Option?
Ich bin mir nicht sicher, wie lange Twitter noch geben wird. Schon jetzt tauchen andere Dienste am Horizont auf und das Web2.0‑Karussell dreht sich nunmal sehr schnell. Auf jeden Fall gibt es für jeden, der für Twitter Zeit hat, dort eine Menge zu erleben und zu lernen. Das habe ich selbst erfahren.