Die direkte Demokratie ist oft mühsam – gerade wenn es darum geht, Entscheidungen schnell zu fällen, was gelegentlich ein legitimes Anliegen sein kann. Unter „Vordemokratisierung“ verstehe ich Taktiken, um Entscheidungen, die einer demokratischen Kontrolle – etwa durch ein Gremium unterliegen – unter dem Schein eines demokratischen Ablaufes durchzusetzen. Dabei kenne ich zwei Taktiken, die ich beide schon selbst angewendet habe.
1. Schlüsselfiguren
Ich lote im Vorfeld einer wichtigen Sitzung eines Gremiums aus, wie bestimmte Schlüsselfiguren, die in diesem Gremium ein Gewicht besitzen – entweder durch eine ideelle oder institutionelle Machtposition – zu einer anstehenden Entscheidung stehen und versuche diese in meinem Sinne zu beeinflussen, sodass die eigentliche Entscheidung bereits vor der realen Sitzung gefallen ist. Dabei nutze ich aus, dass der Mensch gerne den Konsens sucht, weil die inhaltliche Auseinandersetzung mühevoll ist und gerne vermieden wird – wenn es geht.
2. Taktisches Überraschungsmoment
Ich lasse ein Gremium zunächst ziellos diskutieren und präsentiere erst gegen Ende der Sitzung eine vorbereitete Beschlussvorlage, die dann erst die eigentliche Struktur aufweist, jedoch meine eigene Position maximal umsetzt. Dabei nutze ich aus, dass der Mensch dazu neigt, zu einem schnellen Ende zu gelangen, wenn der vorangehende Prozess als ineffektiv empfunden wird. Diese Taktik ist immer dann besonders erfolgreich, wenn die Masse der Gremiumsmitglieder unvorbereitet zur Sitzung erscheint.
Beide Taktiken führen in den allermeisten Fällen zum Erfolg und sind – in meinen Augen vorgeblich – demokratisch legitimiert, weil man ja immer einen möglichst verklausulierten Antrag stellt, über den dann im Gremium (selbstverständlich demokratisch) abgestimmt wird – dann ist es ja eine Mehrheitsentscheidung. Uninformierte Gegner müssten sich bei der ersten Taktik offen gegen die Vertreter der institutionellen und ideellen Macht stellen, die ein Großteil des Gremiums eh schon in der Tasche haben. Im zweiten Fall sehen sie sich dem latenten Vorwurf ausgesetzt, dass sie die jeweilige Sitzung unnötig in die Länge zögen.
Auf der anderen Seite werden durch beide oben beschriebenen Taktiken manchmal notwendige Entscheidungen erst möglich. Als starke Führungspersönlichkeit kann ich auf diese Weise meine Vorstellungen effektiv durchsetzen, wogegen manchmal nichts zu sagen ist.
Das Plenum in solchen Sitzungen hat gegen beide Taktiken nur ein Chance, wenn es
- inhaltlich fundiert vorbereitet ist
- auf einer Metaebene erkennt, was dort gerade läuft
- am besten gut vernetzt ist (persönlich & z.B. über Social Media)
Das alles ist ausgesprochen schwierig, gerade für Berufsanfänger. In der „Demokratie 1.0“ halte ich beide Verfahren gelegentlich für notwendig, weil sich ansonsten gerade in großen Gremien Entscheidungsprozesse ewig hinziehen und das zuständige Gremium dadurch handlungsunfähig wird.
In der „Demokratie 2.0“ stehen uns jedoch z.B. über Web2.0‑Tools prinzipiell Möglichkeiten zur Verfügung, Argumente auf sehr breiter Basis innerhalb von Tagen beschleunigt auszutauschen und dadurch der Notwendigkeit einer schnellen Entscheidung verbunden mit dem Anspruch an manipulationsfreie Basisdemokratie gerecht zu werden. Beide oben skizzierten Taktiken vermitteln nämlich dem vielleicht im stillen kritischen Gremiumsmitglied ein Gefühl der Machtlosigkeit und damit auch Sinnlosigkeit seines Handelns. Dabei muss Transparenz seitens der Führung heutzutage nicht zwangsläufig zu langen Entscheidungsprozessen führen (das ist die Angst, die dahinter steht) – nicht mehr.