Herzlos

Ich habe neu­lich einen mei­ner Schü­ler zum Wei­nen gebracht. Er war in der vor­an­ge­hen­den Stun­de lei­der krank gewe­sen und hat­te einen Zet­tel daher nicht erhal­ten. Ich hat­te kei­nen mehr dabei. Als er mich frag­te, was er nun machen sol­le – er wäre schließ­lich krank gewe­sen – habe ich geant­wor­tet, dass das nicht mein Pro­blem sei, wor­auf er in Trä­nen ausbrach.

Zuge­ge­ben: Viel­leicht war ich tonal nicht voll­stän­dig ent­spannt, weil es eine Stun­de mit einem Schü­ler­ex­pe­ri­ment war, was bei rund 30 Che­mie­an­fän­gern manch­mal doch for­dernd ist. Ende vom Lied: Ich habe ihn mir nach der Stun­de gemein­sam mit zwei­en sei­ner Freun­de bei­sei­te genom­men und wir haben gemein­sam über­legt, was er selbst im Wie­der­ho­lungs­fall tun könn­te, um an den Zet­tel zu kom­men. Herzlos.

Dann bin ich – für mich eher unty­pisch – in der glei­chen Klas­se regel­recht explo­diert. Wenn die Kin­der dort ein Bedürf­nis haben – und sei es auch noch so banal – haben sie die Ange­wohn­heit, ein­fach zum Pult zu kom­men, nicht zu war­ten und sofort ihre Fra­ge zu stel­len – völ­lig egal, was ich gera­de mache. Sie suchen nicht ein­mal den Blick­kon­takt, bevor sie anfan­gen zu reden – wohl­ge­merkt, es ist eine wei­ter­füh­ren­de Schul­form: Es scheint für sie in die­sem Moment nichts Wich­ti­ge­res zu geben, als die­se eine Fra­ge. Mehr­fach habe ich in der besag­ten Stun­de mit der Klas­se dar­über gespro­chen, war­um die­ses Ver­hal­ten für mich pro­ble­ma­tisch ist. Dann kam der Aus­bruch. Ein Aus­bruch von mir hat immer ziem­li­che Fol­gen – weil er recht sel­ten vor­kommt. Herzlos.

In Klas­sen­ar­bei­ten nervt mich kolos­sal, dass es immer SuS gibt, die mei­nen zu jeder Zeit eine Fra­ge zu den Auf­ga­ben­stel­lun­gen stel­len zu müs­sen. Damit rei­ßen sie regel­mä­ßig die arbei­ten­de Mehr­heit völ­lig aus der Kon­zen­tra­ti­on. Zudem wird die glei­che Fra­ge oft mehr­fach gestellt. Ein­zel­fra­gen beant­wor­te ich nicht im Zwei­er­ge­spräch wäh­rend der Klas­sen­ar­beit, weil ich das im Sin­ne der Chan­cen­gleich­heit für die ande­ren unfair fin­de. Daher gibt es bei mir fol­gen­de Rege­lung: Zunächst gibt es eine Zeit­span­ne zum Ein­le­sen und unmit­tel­bar danach eine Fra­ge­mög­lich­keit (ca. 10 Minu­ten spä­ter, je nach Auf­ga­ben­um­fang). Spä­te­re Fra­gen beant­wor­te ich nicht mehr – auch wenn dann geweint wird. Herzlos.

Zudem schi­cke ich mei­ne eige­nen Kin­der auch bei Regen mit dem Fahr­rad zur Schu­le – oder sonn­tags in der Früh allei­ne zu Fuß zum Bäcker. Herzlos.

Ich traue mei­nen SuS etwas zu.

Ich traue ihnen zu, dass sie eige­ne Wege fin­den, um an Arbeits­ma­te­ria­li­en zu kom­men, wenn sie krank waren.

Ich traue ihnen zu, dass sie sehen, wann man jeman­den bes­ser nicht anspricht und wartet.

Ich traue ihnen zu, dass sie Wege fin­den, ihre Bedürf­nis­se und Unsi­cher­hei­ten Stück für Stück nicht affekt­ge­steu­ert, son­dern dem Kon­text ange­mes­sen zu artikulieren.

Ich traue ihnen zu, dass sie trotz klei­ne­rer Unan­nehm­lich­kei­ten erle­ben, dass sie trotz­dem etwas allei­ne schaffen.

Damit schei­ne ich weit­aus herz­lo­ser zu sein als man­che Eltern und Kol­le­gen, die für das Kind erle­di­gen, was es selbst erle­di­gen könn­te und spä­ter dann bekla­gen, dass die Kin­der so unselbst­stän­dig und unkri­tisch sind.

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Ich und mein Kontext

Lisa Rosa hat einen phä­no­me­na­len Arti­kel zum The­ma geschrie­ben, was kri­ti­sches Den­ken ist. Andre­as Kalt ist für mich die abso­lu­te Refe­renz­klas­se, wenn es um die kon­kre­te Umset­zung und Refle­xi­on von Unter­richts­sze­na­ri­en geht. Wäh­rend ich bei Lisa oft mei­ne Schwie­rig­kei­ten habe, die­sen immens hohen Anspruch an Hal­tun­gen von Lehr­kräf­ten in mei­nem Bera­tungs­all­tag zu inte­grie­ren, kann ich alles von Andre­as kom­plett unterschreiben.

Ich habe kürz­lich einen Vor­trag von Prof. Bas­ti­an zum inklu­si­ven Unter­richt gehört. Des­sen Inhal­te hät­ten mich noch vor weni­gen Jah­ren tief empört – heu­te brin­gen mich die­se Ideen so gedank­li­che Reso­nanz, dass es mir ein Anlie­gen war, die­sen Men­schen noch ein­mal per­sön­lich anzu­spre­chen. Ich bin sehr froh, dass es einen Franz Joseph Röll gibt, der vie­le Teil­ge­ben­de „mei­nes“ Schul­me­di­en­ta­ges irri­tiert hat.

Ja, und ich habe durch­aus auch enge Ver­bin­dun­gen zu Men­schen aus dem Wirt­schafts­be­reich. Es sind erstaun­li­cher­wei­se oft Men­schen, die die­se Idea­le im Her­zen mit­tra­gen, aber natür­lich auch unter einem fir­men­po­li­ti­schen Druck ste­hen, Com­pli­ances umset­zen zu müs­sen. Dahin­ter fin­det sich oft etwas ganz ande­res. Das ist der eigent­li­che Grund, war­um ich Rene Schepp­lers Enga­ge­ment gegen Lob­by­is­mus in der Schu­le zwei­schnei­dig sehe – obwohl ein Tele­fon­ge­spräch da letz­tens viel rela­ti­viert hat.

Mein Leben ist sehr voll von Auf­ga­ben. Ich habe eine sehr gro­ße Fami­lie und ver­brin­ge zur­zeit mei­ne Wochen­en­den auf der Stra­ße und in Sport­hal­len. Beruf­lich bin ich mehr und mehr in Pro­zes­se auf Lan­des­ebe­ne ein­ge­bun­den. Unser Lan­des­in­sti­tut nimmt Stel­lung zu Erlas­sen und Kern­cur­ri­cu­la im Bereich der Medi­en­bil­dung und passt gera­de den Ori­en­tie­rungs­rah­men Medi­en­bil­dung an das neue KMK-Stra­te­gie­pa­pier an. Vor Ort in mei­nem Land­kreis läuft gera­de ein struk­tu­rier­ter Medi­en­ent­wick­lungs­pro­zess (Link zeigt nur Bei­spiel) an. Par­al­lel dazu stei­ge ich immer mehr in Pro­zes­se zur Ent­wick­lung von Medi­en­bil­dungs­kon­zep­ten ein. Ach, und dann läuft noch eine Koope­ra­ti­on zwi­schen Uni­ver­si­tät, Stu­di­en­se­mi­nar und Schu­le an, die zum Ziel hat, Medi­en­bil­dung in allen Pha­sen der Leh­rer­aus­bil­dung zu verankern.

Ich kann das alles tun, weil ich mit einem Groß­teil mei­nes Stun­den­de­pu­tats nicht mehr in der Schu­le bin, son­dern beim NLQ. Trotz­dem ist das jetzt nicht so wenig, was in mei­nem Umfeld so läuft :o)… Es kom­men hau­fen­wei­se exter­ne Anfra­gen, ob wir nicht dies oder jenes auch in ande­ren Regio­nen ansto­ßen kön­nen. Das, was ich weiß, weiß ich, weil ich auf sehr unter­schied­li­chen Ebe­nen im Land unter­wegs bin.

Ich mache das nicht allei­ne, son­dern habe mich bewusst mit Men­schen und Kon­tex­ten umge­ben, die mir ein Umfeld bie­ten, in dem es sich arbei­ten lässt. Dazu zäh­len Ver­bind­lich­kei­ten, Arbeit im Team und Visio­nen. Mein Team trägt mich und macht das, was ich nicht kann – teil­wei­se ohne dass dazu expli­zi­te Abspra­chen not­wen­dig wären.

Ver­wir­rung

Ich bin auch in sozia­len Medi­en unter­wegs. Es ist mir wich­tig mit­zu­be­kom­men, wie Men­schen den­ken, wo sie ste­hen, was „die Basis“ so umtreibt, schließ­lich arbei­te ich ja für die Men­schen an den Schu­len. Ich fin­de dort zuneh­mend weni­ger das wie­der, was mir in die­sem „Real­li­fe“ wich­tig ist: Die gemein­sa­me Arbeit, auch wenn man im Detail durch­aus ande­rer Mei­nung sein kann.

Ich habe Grenzen.

Ich habe zuneh­mend Angst, über die­se Gren­zen öffent­lich zu sprechen.

Mir scheint, dass es zuneh­mend Men­schen gibt, die in Bezug auf Ler­nen in Zei­ten der Digi­ta­li­sie­rung die Weis­heit mit Löf­feln gefres­sen haben, weil sie Gerä­te, Apps und Tools ein­set­zen, die ande­re Lehr­kräf­te nicht einsetzen.

Viel­leicht kann ich mich noch ruhig zurück­leh­nen, in den Arro­ganz­mo­dus schal­ten, wohl­wis­send dass Selbst­ver­mark­tung – auch von gan­zen Schu­len – und päd­ago­gi­sche Wirk­lich­keit oft inter­es­san­te Dif­fe­ren­zen auf­wei­sen und sich die ver­meint­li­che Moder­ni­tät dann oft genug nicht in umge­setz­ten Kon­zep­ten, son­dern gebun­den an weni­ge Per­so­nen darstellt.

Jemand, der neu­gie­rig ist und viel­leicht erst ers­te Schrit­te geht, wird dar­aus ggf. ande­re Kon­se­quen­zen zie­hen – auch aus dem aus mei­ner Sicht zuneh­mend gewöh­nungs­be­dürf­ti­gen Umgang mit­ein­an­der – das #edchat­de-Deba­kel ist ja nur eine Aus­prä­gung davon.

Ich konn­te all das, was ich heu­te ver­meint­lich kann, nicht sofort. Das brauch­te alles viel Zeit – Zeit, die wir ande­ren Men­schen auch zuge­ste­hen sollten.

Tei­le mei­ner digi­ta­len Geschichte

Mei­ne ers­te Begeg­nung mit dem Ler­nen unter Ein­satz von digi­ta­len Tools war Mood­le. Mood­le war „damals“ in Deutsch­land noch sehr unbe­kannt. Es gab eini­ge Gleich­ge­sinn­te, mit denen ich mich auf den Weg gemacht habe, die­ses Tool zu erfor­schen und für den Unter­richt aus­zu­lo­ten. Dar­aus ist ein Ver­ein ent­stan­den, den es bis heu­te gibt. Wir waren von die­sem Tool so über­zeugt, dass wir sogar Schu­len kos­ten­lo­se Instan­zen zur Ver­fü­gung gestellt haben. Ich war für die Tech­nik ver­ant­wort­lich und hat­te sogar eine kom­plet­te Ober­flä­che für die Instal­la­ti­on, das Update und das Rever­se-Pro­xy­ing meh­re­rer Instan­zen ent­wi­ckelt, die auf einer Code­ba­sis lie­fen. Sogar unser schon damals völ­lig ver­al­te­tes Schul­netz, basie­rend auf Arktur4 mit LDAP hat­te ich schon dar­an­ge­bas­telt. Eines mei­ner Pro­jek­te mit Mood­le hat­te ich als Wett­be­werbs­bei­trag (schön mit LaTeX durch­ge­stylt)  ein­ge­reicht, um dann gegen ein E‑Mail-Brief­freund­schafts­pro­jekt zu ver­lie­ren – Mood­le war sei­ner Zeit damals dann doch etwas voraus.

Das mit dem Ver­ein ging für mich recht unschön zu Ende – es gab im mensch­li­chen Bereich zuneh­mend Schwie­rig­kei­ten – mei­ne Ansprü­che an Zusam­men­ar­beit waren ein­fach auch recht hoch. Heu­te ent­wick­le ich wie­der einen Mood­le­kurs zum The­ma Netz­werk­tech­nik für ange­hen­de Medi­en­be­ra­ter am NLQ. Mei­ne Kri­tik an Lern­platt­for­men bleibt davon unbehelligt.

Die­se Erfah­rung hat mich trot­zig im dem Sin­ne gemacht, dass ich von nun an etwas zei­gen woll­te: Eine Ein­zel­per­son kriegt inhalt­lich mehr auf die Ket­te als ein Ver­eins­team. Das glau­be ich heu­te zwar nicht mehr, aber riecken.de ist letzt­end­lich das Ergeb­nis die­ser Trotz­pha­se. Mit über 700 Arti­keln ist die­ses Blog mitt­ler­wei­le zu einer recht fes­ten Anlauf­stel­le bei ver­schie­de­nen The­men gewor­den. Den meis­ten „Umsatz“ mache ich übri­gens mit Dik­tat­tex­ten – völ­lig kon­trär zu den von mir sonst pro­pa­gier­ten Thesen.

Wäh­rend­des­sen kam die LdL-Bewe­gung mit Jean-Paul-Mar­tin. Auf einem Tref­fen in Lud­wigs­burg fiel mein Name öffent­lich in einem vol­len Hör­saal. Die­se Art von Wahr­neh­mung kann­te bis­her ich nicht. Auf ein­mal waren da Men­schen um mich, die einen ähn­li­chen Blick auf Schu­le hat­ten wie ich. Die meis­ten blogg­ten, eigent­lich glau­be ich, dass in der Zeit sogar der Ursprung der Blog­be­we­gung liegt. Wir dis­ku­tier­ten in Blogs und nicht auf Twit­ter, ver­link­ten uns gegen­zei­tig. Auf Edu­camps traf man sich und ich fühl­te mich dort wie auf einem ande­ren Stern, obwohl dort Lebens­kon­zep­te auf­ein­an­der­tra­fen, die unter­schied­li­cher nicht hät­ten sein kön­nen – allein die Bar­camp­me­tho­de, Twit­ter mit Ulf Blan­ke, ohne den ich heu­te nicht Medi­en­be­ra­ter wäre usw.

Ich kom­me mir jetzt oft schon vor wie der Groß­va­ter in der Wer­bung für Wert­hers Ech­te.

Och Leu­te …

Wor­auf ich hin­aus­will: Dass ich heu­te am NLQ ein- und aus­ge­he, dass ich neu­lich mei­nen ers­ten Ter­min am Kul­tus­mi­nis­te­ri­um hat­te, dass ich mich heu­te vor Anfra­gen von Schu­len kaum ret­ten kann, dass ich Din­ge wie die­ses Pam­phlet hier schrei­be, das ist das Ergeb­nis eines jah­re­lan­gen Pro­zes­ses, der streng­ge­nom­men schon weit frü­her in der evan­ge­li­schen Jugend­ar­beit begon­nen hat.

Ich habe die­sen Back­ground, aber immer noch die Hose voll, wenn ich Schul­trä­ger und Schu­len bei Din­gen wie der Medi­en­ent­wick­lungs­pla­nung oder bei dem Pro­zess der Erstel­lung eines Medi­en­bil­dungs­kon­zep­tes beglei­te. Ich schei­te­re dabei sehr oft, am aller­meis­ten an mei­ner eige­nen Schu­le – weil das – geben wir es doch end­lich mal zu – noch kaum jemand bis­her gemacht hat.

Wenn ich eines über die Jah­re gelernt habe, dann dieses:

Als ein­fa­che Lehr­kraft wer­den wir unse­re Schu­len nicht in Lern­or­te der Zukunft trans­for­mie­ren, schon gar nicht unse­re eige­nen. Das vie­le poten­ti­el­le Geld, was momen­tan her­um­schwirrt, die Bil­dungs­cloud­idee usw. – das kann alles auch ganz anders enden. Es geht eben nicht nur um „unse­re Schu­le“, son­dern um eini­ges mehr. Wer in sei­ner Sicht beschränkt auf sei­ne Schu­le bleibt, wird es m.E. sehr schwer haben, sich den momen­tan wirk­sa­men Kräf­ten aus z.B. der Wirt­schaft zu wider­set­zen. Die hat Lob­by­is­ten und Ein­flüs­te­rer – wir nicht. Wir müs­sen zuneh­mend poli­tisch und in grö­ße­ren Zusam­men­hän­gen den­ken. Dabei wer­den wir auf mas­si­ve Gren­zen sto­ßen, die nicht ohne die Poten­tia­le von Ver­net­zung und Arbeit im Team über­wun­den wer­den können.

Über die Gren­zen müs­sen wir offen spre­chen kön­nen. Nicht so wie es jetzt oft geschieht. In die­sem „Real­li­fe“ habe ich für mich ein Team und Ver­net­zungs­mög­lich­kei­ten gefun­den. Ich wür­de ger­ne einen mehr oder weni­ger öffent­li­chen Ort fin­den, an dem ich über Gren­zen spre­chen kann. Das geht nicht, wenn ich befürch­ten muss, dass jeder Post über den den „Highest-SAMR“-Level oder die anzu­stre­ben­den Uto­pi­a­ge­sell­schaft gezo­gen wird.

Wenn mir als Wert­her-Groß­va­ter das so geht – wie muss es dann denen gehen, die gera­de erst anfan­gen und die­se oder eine ganz ande­re Ent­wick­lung noch vor sich haben?

Pflichtfach Informatik? Ein Streitgespräch.

Informatikunterricht? Muss das sein..!?

Immer wie­der tobt eine Debat­te über ver­pflich­ten­den Infor­ma­tik­un­ter­richt – Rea­li­tät ist er aber nur in drei Bun­des­län­dern. Ver­passt Deutsch­land beim Com­pu­ter­un­ter­richt eine gro­ße Chan­ce? Was ist eigent­lich zeit­ge­mä­ßer Infor­ma­tik­un­ter­richt und… braucht man Pro­gram­mie­ren wirk­lich? Maik Riecken und Jan-Mar­tin Klin­ge streiten.

Klin­ge: Maik, du schreibst auf dei­nem Blog, dass du die Fächer Deutsch und Che­mie an einem Gym­na­si­um in Nie­der­sa­chen unter­rich­test. Was hast du mit Infor­ma­tik zu tun?

Riecken: Nichts For­ma­les, d.h. ich habe weder eine Fakul­tas dafür oder noch irgend­ei­nen „offi­zi­el­len“ Kurs auf der Uni dazu besucht. Mit 14 Jah­ren habe ich mei­nen ers­ten Com­pu­ter bekom­men – einen Amiga500. Dar­auf habe ich eigent­lich fast nur gedad­delt, aber auch ers­te Geh­ver­su­che mit Ami­ga­Ba­sic gemacht. Das war schon was, weil man sogar eine GUI mit Maus hat­te und mit Ami­ga­Ba­sic pro­gram­mie­ren konn­te. Spä­ter habe ich dann sogar Din­ge in Assem­bler ver­sucht – ange­regt durch die damals schon sehr akti­ve „Demo­sze­ne“ und die Begrenzt­heit der Hard­ware – aller­dings habe ich es nie geschafft, mei­nem Kum­pel das ver­spro­che­ne Intro zu pro­gram­mie­ren – das ist heu­te noch so ein geflü­gel­ter Spruch zwi­schen uns: „Maik, wo bleibt mein Intro?“ In Kiel gab es spä­ter zu PC-Zei­ten dann eine Keim­zel­le der deut­schen Linux­sze­ne mit einem monat­li­chen Stamm­tisch – von da an ging es ab mit Ser­ver­diens­ten, Shell­script, MyS­QL usw.

Klin­ge: Assem­bler? Shell­script..?! Ich ver­ste­he nur die Hälf­te. Aber der spie­le­ri­sche Aspekt ist mir geläu­fig: Mit mei­nen Freun­den haben wir in den 90ern Com­pu­ter­spie­le mit­tels HEX-Edi­tor zer­legt und ver­än­dert. Wir sahen den Matrix-Code schon lan­ge vor dem Film – aber das war alles Frei­zeit und Spiel. Ist Infor­ma­tik an dei­ner Schu­le ein Pflichtfach?

Riecken: Nein. Schü­le­rin­nen und Schü­ler kön­nen das Fach in der Klas­se 10 bele­gen, wenn sie in der 11. Klas­se eine Natur­wis­sen­schaft durch Infor­ma­tik erset­zen wol­len. Dann müs­sen sie dort min­des­tens ein hal­bes Jahr „durch­hal­ten“. In Nie­der­sach­sen kann jeder Leh­rer bis zur Jahr­gangs­stu­fe zehn qua Amt alles unter­rich­ten – ich z.B. Infor­ma­tik. Da schließt sich dann der Kreis.

Klin­ge: Nun, dann sehe ich mich in der Posi­ti­on vie­ler Eltern oder auch fach­frem­der Kol­le­gen: Wenn ich an mei­nen eige­nen Infor­ma­tik­un­ter­richt den­ke, erin­ne­re ich mich an dunk­le Com­pu­ter­räu­me und ers­te Pro­gram­mier­ver­su­che in qba­sic. Mal ehr­lich – nichts, was ich da gelernt habe, hat mir je gehol­fen. Das war Zeit tot­schla­gen. Für mich ist Infor­ma­tik­un­ter­richt überflüssig.

Riecken: Bei mir war es tech­no­lo­gisch noch stein­zeit­li­cher. Ich habe auf einem Apple II gelernt – mit Bern­stein­mo­ni­tor. Ich mei­ne, das war Pas­cal oder auch ein Basicdia­lekt. Es war aber eine unglaub­li­che Fas­zi­na­ti­on zu spü­ren – und ein Pio­nier­geist. Text­ad­ven­tures selbst gestal­ten, Nadel­dru­cker ansteu­ern, Flop­py­disks orga­ni­sie­ren (die Flop­py ist heu­te immer noch das Sym­bol zum Spei­chern in den meis­ten Anwendungen).

Klin­ge: Schaue ich mir mei­ne zwei­jäh­ri­ge Toch­ter an, dann kann sie auf dem Tablet die Dis­play­sper­re über­win­den, ver­schie­de­ne Apps star­ten und in ihrem Lieb­lings­spiel, Dora Explo­rer, Puz­zle lösen, malen und mit den Figu­ren inter­agie­ren. Ich habe in dem Alter Sand geges­sen. Oder Erde. An guten Tagen beides.
Ich will damit sagen, dass Kin­der heu­te von früh auf mit Tech­no­lo­gie umzu­ge­hen ler­nen – wozu braucht es da Informatikunterricht?

Riecken: Dann erschließt sich dei­ne Toch­ter ihre Welt in die­sem Bereich medi­al ver­mit­telt. Sie lernt Inter­faces zu bedie­nen, aber eigent­lich nichts über Tech­nik dabei. Da zudem auf Wisch­ge­rä­ten vie­les leicht ist – selbst krea­tiv sein kann man da „ganz ein­fach“ (im Rah­men des­sen, was der jewei­li­ge Pro­gram­mie­rer unter Krea­ti­vi­tät ver­steht), kann die hap­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit der Welt dage­gen ger­ne schon­mal als mühe­voll erlebt wer­den. Es hängt sehr stark vom Eltern­haus ab, ob die Wisch­ge­rä­te als „Shut-up-Toy“ ein­ge­setzt wer­den, oder ob ein Aus­gleich geschaf­fen wird und Kin­der auch erle­ben dür­fen, dass sie anders­wo schei­tern und immer neue Stra­te­gien ent­wi­ckeln müs­sen. Kin­der erfah­ren die Welt mit ihren Sin­nen. Gerä­te spre­chen immer nur einen Aus­schnitt der Sin­ne an.

Klin­ge: Nun, mei­ne Infor­ma­tik­erfah­run­gen sind offen­sicht­lich anti­quiert – was beinhal­tet das Fach heutzutage?

Riecken: Ich sage immer, dass Infor­ma­tik das ein­zi­ge Fach ist, bei denen ich Schü­le­rin­nen und Schü­ler beim Den­ken bzw. Ihren Denk­schrit­ten zuschau­en kann. Eigent­lich geht es im Kern oft dar­um, ein Pro­blem in hand­hab­ba­re Teil­pro­ble­me zu zer­le­gen. Ich habe in die­sem Jahr mit mei­nen Schü­lern (sor­ry, war ein rei­ner Jun­gen­kurs) viel zum The­ma Pass­wort­ver­schlüs­se­lung gemacht. Auf­hän­ger waren die unzäh­li­gen gestoh­le­nen Pass­wort­da­ten­ban­ken im letz­ten Jahr (Yahoo, Lin­ke­dIn etc.). Die Schü­ler wis­sen jetzt z.B. war­um ein Pass­wort eine gewis­se Län­ge und Kom­ple­xi­tät haben soll­te und dass eine siche­re Pass­wort­spei­che­rung unmög­lich ist, son­dern allen­falls eine, die Angrif­fen eine zeit­lang stand­hält. Dann kann man noch dar­über sin­nie­ren, war­um selbst gro­ße Inter­net­fir­men die Grund­re­geln bei der Pass­wort­spei­che­rung nicht befol­gen usw. – und schon ist man ganz schnell bei betriebs­wirt­schaft­li­chen oder gar ethi­schen Fra­gen. Rei­ne Medi­en­kom­pe­tenz­ver­mitt­lung ohne infor­ma­ti­schen Hin­ter­grund ist in die­sem Feld eine rei­ne Black­box: „Mach dein Pass­wort lang und kom­plex!“ „Häh? War­um? Unbe­quem. Gibt doch ’ne App!“

Klin­ge: Umge­kehrt begeg­nen mir in der Schu­le oft Jugend­li­che, die mit 13 Jah­ren noch den Ein- und Aus­schal­ter am Com­pu­ter suchen und über­haupt kei­ne Erfah­rung mit einem sta­tio­nä­ren Com­pu­ter haben. Die­sen Kin­dern fehlt jede Grund­la­ge – ihnen Pro­gram­mie­ren bei­zu­brin­gen scheint her­aus­for­dernd – die müs­sen doch eher ler­nen, mit Office Pro­gram­men umzu­ge­hen. Die bräuch­ten eher einen Schreib­ma­schi­nen-Kurs. Wie begeg­nest du die­sem Spagat?

Riecken: Da gibt es heu­te ganz tol­le Ansät­ze – das Pro­blem haben wir ja nicht nur in Deutsch­land. „Unplug­ged“ begin­nen, über Kli­ckibun­ti (z.B. auf code.org) Grund­kon­zep­te erler­nen und dann erst­mal qua­si per „Online-App“ ers­te For­ma­li­sie­run­gen machen. Dafür braucht es anfangs nur einen Brow­ser und die Datei­en fin­den sich auch immer wie­der an, da die App alles erle­digt. Dann Schritt für Schritt Rich­tung Datei­sys­tem und Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on gehen, bevor man dann kom­ple­xe­re Din­ge anfasst – meist aber eher sowas wie die Steue­rung von Model­len oder Robo­tern – dann sieht man auch einen Effekt sei­ner Code­zei­len. Im Zusam­men­spiel von Mecha­nik und Soft­ware braucht man dann Feh­ler­such­stra­te­gien, die bei man­chen Pro­gram­mier­an­sät­zen bes­ser als bei ande­ren grei­fen. So ent­ste­hen nach und nach sehr viel­fäl­ti­ge Anfor­de­rungs- und Arbeitsszenarien.
Die Idee, dass Infor­ma­tik etwas mit Tech­no­lo­gie zu tun hat, hal­te ich für falsch. Es gibt genug Bei­spie­le dafür, dass Infor­ma­tik­un­ter­richt voll­kom­men ohne Tech­no­lo­gie („unplug­ged“) funk­tio­nie­ren kann, etwa wenn ich die Lern­grup­pe Ideen ent­wi­ckeln las­se, mit wel­chen Stra­te­gien Men­schen z.B. nach der Grö­ße sor­tiert wer­den kön­nen. „Pro­gram­mie­ren“ heißt dann schlicht „nur“, die­se Stra­te­gie zu for­ma­li­sie­ren – ein­fach in ganz nor­ma­ler Spra­che, spä­ter in for­ma­li­sier­ter – das hilft sogar spä­ter beim Deutsch­auf­satz. Aber im Kern geht es gar nicht dar­um, son­dern um die Kon­zep­te, die z.B. einen Taschen­rech­ner funk­tio­nie­ren lassen.

Klin­ge: Nun, das klingt sicher für den ein oder ande­ren span­nend – aber letzt­lich haben doch wenig Schü­ler ein Inter­es­se dar­an, eine wei­te­re Fremd­spra­che zu ler­nen: Ob das jetzt fran­zö­sisch ist oder Java oder die Grund­la­gen von Pro­gram­men. Als Leh­rer lei­de ich jetzt schon unter dem vol­len Plan und der weni­gen Zeit. Ein wei­te­res Fach… Die Kin­der haben doch kei­ne Zeit mehr Kin­der zu sein.

Riecken: Infor­ma­tik ist kei­ne Spra­che. Infor­ma­tik ist nicht Pro­gram­mie­ren! Wenn wir den Bogen da kon­se­quent wei­ter span­nen: Was ist denn mit Fächern wie Mathe, Che­mie, Latein? Las­sen wir uns als Gesell­schaft davon lei­ten, ob aus­rei­chend vie­le Schü­le­rin­nen und Schü­ler Inter­es­se dafür auf­brin­gen (wol­len) oder ob Lehr­kräf­te dar­un­ter lei­den? Gera­de Latein – die­ses tote Ding? Ich glau­be, dass sehr vie­le Schü­le­rin­nen und Schü­ler unter die­sen Fächern durch­aus lei­den. Trotz­dem dis­ku­tie­ren wir nicht über deren Abschaf­fung, oder ob die­se Fächer frei gewählt wer­den dür­fen. Wenn es damals nach mir gegan­gen wäre, hät­te ich Eng­lisch sofort abge­wählt. Heu­te ist die­se Spra­che für mich unglaub­lich wich­tig gewor­den. Latein hin­ge­gen hat für mich nur eine sehr gerin­ge Bedeu­tung. Ich weiß, dass man mir unter­stel­len wird, mich für einen Kanon ein­zu­set­zen, das neue Ler­nen nicht ver­stan­den zu haben. Wenn ich heu­te in die Welt schaue, sehe ich kaum Beru­fe, die ohne digi­ta­le Kom­pe­ten­zen sinn­voll län­ge­re Zeit aus­zu­üben sind. Ich sehe wei­ter­ge­hend digi­ta­li­sier­te Zah­lungs­vor­gän­ge, weit­ge­hend digi­ta­li­sier­te Ver­wal­tungs­pro­zes­se – auch in Deutsch­land – allen Unken­ru­fen zum Trotz. Ich lese Aus­sa­gen von schlau­en Leu­ten in schlau­en Feuil­le­tons und den­ke oft genug: „Was für ein Depp!“ – auf Anwen­der­ebe­ne mag man wohl auf einen recht ober­fläch­li­chen Niveau Din­ge kom­men­tie­ren und wer­ten kön­nen – eine Ahnung von den tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten ist oft nicht ein­mal in Sicht ohne Grund­la­gen der Daten­ver­ar­bei­tung zu kennen.

Klin­ge: Hast du ein kon­kre­tes Beispiel?

Riecken: Das smar­te Haus ist ein Para­de­bei­spiel für mich. Ein Haus ist ja etwas, in dem man län­ger lebt. Es gibt zur­zeit unzäh­li­ge Gad­gets und Spiel­zeu­ge, um das Leben in Eigen­heim beque­mer zu machen: Elek­tro­ni­sche Schließ­sys­te­me, Hei­zungs­re­ge­lun­gen, Beleuch­tungs­ar­ti­kel, schalt­ba­re Steck­do­sen, Alarm­an­la­gen etc.. Das Wenigs­te ist zuein­an­der kom­pa­ti­bel (oder man benö­tigt spe­zi­el­le Zwi­schen­ge­rä­te, die doch wie­der eine Men­ge Wis­sen erfor­dern) und kaum eine Lösung ist so lang­le­big, dass Updates der Firm­ware auch über län­ge­re Zeit gewähr­leis­tet wären. Damit ist das Haus oft in kür­zes­ter Zeit ohne Zutun des Besit­zers mani­pu­lier­bar. Die Alter­na­ti­ve ist, sich immer wie­der neue Gad­gets mit den immer wie­der glei­chen Pro­ble­men zu kau­fen oder von Anfang an auf Sys­te­me zu set­zen, die auf dem ers­ten Blick viel mehr kos­ten, auf lan­ge Sicht jedoch sowohl soft­ware­tech­nisch als auch kon­zep­tio­nell und von Zusam­men­spiel der Kom­po­nen­ten her über­zeu­gen. Mit infor­ma­ti­scher Bil­dung wüss­te man in Grund­zü­gen, wie ein Pro­dukt, wel­ches mög­lichst lan­ge ein­ge­setzt wer­den soll, prin­zi­pi­ell desi­gned sein soll­te (bei Hand­werks­zeug und Mes­sern weiß man das ja im Prin­zip auch). Und man wüss­te, was „kos­ten­ef­fek­tiv“ ist und was inner­halb weni­ger Mona­te auf irgend­ei­ner Müll­hal­de in Afri­ka lan­den wird – weil z.B. die zuge­hö­ri­ge App für das neue Smart­phone nicht mehr ent­wi­ckelt wird.

Klin­ge: Ich muss geste­hen: Das kann ich kom­plett nachvollziehen.

Riecken: Und, klar kann ich die Welt ein­fach so benut­zen – auch ohne Bio­lo­gie, ohne Che­mie oder Phy­sik und Mathe. Aber irgend­was fehlt dann viel­leicht. Und ein recht neu­er Teil von Welt scheint mir dann doch der digi­ta­le Raum zu sein. Infor­ma­tik ist die Grund­la­gen­wis­sen­schaft die­ses Rau­mes. Kom­men nicht vie­le poli­ti­sche Regu­lie­rungs­lü­cken auch durch Unwis­sen und sehr leich­te Beein­fluss­bar­keit der Verantwortlichen?

Klin­ge: Auch das kann ich nach­voll­zie­hen. Umge­kehrt drängt die Wirt­schaft dar­auf, ein gleich­na­mi­ges Fach ver­pflich­tend über­all ein­zu­bin­den. SoWi, Erd­kun­de.. es gibt einen gewal­ti­gen Fun­dus an Din­gen, die wir unse­re Kin­der ger­ne leh­ren möch­ten. Wo soll man da beschneiden?

Riecken: Wie haben wir als Gesell­schaft eigent­lich „ent­schie­den“, was wir in Deutsch oder Geschich­te „leh­ren“? Auch dar­über lässt sich treff­lich strei­ten. In der Tat ist es ein immenses Pro­blem, wenn die Wirt­schaft Inhal­te infor­ma­ti­scher Bil­dung bestimmt. Im Fal­le von Infor­ma­tik hat die­ses „Drän­gen der Wirt­schaft“ des­we­gen einen Geschmack, weil wir Ein­fluss­nah­me ver­mu­ten und gleich­zei­tig oft­mals kei­ne Ideen haben, was denn da gelehrt wer­den soll – denn das wür­de infor­ma­ti­sche Kom­pe­ten­zen eben­so erfor­dern wie medi­en­ethi­sche Fra­ge­stel­lun­gen – Phy­sik­un­ter­richt über Atom­ener­gie dürf­te in den 70ern anders aus­ge­se­hen haben als heu­te. Der che­mi­schen Indus­trie wer­fen wir das Fach Che­mie auch nicht vor, eben weil es da Stra­te­gien gibt, lob­by­is­ti­sche Ten­den­zen mehr oder weni­ger effek­tiv zu kom­pen­sie­ren. Mit rei­nem Anwen­der­wis­sen wird das im Bereich Infor­ma­tik eher weni­ger gut klap­pen. Ich hal­te es da mit Gün­ter Dueck: „Man muss nicht über­le­gen, was man für Infor­ma­tik denn weg­strei­chen soll­te – das muss man eben auch noch machen!“ Weil die Welt sich eben dahin­ge­hend ändert, dass sie kom­ple­xer und digi­ta­ler wird.

Klin­ge: Ganz kon­kret: Fin­dest du, alle Schü­ler soll­ten grund­sätz­lich Infor­ma­tik­un­ter­richt erhalten?

Riecken: Ja.

Klin­ge: War­um?

Riecken: Weil zukünf­tig Din­ge wie Teil­ha­be, Sou­ve­rä­ni­tät und neu­tra­le Infor­ma­ti­ons­be­schaf­fung immer mehr von infor­ma­ti­schen Kom­pe­ten­zen abhän­gig sein wer­den. Ich hät­te aber auch kein Pro­blem damit, wenn das nicht so kommt. Dann wechs­le ich halt die Sei­ten und ver­die­ne ganz viel Geld mit der infor­ma­ti­schen Unmün­dig­keit gro­ßer Tei­le der Gesell­schaft. Ange­sichts der Ent­wick­lung der Alters­vor­sor­ge auch kei­ne schlech­te Per­spek­ti­ve :o)…

Klin­ge: Nun, zumin­dest mein Bild von Infor­ma­tik­un­ter­richt ist nun nicht mehr so anti­quiert wie vor­her! Mir fällt nichts kri­ti­sches mehr ein, aber viel­leicht mag der ein oder ande­re Leser sich in den Kom­men­ta­ren noch dazu äußern – ich dan­ke dir erst­mal für die­ses Gespräch!

Eine medienpädagogische Kurzgeschichte

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Zuneh­mend wird davon gere­det, Medi­en­bil­dung mit in ein­zel­ne Fächer zu inte­grie­ren. Die­ser Anspruch wirft oft Fra­gen auf, wie das bei all dem sons­ti­gen Pen­sum über­haupt noch zu schaf­fen sei.

Ich möch­te heu­te ein Bei­spiel prä­sen­tie­ren, dass zeigt, wie wenig zusätz­li­che Arbeit not­wen­dig ist, um die­ses Ziel zu errei­chen. Bewusst knüp­fe ich dabei an Metho­den und didak­ti­sche Ansät­ze an, die vie­len Lehr­kräf­ten mit dem Fach Deutsch bekannt sein sollten.

Die Skiz­ze berührt fol­gen­de Kom­pe­tenz­be­rei­che des neu­en KMK-Stra­te­gie­pa­piers:

  1. Suchen, ver­ar­bei­ten und aufbewahren
  2. Pro­du­zie­ren und Präsentieren
  3. Schüt­zen und sicher agieren
  4. Ana­ly­sie­ren und reflektieren

Die vor­lie­gen­de Unter­richts­idee ist nicht mehr als eine Skiz­ze. Je nach Lern­grup­pe wird man Ver­än­de­run­gen in der Rei­hen­fol­ge der vor­kom­men­den Tex­te vor­neh­men müssen.

Die Skiz­ze legt den Schwer­punkt auf kri­ti­sche Aspek­te. Sie befasst sich nicht mit den indi­vi­du­el­len Vor­tei­len per­so­na­li­sier­ter Wer­bung. Daher ist sie in Tei­len natür­lich inhalt­lich ein­sei­tig und durch geeig­ne­tes Mate­ri­al bei der Kon­zep­ti­on der gesam­ten Ein­heit zu ergänzen.

Die Skiz­ze arbei­tet instruk­tiv mit vor­ge­ge­be­nen Tex­ten. Das kann nicht im Sin­ne eines neu­en Lern­an­sat­zes sein. Die sich aus ihr erge­ben­den Fra­ge­stel­lun­gen ermög­li­chen aber ggf. eige­ne Fra­gen der Schü­le­rin­nen und Schüler.

Die Unter­richts­skiz­ze eig­net sich für die Sekun­dar­stu­fe I, mit Aus­nut­zung aller didak­ti­schen Poten­tia­le durch­aus aber auch für einen Leis­tungs­kurs Deutsch im Kon­text des Rah­men­the­mas „Medienkritik“.

Der Kontext

Die US-Dro­ge­rie­markt­ket­te „Target“ hat nach Berich­ten in der Pres­se einen Weg gefun­den, durch Ver­knüp­fung von Kun­den­da­ten, ele­men­ta­re Ver­än­de­run­gen im Leben ihrer Kun­den zu bestim­men – in die­sem Fall die Schwan­ger­schaft inkl. des vor­aus­sicht­li­chen Ent­bin­dungs­ter­mins. Bezeich­nen­der­wei­se ist die Ori­gi­nal­quel­le von Charles Duhigg ( Quel­le: http://www.nytimes.com/2012/02/19/magazine/shopping-habits.html – abge­ru­fen am 8.12.2016 ) bereits auf das Jahr 2012 zu datie­ren – für Inter­net­maß­stä­be nahe­zu historisch.

Das haben öffent­lich-recht­li­che Sen­der in Deutsch­land schon vor eini­ger Zeit recher­chiert ( Quel­le: http://www1.wdr.de/fernsehen/quarks/sendungen/bigdatatalk-kassenbon100.html – abge­ru­fen am 8.12.2016 ). Dazu ist die Ver­knüp­fung vie­ler Daten not­wen­dig, u.a. müs­sen auch Kre­dit- oder EC-Kar­ten­um­sät­ze zwin­gend mit erfasst werden.

Media­ler Auf­hän­ger ist die Geschich­te eines Vaters einer 16-jäh­ri­gen Toch­ter, der die per­so­na­li­sier­te Wer­bung für sein Kind gele­sen hat. Dar­auf­hin lief er auf­ge­bracht in die Fir­men­zen­tra­le, um sich dar­über zu beschwe­ren, dass sei­ner Toch­ter sug­ge­riert wür­de, unbe­dingt schwan­ger wer­den zu müs­sen. Sei­ne Toch­ter war jedoch tat­säch­lich schwan­ger, sodass der Vater sich nach zwei Wochen klein­laut ent­schul­di­gen musste.

Die­se Art der Bericht­erstat­tung auch in deut­schen Medi­en pro­vo­zier­te wei­te­re Meta­tex­te, etwa den einer Sozio­lo­gin, die sich nicht in die­ser Wei­se durch­leuch­ten las­sen woll­te und daher zu fol­gen­dem Maß­nah­men­ka­ta­log griff:

  1. Sie instru­iert Freun­de und Bekann­te auf sozia­len Medi­en, ihre Schwan­ger­schaft nicht preiszugeben

  2. Sie anony­mi­siert ihren Daten­ver­kehr beim Ein­kauf im Inter­net aufwändig

  3. Sie zahlt ihre Ein­käu­fe grund­sätz­lich mit Bargeld

  4. Sie ver­wen­det auf Ama­zon eine selbst­ge­hos­te­te E‑Mailadresse unds kei­ne von Gmail, da Goog­le stan­dard­mä­ßig Nach­rich­ten auf Schlag­wor­te hin untersucht.

  5. Sie bezahlt auf Ama­zon mit Gutscheincodes

  6. Sie lässt sich Ware grund­sätz­lich an eine Pack­sta­ti­on liefern

  7. Sie muss Beträ­ge über 500 Euro wegen des Ver­dachts der Geld­wä­sche auf meh­re­re Per­so­nen auf­tei­len, um z.B. einen Kin­der­wa­gen bestel­len zu können

( Quel­le: http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2014–04/big-data-schwangerschaft-verheimlichen – abge­ru­fen am 8.12.2016 )

Die Geschich­te der durch­leuch­te­ten schwan­ge­ren Frau­en hat wahr­schein­lich einen wah­ren Kern. An dem media­len Auf­hän­ger gibt es erns­te Zwei­fel hin­sicht­lich des Wahrheitsgehalts:

Zitat:

„Bey­ond this […] the New York Times artic­le its­elf pro­vi­des ano­ther fac­to­id making it even less likely the teen’s pregnan­cy had been deter­mi­ned ana­ly­ti­cal­ly (if „determined“ by Tar­get at all – per­haps the par­ti­cu­lar teen was sim­ply pla­ced acci­den­tal­ly into the wrong mar­ke­ting seg­ment): Tar­get knows con­su­mers might not like to be mar­ke­ted on baby-rela­ted pro­ducts if they had not vol­un­tee­red their pregnan­cy, and so actively camou­fla­ges such acti­vi­ties by inters­per­sing such pro­duct pla­ce­ments among other non-baby-rela­ted pro­ducts. Such mar­ke­ting mate­ri­al would by design not rai­se any par­ti­cu­lar atten­ti­on of the teen’s father. “

(Quel­le: http://www.kdnuggets.com/2014/05/target-predict-teen-pregnancy-inside-story.html – abge­ru­fen am 8.12.2016)

Sinn­ge­mäß übersetzt:

Abge­se­hen davon ent­hält der Arti­kel in der New York Times selbst einen Fakt, der es weni­ger wahr­schein­lich macht, dass die Schwan­ger­schaft des Teen­agers algo­rith­misch ermit­telt wur­de (wenn das über­haupt von Tar­get so ermit­telt wur­de – viel­leicht wur­de der Teen­ager auch irr­tüm­lich dem fal­schen Wer­be­be­reich zuge­ord­net): Tar­get weiß, dass Kun­den es even­tu­ell nicht mögen, Wer­bung über Baby­pro­duk­te zu erhal­ten, wenn sie ihre Schwan­ger­schaft nicht frei­wil­lig offen­bart haben. So tarnt Tar­get sol­che Akti­vi­tä­ten dadurch, dass auch ande­re Pro­duk­te in der ent­spre­chen­den Wer­bung plat­ziert wer­den. Der­ar­ti­ges Wer­be­ma­te­ri­al wür­de aber schon vom Ansatz her eben gera­de nicht die spe­zi­el­le Auf­merk­sam­keit des Teen­ager­va­ters erregen.

Ich selbst schrieb dazu vor Jah­ren in einem dys­to­pi­schen Arti­kel:

„Die Ent­wick­lung hin zu neu­en Geschäfts­fel­dern wie dem Ver­si­che­rungs- und dem Kre­dit­we­sen basiert auf Daten, die die Men­schen uns frei­wil­lig gege­ben haben auf Platt­for­men, die sie als inte­gral für ihr Leben emp­fun­den haben und immer noch emp­fin­den. Dabei haben wir anfäng­lich die Algo­rith­men bewusst „dumm“ gestal­tet: Wer z.B. eine Kaf­fee­ma­schi­ne kauf­te, bekam über unse­re Wer­be­netz­wer­ke nur noch Kaf­fee­ma­schi­nen in Wer­be­an­zei­gen ange­prie­sen. Er konn­te dann mit dem Fin­ger auf uns zei­gen und sagen: „Schaut her, was für eine däm­li­che Algorithmik!“ Es war wich­tig, Men­schen die­ses Über­le­gen­heits­ge­fühl gegen­über Tech­nik zu geben, obwohl sie schon längst davon ent­frem­det waren, damit sie uns wei­ter Infor­ma­tio­nen über sich lieferten.“

Auf Basis die­ser Infor­ma­tio­nen lässt sich nicht nur das Durch­leu­ten von Kun­den durch „Big Data“ in den Blick neh­men, son­dern auch die media­le Auf­be­rei­tung kri­tisch betrachten.

Die Kurzgeschichte

Inhalt­li­cher Aus­gangs­punkt ist eine Kurz­ge­schich­te – sie wur­de nicht von einem „rich­ti­gen“ Autor, son­dern etwas selbst­über­schät­zend von mir extra für die Ein­heit ver­fasst, weil ich auf die Schnel­le kei­nen ver­gleich­ba­ren Text fin­den konn­te – die lite­ra­ri­sche Qua­li­tät mag daher begrenzt und eini­ge Kli­schees mögen zu sehr bedient sein:

Syl­vie

(Maik Riecken, Dezem­ber 2016)

Sie stan­den vor ihrer Tür. Ein Will­kom­mens­team der Stadt. Eine müt­ter­lich wir­ken­de älte­re Dame und ein leid­lich schnei­di­ger Jung­spund, dem die päd­ago­gi­sche Aus­bil­dung aus jeder Faser sei­ner Klei­dung leuch­te­te. Ob sie denn schon über das Ange­bot der Volks­hoch­schu­le infor­miert sei? Dort wür­den Mut­ter-Kind-Kur­se zur Stär­kung der Bin­dung zwi­schen Mut­ter und Kind ange­bo­ten. Die sei­en immer früh­zei­tig aus­ge­bucht, da müs­se man sich jetzt schon anmel­den. Der Stadt sei es ein Anlie­gen, wer­den­de Eltern best­mög­lich zu unter­stüt­zen – vor allem Spät­ge­bä­ren­de wie sie.

Mit diver­sen Pro­dukt­pro­ben von Tees und wohl­rie­chen­den, haut­straf­fen­den Ölen stand sie schließ­lich rat­los in der Tür und schau­te den bei­den ver­wirrt nach.

Sie war Anfang 40 und ohne fes­ten Part­ner. Das war gut so. Sie war frei und unab­hän­gig. Sie hat­te – aber nur ganz tief in ihr drin – hin und wie­der Sehn­sucht nach einem eige­nen klei­nen Wesen, das sie zum Ziel ihrer Lie­be machen konn­te, aber Herr Schrö­der, der klei­ne Gol­den Retrie­ver füll­te die­se Leer­stel­le eigent­lich auch recht treff­lich aus. Die Wer­bung auf dem Bild­schirm ihres Tablets zeig­te in letz­ter Zeit ver­mehrt nied­li­che Baby­bil­der und unauf­hör­lich Pro­duk­te für den guten Start ins Leben.

Aber das The­ma war für sie abge­hakt. Sie wür­de nicht alles auf­ge­ben, um noch ein­mal ganz von vor­ne anzu­fan­gen. Dafür hat­te sie sich beruf­lich zu viel aufgebaut.

Sie genoss es, sich jeder­zeit sport­lich betä­ti­gen zu kön­nen oder ihren zahl­rei­chen Hob­bys nach­zu­ge­hen. Bei den Män­nern kam das gut an – unab­hän­gi­ge Frau­en gal­ten in ihrem Bekann­ten­kreis als sexy. Hin und wie­der war einer dabei, aber etwas wirk­lich Ver­bind­li­ches konn­te sie sich nicht mehr vorstellen.

Ihre Ver­gan­gen­heit strich in dif­fu­sen Erin­ne­rungs­schlei­ern an ihr vorüber.

Er war bequem gewor­den. Er hat­te sich irgend­wann ein­fach nicht mehr ange­strengt, ihr nicht mehr das Gefühl gege­ben, begeh­rens­wert zu sein. Irgend­wann saßen sie als Paar in der Kum­pel­fal­le. Sie leb­ten mehr als Freun­de denn als Part­ner mit­ein­an­der. Ja, sie teil­ten sich den All­tag, den Haus­halt so gleich­be­rech­tigt wie es nur ging. Nach außen eine rich­ti­ge Mus­ter­be­zie­hung. Für Syl­vie waren sie noch heu­te ein gutes Team – auch nach dem Aus. Kein Rosen­krieg, kla­re Ver­ein­ba­run­gen. Päd­ago­gisch zogen sie am glei­chen Strang. Ihre gemein­sa­me Toch­ter Syl­vie brauch­te schließ­lich neben Zuwen­dung vor allem Kon­se­quenz. Und sowohl Mut­ter als auch Vater zur eige­nen Orientierung.

Sie wuss­te selbst nicht, war­um sie die bei­den vor der Tür nicht ein­fach herz­lich aus­ge­lacht hat­te. Vor allem die­sen Päd­ago­gik­schnö­sel. Sie war ein­fach viel zu über­rum­pelt von die­sem rund­um durch­cho­reo­gra­fier­ten Erstgesprächsansatz.

Sie ging zurück in die Woh­nung. Ihr Tablet auf der Koch­in­sel der groß­zü­gi­gen Küche war noch nicht in den Ener­gie­spar­mo­dus gegan­gen. Wahr­schein­lich war Syl­vie zwi­schen­durch wie­der in irgend­wel­chen Online­shops unter­wegs gewe­sen. Wie­der die­se Wer­bung für Baby­pro­duk­te. Aufdringlich.

Aus Syl­vies Bad kamen Geräu­sche. Sie klan­gen so, als wenn sich ihre 16jährige Toch­ter gera­de über­ge­ben wür­de. Als sie nach vor­sich­ti­gem Anklop­fen die Tür öff­ne­te, stürz­te sich ein heu­len­des Elend in ihre Arme: „Mama, ich habe seit acht Wochen mei­ne Tage nicht mehr bekom­men …“

Mög­li­che Aufgaben:

  1. Fas­se den Inhalt der Geschich­te in eige­nen Wor­ten zusammen.

  2. War­um han­delt es sich bei die­sem Text um eine Kurzgeschichte?

  3. Ver­fas­se einen inne­ren Mono­log, in dem Syl­vie ihre Lage darstellt.

  4. Recher­chie­re mit den Such­be­grif­fen „Target, Schwan­ger­schaft, Big Data“ nach den Hin­ter­grün­den der in der Geschich­te dar­ge­stell­ten Hand­lung. Erstel­le eine Prä­sen­ta­ti­on, die erklärt, wie Drit­te u.U. von Syl­vies Lage wis­sen konnten.

  5. Nimm Stel­lung zu dem Arti­kel des Online­an­ge­bots der Zeit ( http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2014–04/big-data-schwangerschaft-verheimlichen )

  6. Wie bewer­test du die Mög­lich­keit, mit Hil­fe von Big Data der­ar­ti­ge Infor­ma­tio­nen über Men­schen erhal­ten zu können?

 

Didaktische Erweiterung

Der Auf­hän­ger der Bericht­erstat­tung ist wahr­schein­lich frei erfun­den (s.o). Es gab die Geschich­te mit dem Vater der 16-jäh­ri­gen Toch­ter u.U. nicht. Das Durch­leuch­ten der schwan­ge­ren Frau­en ist dage­gen wohl Realität.

Dies kann den Schü­le­rin­nen und Schü­lern mit der Argu­men­ta­ti­on der Inter­net­quel­le von knuggets.com (s.o.) ver­mit­telt werden.

Wenn die­ses Wis­sen inner­halb der Lern­grup­pe ent­we­der im Zuge der Recher­che oder durch einen geziel­ten Input ver­an­kert ist, kön­nen dar­über­hin­aus­ge­hen­de Fra­gen behan­delt werden:

  1. Dür­fen sol­che Auf­hän­ger erfun­den werden?

  2. Wel­ches Licht wirft die Demon­ta­ge eines der­ar­ti­gen Auf­hän­gers auf die eigent­li­che Berichterstattung?

  3. Inwie­fern unter­schei­den sich bezo­gen auf die­sen Fall soge­nann­te „Qualitätsmedien“ ( Die Zeit, öffent­lich-recht­li­cher Rund­funk) von ande­ren Quellen?

Fächerübergreifende Arbeit

Um die Hin­ter­grün­de des Vor­falls zu recher­chie­ren, kann nicht auf die Hin­zu­nah­me eng­lisch­spra­chi­ger Quel­len ver­zich­tet wer­den, deren Sprach­ni­veau teil­wei­se recht hoch ist. Anstatt die fer­ti­ge Über­set­zung zu prä­sen­tie­ren, kann die­se selbst erar­bei­tet werden.

Durch das The­ma stel­len sich eine Rei­he ethi­scher Fra­gen. Durch die Prä­sen­ta­ti­on ziel­ge­rech­ter Wer­bung ergibt sich für das jewei­li­ge Indi­vi­du­um natür­lich auch ein Vor­teil. Dass die Dro­ge­rie­markt­ket­teih­re Akti­vi­tä­ten im Bereich der Aus­wer­tung von Kun­den­da­ten „tarnt“, schließt ein Bewusst­sein um die Ableh­nung durch die Kun­den mit ein. Hier wären die Fächer Wer­te & Nor­men, Reli­gi­on oder auch Phi­lo­so­phie the­ma­tisch eng angebunden.

Ist unser Verhalten algorithmisch vorhersagbar?

Am Wochen­en­de geis­ter­te ein ver­stö­ren­der Arti­kel durch Twit­ter - „Ich habe nur gezeigt, dass es die Bom­be gibt“. Mit der „Bom­be“ war gemeint, dass ein For­scher namens Mich­al Kos­in­ski glaubt anhand von Face­book-Likes recht inti­me Din­ge von Men­schen vor­her­sa­gen zu kön­nen – etwa die sexu­el­le Orientierung.

Den Ori­gi­nalt­text der Stu­die fin­det man hier, ers­te Aus­ein­an­der­set­zung mit der sta­tis­ti­schen Qua­li­tät hier. Die Stu­die wur­de schon vor eini­ger Zeit medi­al dis­ku­tiert, gewinnt natür­lich aber natür­lich im Kon­text des Brexit oder der Trump­wahl wie­der an Bri­sanz: Sind bei­de Wah­len viel­leicht über Social-Media-Bots gezielt mani­pu­liert wor­den? Nutzt viel­leicht sogar die AFD die­se Tech­no­lo­gie, um Wahl­er­geb­nis­se in ihrem Sinn zu beeinflussen?

Algo­rith­mi­sche Model­le, um das Ver­hal­ten von Men­schen vor­aus­zu­sa­gen oder zu simu­lie­ren, gibt es schon sehr lan­ge. Schon in den 60er Jah­ren ent­wi­ckel­te Joseph Wei­zen­baum ein nach heu­ti­gen Maß­stä­ben pri­mi­ti­ves Pro­gramm, um ein mensch­li­ches Gegen­über zu simu­lie­ren. Heu­te ken­nen wir digi­ta­le Assis­ten­ten wie Siri oder Cort­a­na, die ein­fa­che Funk­tio­nen sprach­ba­siert zur Ver­fü­gung stellen.

Etwas Ähn­li­ches macht ein Social-Media-Bot. Im ein­fachs­ten Fall twit­tert er über das Wet­ter auf Basis von Wet­ter­da­ten aus einer Daten­bank. Bots gibt es unglaub­lich vie­le – man­che sind leicht als sol­che zu erken­nen, bei man­chen fällt es erst auf, wenn ver­sucht, mit ihnen in Inter­ak­ti­on zu tre­ten. Im Prin­zip ist schon ein Word­Press­sys­tem, wel­ches bei neu­en Arti­keln direkt twit­tert, eine Art Bot. So etwas nutzt natür­lich auch die AFD – reiht sich damit aber in die Rei­he der ande­ren Par­tei­en ein.

Natür­lich lässt sich ein Bot prin­zi­pi­ell mit belie­bi­gen Daten kop­peln, also auch mit Daten­ban­ken zu Vor­her­sa­ge von mensch­li­chem Ver­hal­ten – Kon­sin­ski glaubt ja, eine sol­che auf Basis von öffent­lich zugäng­li­chen Pro­fil­da­ten erstel­len zu können.

Damit „sucht“ der Bot im Fal­le der Trump­wahl also gezielt Pro­fi­le von Men­schen, die noch unent­schie­den sind und „ver­sorgt“ die­se mit geeig­ne­ten Arti­keln oder schlägt Pro­fi­le vor, die Trump nahe stehen.

Die­se Vor­stel­lung wird in Tei­len des Inter­nets als „Angst­ma­che­rei“ und „völ­lig über­zo­gen“ abge­tan. Die algo­rith­mi­sche Ana­ly­se mensch­li­chen Ver­hal­tens habe sich oft genug als „Bull­shit“ her­aus­ge­stellt. Der­ar­ti­ge Dar­stel­lun­gen sei­en also zu unter­las­sen (sie könn­ten die Bevöl­ke­rung verunsichern).

Das stimmt für mich nur teil­wei­se. Tat­säch­lich ist das bezo­gen auf den Trump- oder AFD-Kon­text wah­schein­lich Bull­shit. Mei­ne Lieb­lings­ge­schich­te ist die der Dro­ge­rie­markt­ket­te Tar­get, die algo­rith­misch bestim­men konn­te, ob eine Schwan­ger­schaft bei einer Frau vorlag.

Um schwan­ge­re Frau­en zu beein­flus­sen, muss nicht zwin­gend etwas über deren Cha­rak­ter bekannt sein. Es reicht u.U. schon zu wis­sen, dass sie schwan­ger sind.

Hin­ter der „Angst­ma­che­rei­the­se“ ste­cken für mich gewis­se bil­dungs­bür­ger­lich-roman­ti­sche Grundannahmen:

  1. Mensch­li­ches Ver­hal­ten ist sehr kom­plex, zu kom­plex, um einer algo­rith­mi­schen Ana­ly­se zugäng­lich zu sein.
  2. Men­schen sind auto­no­me Geschöp­fe mit einem frei­en Willen.
  3. Social­me­dia erwei­tert den Hori­zont durch die Mög­lich­keit der unbe­grenz­ten Vernetzung.
  4. Das Inter­net ist eine Berei­che­rung der mensch­li­chen Aus­drucks­fä­hig­keit und Freiheit.

Dem­ge­gen­über ste­hen über 50 Jah­re algo­rith­mi­sche Ent­wick­lungs­ar­beit und immense, bis­her wohl weit­ge­hend unge­nutz­te Daten­be­stän­de. Das Indi­vi­du­um kann man heu­te wohl (noch) nicht mit hin­rei­chen­der Genau­ig­keit bestim­men – außer Leh­rern mit ihren sehr typi­schen Tweets und Posts :o)…

Bei der Mas­se bin ich mir da nicht so sicher. Infor­ma­ti­ons­ver­brei­tung kos­tet heu­te kaum noch etwas, sodass auch mit Unschär­fe das Prin­zip der gro­ßen Zahl immer noch tra­gen wird. Bei knap­pen Ent­schei­dun­gen muss ich nicht alle adres­sie­ren. Weni­ge Pro­zent rei­chen u.U..

Das wäre natür­lich doof, weil es den Mythos des frei­en Inter­nets doch arg demon­tiert. Wenn Tech­no­lo­gie­kon­zer­ne und Agen­tu­ren bestim­men, was wir sehen und mit wem wir in Kon­takt tre­ten – schon irgend­wie eher feu­da­lis­tisch. Sehr beru­hi­gend, dass Goog­le, Face­book, Apple, Ama­zon und Micro­soft ja sehr trans­pa­rent dar­le­gen, wie ihr jewei­li­ger Algo­rith­mus eigent­lich arbeitet.

Ach nee – das mit der Trans­pa­renz war ja nicht in die­ser Welt.

 

 

 

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