Unterricht ist eine Illusion
Das hört sich wieder einmal böse an, aber ich halte klassischen Unterricht, sei er kooperativ, frontal oder sonstwie geführt für eine solche. In Lehrproben und Unterrichtsbesuchen, also da, wo es darauf ankommt, wird es für mich besonders deutlich.
- Es ist eine Illusion zu glauben, dass SuS einer Lerngruppe zur gleichen Zeit das Gleiche lernen wollen. Deswegen sind Dinge wie Motivation und Disziplinierung überhaupt erst erforderlich. Motivation kann ich durch Methoden, interessante Impulse u.ä. generieren, Disziplin hauptsächlich durch Authentizität und Autorität (das will ich dringend „autoritär“ unterschieden wissen).
- Es ist eine Illusion zu glauben, dass Unterricht frei ist. Der Lehrende gibt bedingt durch z.B. curriculare Vorgaben Inhalte für die Stunde vor und er verfolgt ein Ziel mit einer Unterrichtsstunde, welches zunächst für die Lerngruppe verdeckt ist – sonst wäre die Stunde bereits zerbröselt, wenn ich z.B. den Satz des Pythagoras geometrisch nachweisen möchte und den Beweis an den Anfang stelle. Natürlich kann ich meine Stunde so anlegen, dass mehrere Wege zum Ziel führen. Gleichwohl zwinge ich der Lerngruppe die Stadt auf, in die sie zu gehen haben. Sie können allenfalls entscheiden, ob sie das singend oder tanzend, auf direktem oder indirektem Weg, am Fluss entlang oder über das Gebirge hinweg tun wollen.
Ketzerisch könnte man behaupten, dass eine Stunde dann besonders gut gelingt, wenn ich es als Lehrkraft vollbringe, die Illusion von Freiheit zu schaffen und gleichzeitig die SuS nicht merken zu lassen, dass sie mit einer Illusion konfrontiert sind. Das Urteil nach einer Lehrprobe/Unterrichtsbesichtigung lautet dann: „Die SuS haben sich den Sachverhalt durch eine zweckdienliche Methodik und hervorragende Materialen motiviert und selbstständig erarbeitet!“. Aber das, was sie sich erarbeiten sollten, stand mit den möglichen Wegen, die die SuS gehen konnten, bereits im Entwurf. Deswegen möchte ich solche Stunden nicht „frei“ nennen und Menschen, sondern es handelt sich in meinen Augen dann um eine intendierte, möglichst perfekte Illusion.
Was ist daran schlimm?
Nichts. Wir leben von und mit Illusionen. Schlimm finde ich nur, wenn wir in diesem Zusammenhang von „freien Unterrichtsformen“ sprechen. Sie sind es nicht, weil sie immer dazu dienen, SuS in eine bestimmte Stadt zu locken (in Mathe, Chemie, Physik, Biologie allerdings weit mehr als in Deutsch, Geschichte und Politik). SuS müssen bestimmte Städte kennen lernen, um sich später für eine entscheiden zu können oder sich gar eine neue zu bauen. In dieser Phase halte ich Freiheit für eine Illusion.
Kann man etwas so Grundsätzliches ändern?
Hm. Selbst LdL ist hier nur bedingt illusionsabbauend, weil Inhalte und Ziele immer noch die Lehrkraft vorgibt. Methodisch nimmt LdL jedoch das Individuum in seinen Fähigkeiten sehr ernst. Man „lockt“ weniger in die Stadt, sondern sagt vielleicht: „So, hier ist ein GPS-Gerät, hier ist dein Ziel, du schaffst das!“. Wenn man das oft macht, sagen SuS irgendwann vielleicht: „Hm, ich habe ein GPS-Gerät, jetzt gehe ich außerhalb der Schule damit mal an die Koordinate xy!“. Das ist dann Freiheit und keine Illusion. Auch die oft so verhassten Seminarfächer eignen sich nach meiner Erfahrung für Illusionsabbau, Projektunterricht mit selbst gewählten Inhalten… Ein Gruppenpuzzle hingegen hat eher was von Geocaching mit vorgebenen Koordinaten, auch die Mysterymethode, weil hier die Wege doch irgendwie stärker mit Wegpunkten versehen sind, die gerade in einer Lehrprobe/in einem Unterrichtsbesuch als Kontrollpunkte dienen.
Es gibt pädagogische Ansätze – hauptsächlich von Reformpädagogen – die übrigens diesen inhaltlichen Zielzwang, diese Unfreiheit bewusst vermeiden, z.B. die Montessori-Pädagogik. Diese meine Erkenntnisse und Ergüsse sind also mitnichten „neu“.
Die Relativierung
In der Denke dieses Artikels könnte man natürlich auch sagen, dass Bücher den Lesenden „zwingen“, weil sie Handlung und Handlungsziel vorgeben. Das wird nur ein Problem, wenn man ausschließlich bestimmte Bücher mit bestimmten Handlungen und Handlungszielen liest – das halte ich für das Wesen und die Quelle von Fundamentalismus, sei es religiöser oder politischer oder sonstwelcher. Deswegen brauchen wir nach meinem Dafürhalten „bunten“ und verschiedenartigen Unterricht und da dürfen dann auch gerne Illusionen eine Rolle spielen.
Ich warte aber auf den Tag, an dem ein Bewerter sagt: „Diese Stunde bot eine perfekte Illusion, an der ich mich geweidet habe, weil sie meinem persönlich menschlichen Bedürfnis entspricht!“ Oder so ähnlich.…