Zunehmend erlebe ich in Beratungssituationen, dass sich Lehrerkollegien – vorwiegend im gymnasialen Bereich – gegen eine 1:1 Ausstattung aussprechen und – falls sich das durch öffentlichen Druck nicht verhindern lässt – dann wenigstens für eine möglichst späte, etwa in der Oberstufe.
Tatsächlich halte ich es für falsch, den Grad der Digitalität einer Schule an der möglichst häufigen Nutzung digitaler Geräte zu messen. 1:1‑Klassen mit elternfinanzierten Geräten sind noch lange kein Garant dafür, dass die potentiale digitaler Werkzeuge auch tatsächlich genutzt werden. Diese Geräte stellen eine Störung dar – eine wortwörtliche durch ihr Ablenkungspotential – aber eben auch eine systemische Störung und (etablierte) Systeme konfigurieren sich immer so um, dass die Auswirkungen von Störungen minimiert werden. Das geschieht auch in Systemen, die eine 1:1‑Ausstattung haben: Nach außen gibt es gar nicht so selten deutlich positive Darstellungen, wohingegen die natürlich im Inneren vorhandenen Schwierigkeiten und Konflikte ausgeblendet sind – dabei ließe sich daran m.E. viel lernen.
Daher ist aus Sicht des Systems völlig logisch, Geräte nicht ständig im Unterricht präsent zu haben oder wenn, dann in möglichst späten Entwicklungsphasen. Bemerkenswert sind dabei oft die Art und Weise des Diskurses mit den seit Jahren wiederkehrenden Argumenten. Alle gängigen Argumente sind seit Jahren diskutiert und wissenschaftlich eingeordnet, manche bis heute nicht zufriedenstellend ausdiskutiert, aber ebendiese Diskussionen müssen immer wieder neu geführt werden und der Anspruch, „dass das ja alles allmählich klar sein müsste“, läuft ins Leere – weil der Prozess zu Einsichten führt und nicht das bloße Lesen.
Diese Art des Argumentierens und Streitens ist nie spezifisch für ein System. Ich halte es mit für eine Folge, dass es nur wenig Ressourcen zur schulübergreifenden Zusammenarbeit gibt. Daher wiederholen sich Strukturen eben wieder und wieder.
Ich habe keine Lösungen und keine klaren Antworten als Beratender. Ich kann im besten Fall dafür sorgen, dass es noch mehr, dafür aber andere Fragen mit breiterem Fokus gibt. Ich kann dafür sorgen, dass andere Perspektiven wahrgenommen werden. Aber ich kann „nicht machen, dass alles gut wird“ – dafür braucht es schulinterne Voraussetzungen. Jedoch gibt es in den stattfindenden Diskursen ein paar Grundstrukturen, deren Kenntnis hilfreich bei der Einordnung bestimmter Äußerungen sein kann.
Der Strohmann
Beim Strohmann-Argument wird der Eindruck erzeugt, dass ein gegnerisches Argument widerlegt wird, obwohl eigentlich ein Argument zurückgewiesen wird, das der Gegner gar nicht vorgetragen hat, sondern ihm lediglich unterstellt wurde. (Quelle)
Beispiele:
„Die Kinder müssen verlässlich das Lesen, Schreiben und Rechnen lernen“
„Es ist für die kognitive Entwicklung wichtig, auf Papier zu schreiben“
Es gibt tatsächlich einzelne (in meinen Augen eher naive) medienpädagogische Positionen, die diese Behauptungen ablehnen oder im digitalen Zeitalter relativiert sehen wollen. Das sind aber Ausnahmen.
In der Regel behauptet das von den Befürwortern von 1:1‑Klassen an Schulen niemand, sondern implizit wird von den Skeptikern angenommen, dass von nun an ausschließlich mit dem jeweiligen Gerät gearbeitet werden muss. Gemeint ist aber gemeinhin lediglich, dass von nun an auch mit dem Gerät gearbeitet werden kann.
Die Monokausalität
Bei einer monokausalen Erklärung wird angenommen, dass genau ein (altgriechisch μόνος monos ‚alleinig‘, ‚einzig‘) Ereignis ein weiteres Ereignis verursacht. Es ist auch möglich, dass dieses eine ursächliche Ereignis mehrere Wirkungen entfaltet. (Quelle)
Beispiele:
„Seit der Digitalisierung werden Leistungen von Schüler:innen noch schlechter.“
„Durch die Digitalisierung nimmt die Anstrengungsbereitschaft von Schüler:innen drastisch ab.“
Beides ist in den PISA-Gewinnerländern nicht der Fall. Dass Taiwan oder Finnland Deutschland im Bereich der Digitalisierung „geringfügig“ voraus sind (wobei die Sache mit der Leistungssteigerung in Finnland rückläufig ist), belegen die neusten Ergebnisse. Es besteht damit zumindest Grund zu der Annahme, dass weitere Faktoren dabei eine Rolle spielen könnten.
Eine der naheliegenden Ursachen ist für mich der weitgehend unreflektierte Umgang mit Medienthemen in der Breite der Zivilgesellschaft und es wäre gerade an Schule für eine entsprechende Kompensation zu sorgen (s.u.).
Etwas weiter hergeholt sind für mich dabei generelle gesellschaftliche Entwicklungen ausschlaggebend: Wenn es z.B. mehr Arbeit gibt, als Menschen, die sie erledigen und Sozialleistungen ein grundständig würdiges Leben garantieren, muss ein Individuum in der Eigenwahrnehmung vieler immer weniger leisten, um Arbeit zu finden. Dass die zur Verfügung stehenden Jobs im Gegensatz dazu immer größere Anforderungen stellen – auch und vor allem in Hinblick auf digitale Fertigkeiten, steht auf einem anderen Blatt. Wir leben in einem reichen Land, in dem die Perspektive, noch mehr Wohlstand erreichen zu können, gar nicht so arg realistisch ist wie z.B. in Schwellenländern. Das könnte zumindest ansatzweise Auswirkungen auf die Anstrengungsbereitschaft haben.
Cherrypicking
Beispiel:
„Die Kinder verbringen schon viel zu viel Zeit in der Freizeit am digitalen Gerät. Es muss bildschirmfreie Zeiten und Orte geben.“
Eigentlich ist das zusätzlich ein Strohmann, denn auch Verfechter von 1:1‑Klassen würden durchaus bejahen, dass Experimentieren am realen Gegenstand, Sportunterricht und Diskussionen mit echten Menschen ohne die Präsenz von digitalen Geräten wirklich sinnvolle Aktionen sind. Ich setze z.B. bis heute im Chemieunterricht wenig Digitales ein – dafür gibt es da viel zu viel zu denken, bauen, riechen, schauen, hören usw..
Spannend ist für mich an diesem Argument etwas völlig anderes: Es impliziert, dass im Bereich der Freizeit unkontrollierbares, überbordendes und in der Summe schädliches Medienverhalten stattfindet, welches durch explizit „medienfreie Räume“ kompensiert werden muss – aktuelle Erkenntnisse aus Skandinavien scheinen das zumindest für den Elementar- und Primarbereich zu bestätigen – werden aber generalisierend wahrgenommen.
Es ist keineswegs so, dass Schweden sich generell von digitalen Medien abkehrt, man tut das im Elementar- und Primarbereich. In der Regel erfolgt die Etablierung von 1:1‑Klassen in Deutschland ab Klasse 7. Das ist in dieser Altersstufe sogar in Teilen von unbestreitbar sehr konservativen medienpädagogischen Positionen gedeckt (vgl. Lankau, Spitzer, Zierer).
Angenommen, dass das mit dem schädlichen Medienkonsum in der Summe stimmt (was – differenziert betrachtet – nicht so ganz trivial zu beantworten sein dürfte): Wer trägt dann die Verantwortung dafür? Kinder und Jugendliche sind sehr oft Spiegel ihrer Vorbilder. Gar nicht so wenige dieser Vorbilder nehmen das Handy beim Autofahren in die Hand, legen es beim Essen nicht weg oder nutzen es intensiv in beruflichen Kontexten, die als langweilig erlebt werden – man setze sich einmal ganz hinten in z.B. eine Lehrendenkonferenz. Aber da liegt der Fall ja völlig anders als bei Schülern, die sich im Unterricht ablenken.
Es gibt – zumindest für medienkompetente Eltern – ja durchaus Handlungsoptionen. Wenn man anerkennt, dass der Umgang mit der digitalen Welt eine grundlegende Fertigkeit sein wird, wozu auch Vereinbarungen und Impulskontrolle gehören, warum liegt dann die Lösung darin, diese Option aus Schule weitgehend herauszuhalten oder möglichst spät einzuüben? Immerhin setzen berufliche Schulen diese Fertigkeiten bei der Aufnahme der Schüler:innen voraus oder sollten das zumindest in Niedersachsen auf dem Papier voraussetzen können.
Der Charme der 1:1‑Ausstattung liegt darin, dass digitale Arbeitstechniken und der Gebrauch als Lernwerkzeug (statt als Konsumgerät) in Schule niederschwellig stattfinden kann und überhaupt erst auch für kurze Phasen zugänglich wird, was Koffer- und Schranklösungen aufgrund des erhöhten Aufwandes bei Buchung und Transport so nicht bieten.
Wie die Bildschirmzeit im häuslichen Bereich von Eltern verantwortet wird, besteht diese Möglichkeit in der Schule grundsätzlich für die Lehrkräfte – es gibt hier sogar technische Lösungen dafür.
Projektionen
Dieser Bereich ist immens sensibel. Viele Lehrkräfte nehmen sehr wohl drei Dinge wahr:
- die digitalisierte Gesellschaft wandelt sich auf bisher nicht erlebte Art und Weise
- die eigene Kompetenz kann nicht Schritt halten im Umgang mit aktuellen Entwicklungen
- vieles scheint mit vielem zusammenzuhängen und ist daher schwierig zu greifen
All dies erzeugt immense Unsicherheiten, die sich manchmal in Konflikten unschön kanalisieren. Für mich bringt es Friedrich Glasl gut auf den Punkt:
Jede Personen neigt unterschiedlich stark dazu, eigene Schwächen nur schwer annehmen zu können, was zu inneren Spannungen führt. Damit verbundene Verhaltensweisen werden in der Folge anderen zugeschrieben oder sogar als von diesen verursacht erlebt, was allerdings mit Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen einhergeht. Es droht dadurch ein Teufelskreis von zunehmender Anspannung, neuen Projektionen und ggf. Überreaktionen gegenüber Anderen, die weitere Spannungen und Frustrationen erzeugen. (Quelle)
Nicht nur im digitalen Bereich bekommen engagierte Kolleg:innen in Diskussionen oft einiges an Projektionen aus dem Kollegium ab, weil sie einem Thema eine fassbare Angriffsfläche bieten: „Du wolltest ja immer schon …“ „Wegen dir haben wir …“ usw. Oft werden sie darüberhinaus im öffentlichen Diskurs in der Situation nicht ausreichend von ihren Schulleitungen geschützt, da diese selbst immer mehr in Anhängigkeiten gegenüber dem Kollegium geraten.
In schlimmsten Fall sehen das andere engagierte Kolleg:innen, worauf sie sich selbst auch nicht mehr öffentlichen Diskussionen aussetzen und der Diskurs dann letztlich eher von den konservativ-bewahrenden Kräften getragen wird.
Als Berater von außen ist es nicht sehr tragisch, Opfer von Projektionen zu werden – das lässt sich durch entsprechende Handlungsmuster und rhetorische Strategien gut auffangen. Ich bin am nächsten Tag wieder weg.
Jemand, der im jeweiligen System Wurzeln hat und noch längere Zeit leben muss, wird sich zweimal überlegen, sich zur Projektionsfläche zu machen, wenn ihm/ihr dieses „Glück“ einmal widerfahren ist oder er/sie Kolleg:innen in diesen Situationen erlebt hat.