Netzidentität

Wer im Netz aktiv ist, muss sich mit die­sem Begriff in irgend­ei­ner Form aus­ein­an­der­set­zen. Die Iden­ti­tät im Netz erwirbt man sich nicht, sie ent­steht, u.a. auch dadurch, dass das Netz nicht so schnell ver­gisst  und gleich­zei­tig der Ela­tiv des Adjek­tivs „öffent­lich“ ist (Das wird ein intel­lek­tu­el­ler Arti­kel…). Im Prin­zip gibt es zwei oppo­si­tio­nel­le Grund­hal­tun­gen zu die­ser Thematik:

  1. Die Netz­iden­ti­tät ist bewusst gene­riert. Das Indi­vi­du­um fil­tert vor der Ver­öf­fent­li­chung inhalt­lich und sprach­lich sehr genau. Die­se Fil­te­rung erfolgt auch ziel­ge­rich­tet im Hin­blick auf das Bild, was man von sich ande­ren Men­schen gegen­über erzeu­gen möchte.
  2. Die Netz­iden­ti­tät ist schlicht und ergrei­fend ein bestehen­der Teil der eige­nen, bestehen­den Per­sön­lich­keit. Sie wird im Wesent­li­chen das abbil­den, was ein Indi­vi­du­um aus­macht und viel­leicht sogar Rück­schlüs­se dar­über hin­aus zulas­sen – z.B. psychologische.

Die­se bei­den Pole sind nicht neu. Ich glau­be, dass am Anfang jeder mensch­li­chen Bezie­hung die ers­te, die bewusst gene­rier­te Iden­ti­tät, eine gewich­ti­ge Rol­le ein­nimmt. Auf die Spit­ze trei­ben das Kon­struk­te wie z.B. Second Life, aber natür­lich auch alle Arten von Dating Sites.  Hier geht es dar­um, ein Bild zu gene­rie­ren, wel­ches attrak­tiv ist – ich habe mir sagen las­sen, dass sich der­ar­ti­ge Bil­der auch hin und wie­der beim per­sön­li­chen Erst­kon­takt auf­lö­sen. Mir fal­len wei­te­re „klas­si­sche Gene­rie­rung­s­ze­na­ri­en“ ein, z.B. der ers­te Besuch bei den künf­ti­gen Schwie­ger­el­tern oder aber auch das Rol­len­spiel inner­halb einer Schul­klas­se. Vie­le Eltern wären bestimmt über­rascht von ihren Kin­dern – mei­ne Über­ra­schung setzt spä­tes­tens auf Klas­sen­fahr­ten ein, auf denen ich oft genug ganz ande­re Iden­ti­täts­tei­le mei­ne SuS zu Gesicht bekom­me – manch­mal reicht auch eine Pause.

Auch in Situa­tio­nen, in denen Iden­ti­tät gene­riert wer­den soll, gelingt das u.U. dadurch nicht, weil das eige­ne Selbst sich nicht abstrei­fen lässt und aus Wor­ten, Bei­trä­gen und Arti­keln natür­lich her­vor­strahlt. Das wirkt auf ande­re viel ehr­li­cher und ethi­scher als die Vor­stel­lung einer gene­rier­ten Iden­ti­tät. Es ist gut so, dass es das gibt: Ange­hö­ri­ge bestimm­ter poli­ti­scher Über­zeu­gun­gen ver­su­chen nach mei­nen Wahr­neh­mun­gen zur Zeit mit bewusst sitt­sam gene­rier­ter Iden­ti­tät zu beein­flus­sen. Dafür las­sen sich bestimm­te Sach­ver­hal­te, z.B. der Wunsch „dem Staat“ mög­lichst wenig Geld zu schen­ken, treff­lich nut­zen. Einem geschul­ten Leser wird aber schnell bewusst, wer da mit wel­chem Impe­tus und wel­chem Men­schen­bild schreibt.

Nächs­tes, posi­ti­ve­res Bei­spiel: Es ist gut, dass der Sub­text von Arti­keln bestimm­ter Men­schen tiefs­te Gemein­sam­kei­ten offen­bart: Es erfüllt das Grund­be­dürf­nis, nicht allein sein zu wol­len. und leis­tet so ein wich­ti­gen Dienst. Aus­schließ­lich gene­riert wäre das sozia­ler Betrug.

Unse­re Iden­ti­tät lässt sich nur mit sehr viel intel­lek­tu­el­len Geschick und dann auch nur unvoll­stän­dig voll kon­trol­lie­ren – das macht das Mensch­sein aus.

Kin­der, Jugend­li­che und vie­le Erwach­se­ne sind sich die­ser Sach­la­ge jedoch m.E. nicht hin­rei­chend bewusst. So schlägt die unver­stell­te Iden­ti­tät – z.B. eines noto­ri­sches Nörg­lers – voll im Netz durch. Mir geht immer noch das Schick­sal eines 13-jäh­ri­gen Mäd­chens nahe (rea­ler Fall): Sie hat­te im Schlaf­zim­mer ihrer Eltern in deren Abwe­sen­heit Reiz­wä­sche ent­deckt, eine indi­vi­du­el­le Moden­schau ver­an­stal­tet und sich dabei  selbst foto­gra­fiert. Durch einen blö­den Zufall gelang­ten die Bil­der und mit ihnen ein abso­lut fal­sches Bild von der Iden­ti­tät die­ses Kin­des ins Netz – die gesam­te Umge­bung hat dies gese­hen und mitkonsumiert.

Von sol­chen „Unfäl­len“ rede ich hier eigent­lich nicht, aber die Gefahr die­ser Unfäl­le  mit klei­ne­ren Blech­schä­den gibt es immer wie­der, wenn Kon­trol­le in einem Maße ver­lo­ren geht, das nur im direk­ten sozia­len Umfeld erlaubt sein sollte.

Wir – gera­de auch die in Netz­wer­ken mit­ein­an­der ver­bun­de­nen Men­schen – soll­ten uns der Tat­sa­che bewusst blei­ben, dass Netz­iden­ti­tät nicht voll und ganz authen­tisch sein kann. Daher muss man sich  mei­ner Mei­nung nach nach wie vor tref­fen. Ob man dann immer von­ein­an­der ent­zückt ist? Ent­steht Schön­heit durch das Wis­sen der ver­schrift­li­chen Gedan­ken mei­nes Gegenübers?

Ich hat ein­mal über­legt, in einer Selbst­be­schrei­bung hier im Blog anzu­ge­ben, dass ich gar nicht so bin, wie ich mich hier zei­ge. Und das stimmt und es stimmt auch nicht, so wie das Blatt des Ging­ko dop­pelt und eins zugleich ist:

Gink­go Biloba

Die­ses Bau­mes Blatt, der von Osten
Mei­nem Gar­ten anvertraut,
Gibt gehei­men Sinn zu kosten,
Wie’s den Wis­sen­den erbaut.

Ist es ein leben­dig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Dass man sie als eines kennt?

Sol­che Fra­gen zu erwidern
Fand ich wohl den rech­ten Sinn.
Fühlst du nicht an mei­nen Liedern,
Dass ich eins und dop­pelt bin ?

Johann Wolf­gang von Goe­the 1815

Ist die­ser Blog­post jetzt eigent­lich Wahr­haf­tig­keit oder geschickt gene­rier­te Netzidentität?

Mit Dank an Tors­ten, Mela­nie und Micha­el.

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