Bloch: Der junge Goethe […]

Die­ser net­te Text ist Teil der the­ma­ti­schen Schwer­punk­te für das Abitur 2010 (erhöh­tes Niveau) hier in Nie­der­sach­sen. Mei­ne SuS waren erst­mal etwas befrem­det von Blochs Spra­che (das ist nun­mal bei Phi­lo­so­phen so). Bloch ver­wen­de­te als Vor­la­ge Aus­zü­ge aus Goe­thes auto­bio­gra­phi­scher Schrift „Dich­tung und Wahrheit“.

Glück­li­cher­wei­se hat Bloch den Text­aus­zug schon vor­struk­tu­riert und dabei eine Seg­men­tie­rung in drei Tei­le vorgenommen:

a) Der Wunsch zu zerschlagen

Die­ser Teil rekur­riert auf Auto­bio­gra­phi­sches aus Goe­thes Kind­heit und beschreibt sei­nen inne­ren und äuße­ren Wider­stand gegen­über einem bestimm­ten und her­ri­schen Vater, der ihn spä­ter zu einem ver­hass­ten Jura­stu­di­um in Leip­zig drän­gen wird, in dem er haupt­säch­lich Vor­le­sun­gen zu Lite­ra­tur(!) besu­chen wird – ja selbst der alte Früh­auf­klä­rer Gott­sched dürf­te von ihm gehört wor­den sein.

Bestim­mend ist Goe­thes Wunsch nach indi­vi­du­el­ler Frei­heit: „Die heim­li­che Freu­de eines Gefan­ge­nen, wenn er sei­ne Ket­ten ablöst und die Ker­ker­git­ter bald abge­feilt hat“. Nach Blochs Dar­stel­lung möch­te der jun­ge Goe­the in die­ser Lebens­pha­se per­sön­li­che Frei­heit für sich erreichen.

b) Glück und Leid des Wertherschen

Frei­heit ohne ein Ziel oder einen Sinn machst nicht viel Zweck. Daher rich­tet sich die Suche des jun­gen Goe­the und natür­lich auch die Suche sei­ner Roman­fi­gur Wert­her auf „die Frau“. Er möch­te sich gany­me­disch in einer ande­ren Per­son ver­lie­ren, sich qua­si ent­selbsti­gen. – Bloch zitiert Goe­thes  Ode „Gany­med“ expli­zit. Damit steht „die Frau“ auf einem Sockel, der zur äuße­ren Welt nicht so recht pas­sen mag – obwohl: Eigent­lich ist nicht der Sockel selbst das Pro­blem, son­dern die Gefüh­le, die den Sockel gene­rie­ren, die nicht gesell­schafts­fä­hig sind. Bloch beschreibt die Ent­täu­schung, die aus die­ser Erkennt­nis resul­tie­ren muss, am Ende des Abschnit­tes recht anschau­lich. Inter­es­sant ist für mich dabei beson­ders ein Gedanke:

Der Zusam­men­stoß des uto­pi­schen Gefühls war also nicht nur inner­halb des Lie­bes­welt […]. Die Trä­nen, die Wert­her wein­te, kamen aus über­all gepress­tem Her­zen. Sie waren unbe­frie­dig­te Wün­sche, gehemm­te Tätig­keit, gehin­der­tes Glück, erbit­ter­tes Leid“ (Bloch, S. 1146)

Ich ver­su­che eine Übersetzung:

Das Schei­tern Wert­hers war nicht nur ein Schei­tern in der Lie­be und Ero­tik. Es war ein Schei­tern an den Regle­ments der Gesell­schaft, die indi­vi­du­el­le Frei­heit in der Les­art Wert­hers nicht zulässt durch z.B. bür­ger­li­che Moralvorstellungen.

Gewis­ser­ma­ßen ist das Kind, wel­ches aus dm Eltern­haus aus­zog, noch immer kei­nen Schritt wei­ter: Ledig­lich der Begriff „Vater“ wur­de sub­sti­tu­iert durch den Begriff „Gesell­schaft“. Neu ist aber die Erkennt­nis, dass eines „Du“ bedarf, um Glück zu erlan­gen. Dum­mer­wei­se ist die­ses „Du“ noch eher pro­to­ty­pisch „die Frau“. Hät­te sich Lot­te Wert­her hin­ge­ge­ben, glau­be ich nicht dar­an, dass die Bezie­hung von Dau­er gewe­sen wäre, da die eigent­li­che Suche noch lan­ge kein Ende gefun­den hät­te – irgend­wann im All­tag hät­te es mit Sicher­heit eine „Lot­te 2.0“ gegeben.

c) Die For­de­rung, Pro­me­theus, Ur-Tasso

Was kann jetzt noch fol­gen? Bloch bringt es für mich auf den Punkt:

In Wahr­heit gehör­te der Sturm und Drang, sei­nem gan­zen Inhalt nach, völ­lig zur Auf­klä­rung, obwohl er aus ange­ge­be­nen Grün­den den Begriff davon völ­lig ver­nein­te“ (Bloch, S.1147)

Bloch ver­tritt die uner­hört anmu­ten­de Auf­fas­sung, dass sowohl die Epo­che der Auf­klä­rung als auch der Sturm und Drang im Grun­de das Glei­che woll­ten: Huma­nis­mus, Abschaf­fung der Des­po­tie usw.. Ledig­lich in der Art und Wei­se der Umset­zung unter­schei­den sich für ihn bei­de Epo­chen: Die Auf­klä­rer gin­gen die Pro­ble­me mit dem Kopf, der Ratio­na­li­tät an, die Stür­mer und Drän­ger mit dem Her­zen, dem Gefühl. In den Zie­len waren sie ver­eint gleich­sam den bei­den Lieb­ha­bern, von denen der eine sein Mäd­chen durch Bil­dung und der ande­re sel­bi­ges gleich­zei­tig durch Lei­den­schaft zu gewin­nen trach­tet. Ver­ste­hen wer­den sich bei­de Lieb­ha­ber nie, da ihre Wel­ten ver­schie­de­ne sind.

Wich­tig ist für mich aber eines:

Laut Bloch fin­det der Sturm und Drang sei­ne höchs­te Erfül­lung in der Aus­ein­an­der­set­zung mit dem poli­ti­schen Sys­tem und damit gesell­schaft­li­chen Fra­gen, die im Wert­her allen­falls anklin­gen. Damit geht die Epo­che den Schritt zum „Ihr“, was die Figur Goe­thes nicht vermag.

Zusam­men­fas­sung:

Eigent­lich beschreibt Bloch für mich eine Initia­ti­on des Gedan­ken der sub­jek­ti­ven Frei­heit, die sich mit immer der glei­chen Grund­sehn­sucht erst auf sich selbst (Ich), dann auf ein Objekt (Du) und dann auf die Gesell­schaft (Ihr) rich­tet. Dem Wesen nach wie­der­ho­len sich Gedan­ken und Gefüh­le, jedoch auf immer höhe­rem Ent­wick­lungs­ni­veau: Aus­ge­hend von den Grund­trie­ben der Bedürf­nis­be­frie­di­gung bis hin zu dem Bedürf­nis nach sozia­ler Inte­gra­ti­on als Höchst­maß des Aus­drucks indi­vi­du­el­ler Frei­heit – was sich zunächst zu wider­spre­chen scheint. Wie kann ein Indi­vi­du­um in einer bzw. durch eine Gemein­schaft geret­tet wer­den und dadurch maxi­ma­le Frei­heit erlangen?

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17 Kommentare

  • Pingback: Subjektivismus und ideologische Barrieren - riecken.de - … Irrungen und Wirrungen des Lehrerdaseins

  • Kirstin

    Vie­len dank für die­se aus­führ­li­che Erklä­rung. Jetzt habe ich auch vie­les ver­stan­den. Sehr gut die­se Sei­te. Top! :-)

  • Carsten

    Hal­lo Maik!

    Dan­ke für die­se erklä­ren­den Zei­len zum Bloch-Text! Habe ihn gera­de als Wie­der­ho­lung zur Unter­richts­se­quenz „Der jun­ge Goe­the“ ein­ge­setzt und war mit mei­nen Schü­ler anfangs doch etwas ratlos.
    Wer­de mei­nen Schü­lern dei­ne Sei­te emp­feh­len, um sich noch witer schlau zu machen!

    Lie­be Grü­ße aus Vechta!
    Dein Ex-Kol­le­ge Carsten

  • Hi Cars­ten!

    Das ist das Inter­net, so sieht man sich wie­der. Schön, dass ich hel­fen konnte.

    Gruß,

    Maik

  • Annika Bielawny

    Hey :)
    Ist das alles aus dem Bloch Text,was man fürs abi brauchst ? hab hier gera­de einen viel län­ge­ren text vor mir liegen!?

    Lie­be Grü­ße Anni

  • Schau‘ es dir vor­sichts­hal­ber in den ver­bind­li­chen Vor­ga­ben zum Abitur 2010 auf http://www.nibis.de noch­mal an – du soll­test das auch als Kopie von dei­ner Lehr­kraft erhal­ten haben.

    Gruß,

    Maik

  • Amira

    Ich find es echt toll, dass Sie als Leh­rer so eine hilf­rei­che Sei­te gestal­tet habe! Echt gut so etwas!!! 

    Aber eine Fra­ge bzw. Vergewisserung:
    Der Text sagt doch nichts über das Kunst­er­le­ben und Sprach­stil des jun­gen Wert­hers aus, son­dern ein­fach nur über Autobiographisches??!! 

    Sind mit dem Punkt Dich­tung bei den Nibis Anfor­de­rung nur sei­ne Gedich­te gemeint?? Das wür­de doch dann aber schon zu dem Punkt davor gehö­ren! (also, dass was für alle gilt, und bezieht sich nicht expli­zit auf den LK)

    Lie­ben Gruß

  • Hal­lo Amira!

    Erst­mal dan­ke für dein Lob. Da die Auf­ga­ben zen­tral gestellt wer­den, sit­zen Lehr­kräf­te und SuS lei­der in einem Boot, was die Aus­le­gung der Vor­ga­ben genau angeht. Und nach *mei­ner Mei­nung* geht es bei Bloch gera­de um mehr als Auto­bio­gra­phi­sches, denn er geht schließ­lich mit dem „wir“ ent­schie­den über die Ent­wick­lungs­stu­fe von Wert­her hinaus…

  • Nadine Hölmer

    Hal­lo Herr Riecken!

    Wun­der­ba­re Sei­te, Sie ret­ten mir gera­de die wohl­ver­dien­ten Mit­tags­pau­se, weil ich un nicht alles allei­ne erar­bei­ten muss. Wir haben den Text lei­eder nur aus­ge­hän­digt bekom­men und als unbe­spro­che­ne Haus­auf­ga­be so ste­hen las­sen. Nun stand ich natür­lich vor einem Rätsel.

    Mei­ne Fra­ge: War­um heißt der letz­te Abschnitt „Die For­de­rung von Pro­me­theus, Ur Tas­so“? Und was genau ist Ur-Tasso? 

    LG Nadi­ne =)

    • Hal­lo Nadine,

      Auf die Schnel­le habe ich nur das hier gefunden:
      http://www.kerber-net.de/literatur/deutsch/drama/goethe/werke/tassopr.htm

      Zitat:
      „Anders als im »Ur-Tasso«, der wohl aus­schließ­lich die legen­dä­re Lie­bes­be­zie­hung des his­to­ri­schen Tas­so, eines ita­lie­ni­schen Dich­ters der Spät­re­nais­sance (1544–1595), zu einer Prin­zes­sin gestal­te­te, rückt jetzt das pro­ble­ma­ti­sche Ver­hält­nis des Dich­ters zur Gesell­schaft ins Zen­trum der Handlung“ 

      Hört sich erst­mal gut an – ob es stimmt, müss­te ein Blick in den Kom­men­tar der Ham­bur­ger Gesamt­aus­ga­be von Goe­thes Wer­ken klä­ren kön­nen oder ein ent­spre­chend gut refe­ren­zier­ter Arti­kel bei Wiki­pe­dia, aber dazu habe ich jetzt kei­ne Lust… Mich macht stut­zig, dass das ja eher wie­der in die Rich­tung „Lie­bes­be­zie­hung“ und nicht „Gesell­schaft“ geht. Du Fra­ge ist des­we­gen cool, weil es ent­schie­den bes­ser pas­sen wür­de, Goe­thes klas­si­schen Tas­so in der Über­schrift zu erwäh­nen. Aber: Ob der­ar­ti­ge Gedan­ken abi­re­le­vant sind? Who knows? Nicht fest­bei­ßen. Erst den Adler­blick und dann die Fisch­lein picken.

  • Rike

    Die Erläu­te­run­gen sind wirk­lich super! In mei­nem Deutsch-LK haben wir den Text näm­lich gar nicht durch­ge­nom­men. Nicht mal eine Kopie wur­de uns gege­ben. Erst beim genaue­ren Durch­le­sen der Abo­tur­vor­ga­ben ist uns auf­ge­fal­len, dass wir den Text ja auch ken­nen müssen.
    Also vie­len Dank!

  • Juliane

    Auch ich möch­te mich noch mal bedanken.
    Bis vor ein paar Wochen dach­te ich unser Deutsch­leh­rer hät­te uns super auf das Abi vor­be­rei­tet. Dies stell­te sich jedoch als kom­plet­te Fehl­an­nah­me dar, als ich die Schwer­punk­te bei nibis gründ­lich durch­ge­le­sen hatte.
    Gan­ze sechs Tex­te hat­ten wir nicht bearbeitet!!!
    Ohne die­se wun­der­ba­re Sei­te und ihre Hil­fe wäre ich abso­lut ver­lo­ren gewesen!!!!
    Als ich die Tex­te für mich bear­bei­tet habe, ist mir auch eini­ges auf­ge­fal­len, aber Sie haben doch auch noch ande­re Gesichts­punk­te auf­ge­führt, auf die ich von allein nicht gekom­men wäre.
    Ein rie­sig gro­ßes DANKE!!
    Ich kann Sie nur weiterempfehlen.

    Lie­be Grüße

    DANKE!!!!!!

  • SunnyMarry

    Lie­ber Herr Riecken,

    ich muss Ihnen wirk­lich ein gro­ßes Lob für die­se Sei­te aus­spre­chen, mehr noch für Ihr Engagment!
    Ich wünsch­te, ich hät­te mehr Leh­rer wie Sie in mei­ner Ober­stu­fen­pha­se gehabt!

    Herz­li­che Grüße,
    Sunny

  • Michael

    Ich kann mit Sun­nyMar­ry nur anschlie­ßen, so viel Enga­ge­ment ist bewun­derns­wert. Mir geht es ähn­lich wie eini­gen ande­ren in den Kom­men­ta­ren auch: Tex­te wur­den nicht oder nicht aus­gie­big bespro­chen. Schön, dass es Inter­net­sei­ten wie die Ihre gibt.

    Vie­len Dank.

    Mit freund­li­chen Grüßen
    Michael

  • Constantin T.

    Vie­len Dank für die­sen Text! Ist wirk­lich hilf­reich! Diens­tag geht es ja schon los. So lang­sam bekommt man dann doch Respekt vor dem Abi!

    Wie auch immer, auch ich habe ein Frage:
    Sie schreiben:
    „Neu ist aber die Erkennt­nis, dass eines “Du” bedarf, um Glück zu erlan­gen. Dum­mer­wei­se ist die­ses “Du” noch eher pro­to­ty­pisch “die Frau”.“

    1. Wie­so braucht es ein „DU“ um glück­lich zu werden.
    2. Wenn Lot­te bzw Die Frau im All­ge­mei­nen die­se Suche nicht befrie­digt hät­te, auf wen oder was wol­len sie dann hin­aus? Auf die ent-/Ver­selbsti­gung in gott?

    vllt schaf­fen sie es ja schnell zu antworten
    mfg Constantin

  • Wie­so braucht es ein “DU” um glück­lich zu werden?“

    Bezo­gen auf den Text oder auf das Leben gene­rell? Für mich steht das so in Blochs Text, so ver­ste­he ich ihn.

    Der Gedan­ke mit Lot­te ist ja eine Spe­ku­la­ti­on – rei­ne Fik­ti­on. Aber stel­le dir einen Stür­mer und Drän­ger wie Wert­her ein­mal in einer durch­schnitt­li­chen Ehe vor. Ob er wirk­lich jeden Tag freu­dig die Son­ne auf­ge­hen sieht? Er möch­te ja ech­te, bewe­gen­de Gefüh­le – ohne zu wis­sen, was das eigent­lich bedeutet.
    Und wenn du einen Men­schen nicht nur glanz­punkt­ar­tig, son­dern im All­tag ken­nen lernst, erfor­dert das doch schon ein wenig mehr als Schmet­ter­lin­ge im Bauch, um nach­hal­tig eine Bin­dung auf­zu­bau­en und zu erhal­ten. Wenn dann Wert­her die nächs­te Frau über den Weg läuft, in die er sich wie­der neu ver­lie­ben, d.h. durch­aus auch gany­me­disch ent­selbsti­gen kann, was dann? In mei­nen Augen war es das dann mit Lotte.
    Goe­the hat­te sei­ne längs­te „Beziehung/Freundschaft“ zu Char­lot­te von Stein, die sich stets zu gro­ße Nähe ver­bo­ten hat. Die Frau­en zu sei­ner Sturm und Drang Zeit – das ging allen­falls über Monate…

  • zendor

    Hal­lo,
    Das ist wirk­lich eine super hil­fe ! Könn­ten sie mir aber vlt noch­mal kurz erläu­tern was sie genau mit gany­me­disch entsel­bi­gen mei­nen? ich ver­steh das lei­der nicht ganz :(

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