Schulkritik und Komfortzone
Ich habe gestern die Dokumentation „Jugend ohne Abschluss“ aus der Reihe „45 Minuten“ des NDR gesehen:
https://www.youtube.com/watch?v=tYOJ0nllvC4
Mir wird bei sowas immer wieder klar, dass sich Schule nicht durch Verstellen einiger Schrauben verändern lässt.
Selbst wenn wir Dinge wie veränderte Prüfungskultur, sinnstiftendes Lernen und Projektlernen umsetzen, würde sich ohne weitere gesellschaftliche Parameter wahrscheinlich wenig ändern – vorausgesetzt, wie bekämen ohne das Schrauben an anderen gesellschaftlichen Parametern das überhaupt hin.
Das hat für mich damit zu tun, dass Aufwachsen in einer Gesellschaft dem Aufwachsen in einer Herde gleicht und Pädagogik für mich eigentlich eine Aufgabe der Herde ist, bzw. dass in der Realität die „Herde“ das implizit immer tut und übernimmt.
Die Schüler:innen in der Dokumentation sind für mich geprägt von ihrer persönlichen Entwicklung in einer Gesellschaft, zu der das Schulsystem sachlogisch ganz gut passt und die Erfahrungen des Versagens verstärkt. Aber Schule ist eben ein Lernort von vielen, veränderte Prüfungskultur, sinnstiftendes Lernen und Projektlernen kann nicht voraussetzungslos stattfinden und vollzieht sich immer auf der Basis der gesellschaftlichen Prozesse, in die Schule nunmal eingebunden ist.
Sorgt z.B. gendergerechte Sprache dafür, dass die Benachteiligung von Frauen in einer Gesellschaft mit kapitalistischem Betriebssystem abgebaut wird? Würde eine Gesellschaft, in der Frauen nicht mehr benachteiligt sind, eine andere Sprache hervorbringen? Würde eine Gesellschaft mit einem anderem Betriebssystem eine andere Schule hervorbringen oder eine veränderte Schule eine andere Gesellschaft?
Was wir seit Jahren gut können, ist zu beschreiben, was wir wollen. Wir suchen uns dafür einzelne Aspekte heraus, die wir besonders gut beschreiben können. Digitalisierung, Prüfungsformate
Gendergerechte Sprache beschreibt für mich bisher lediglich einen Wunsch. Historisch hat Sprache immer Gesellschaft abgebildet. Hat veränderte Sprache allein schonmal gesellschaftliche Verhältnisse verändert? Besteht nicht die Gefahr, dass nach anfänglicher Irritation über „vergewaltigte“ Sprache angenommen wird, dass Frauen jetzt doch schon ganz schön mehr gleichberechtigt sind? Oder dass durch eine veränderte Prüfungskultur das kapitalistische Betriebssystem automatisch umprogrammiert wird?
Übrigens: Humanistische Pädagogik ist im Rahmen der Beratung von Unternehmen durchaus salonfähig geworden, um Gewinnmaximierung unter dem Deckmantel von „Kommunikationsprozessen auf Augenhöhe“ zu betreiben. Die Hierarchien sind noch vorhanden – und vielleicht bloß stealth georden hinter „aktivem Zuhören“, „Joining“ und „Socializing“.
Warum sollte sich z.B. sinnstiftendes Lernen nicht ebenfalls nach einer kapitalistischen Logik nutzen lassen?
„Liebe Mitarbeiter:innen, 30% eurer Arbeitszeit könnt ihr mit euren sinnstiftenden Projekten verbringen, das habt ihr in der Schule prima gelernt, aber weil wir so gut zu euch sind und das überhaupt erst ermöglicht, haben wir das Vorkaufsrecht auf eure Ideen!“.
Ist damit z.B. die Forderung nach einer veränderten Prüfungskultur am Ende ein Feigenblatt? Ist gendergerechte Sprache am Ende ein Feigenblatt? So quasi eine Art intellektueller Ablasshandel? „Seht, ich habe es gesehen und beschrieben, lest und versteht endlich! Und macht endlich, dass es sich ändert!“.
Menschen, die sich für Gleichberechtigung einsetzen, wissen, dass Sprache das dünnste Brett ist – aber eben am leichtesten zu bearbeiten, weil man dann weniger mit dem Stecheisen im Hartholz herumwürgen muss. Gendergerechte Sprache als intellektuelle Komfortzone. Darüber lässt sich schreiben, streiten, diskutieren, ohne dass es allzu dicht kommt. Weder muss ich als Mann dafür meinen Angestellten mehr zahlen, noch meinen gleichberechtigten Teil bei der Hausarbeit oder Kinderbetreuung leisten. Ein wenig Genöle auf Socialmedia oder in den Feuilletons ertragen, das war es auch schon.
Ich denke gerade viel darüber in meinen Beratungen über diese Strukturen nach – ist ja schon irgendwie auch eine schräge Analogie. Meine Position ist verdammt komfortabel. Ich muss meine Haltung nicht ändern oder meine Arbeitsroutinen. Das ist oft auch der Grund dafür, dass ich mich manchmal bewusst in andere Positionen begebe und im meinem privaten Umfeld die Vielfalt suche. Ich bin sehr glücklich, dass ich dabei auch manchmal ungefiltert rückgemeldet bekomme, „wie das so ankommt in dieser Realität“.
PS:
Ich verwende zunehmend gendergerechte Sprache und setze mich für veränderte Routinen im Schulsystem ein. Die diesem Einsatz verbundene „Leistung für gesellschaftliche Verhältnisse“ halte allerdings in meinem Fall nicht für besonders relevant. Die Magie kommt für mich von woanders. Und manchmal fängt sie ganz banal an, z.B. bei der Unterstützung bei der Einrichtung von irgendwelchem Gerätekrams.
Scharfe Kritik! Dieser Beitrag wirft bei mir die Frage auf, ob Schule nur Entwicklungen in der Gesellschaft widerspiegelt und „Herdenvieh“ ausbildet oder ob sie auch negativen Trends entgegenwirken sollte, was dem Begriff „Bildung“ in seiner Semantik auch eher entspricht.
Natürlich letzteres – im Idealfall. Aber ich wollte zum Ausdruck bringen, dass dafür einiges mehr mitgedacht sein muss, weil Schule tief in die deutsche Gesellschaft eingebunden ist. Nimm zum Beispiel die Stellung des Gymnasiums … Und das ist beileibe kein Plädoyer für die Abschaffung des gymnasialen Anspruchs (wie er fachlich mal war).
Finde die Kritik echt gut und hast also recht. Mein Cousin hat die Schule auch abgebrochen und jetzt holt er alles auf, macht auch eine Ausbildung.
Er hatte Probleme mit der Schule, die er nur mit einem Schulabbruch lösen könnte. Diese Pandemie hat bei einigen die Sache noch schlimmer gemacht, besonders mit dieser Online Schule usw. Da kann ich dem User Fufuchs auch zustimmen, hat auch alles gut erklärt.