Entidentifizierung – eine Gefahr für „Bildung“ unter Coronabedingungen
Warum bin ich medienpädagogischer Berater? Warum bin ich das in Vollzeit? Warum bin ich nicht mehr in der Schule?
Jeder Mensch hat zwei Arbeitsverträge:
Der erste regelt das Formale. Wie viel Geld? Wie viele Stunden? Welche Spesen? Welcher Urlaubsanspruch? usw.
Der zweite regelt das Informelle:
Fühle ich mich an meinem Arbeitsplatz wohl? Kann ich die Ziele der Institution oder des Betriebes engagiert mittragen? Habe ich funktionierende soziale Netzwerke in meinem Arbeitskontext? Steht das, was ich in meine Arbeit „stecke“, in sinnvoller Relation zu der Wertschätzung, die mir auf der Arbeit u.a. von Vorgesetzten entgegengebracht wird?
Was Institutionen sowie Betriebe sehen und wahrnehmen, ist die Kündigung des ersten Arbeitsvertrages. Wenn das zu überhand nimmt, erfolgen spätestens Maßnahmen zur Organisationsentwicklung. Wenn diese gut ist, schaut sie auf den Zustand der „zweiten“, inneren Arbeitsverträge.
Schule ist besonders. Viele dort tätigen Lehrkräfte haben nach spätestens 10 Jahren keine sinnvolle Ausstiegsoption ohne das Risiko des Komplettverlustes der Altersversorgung. Auch vor diesem Hintergrund wäre es meines Erachtens sinnvoll, hier zukünftig umzudenken und die gesetzliche Rentenversicherung zumindest zu ermöglichen – auch den Beamt:innen. Die Möglichkeiten, sich innerhalb des Systems Schule neue Arbeitsfelder zu erschließen, sind sehr begrenzt.
(Randnotiz: Die Medienberatung nimmt offenbar an Attraktivität zu. Sehr viele sehr kluge und kompetente Menschen wollen zu uns. Das war einmal anders. Viele von ihnen wollten bisher lieber an Schule sein.)
Die innere Kündigung führt in Schule zur Ausbildung von Wohlfühlblasen: Ich umgebe mich mit Menschen, die zu mir passen. Ich schaffe mir Freiräume in meinem Unterricht (die ich aber oft nicht teilen darf, ohne mit dem umgebenden System zu kollidieren). Ich finde Strategien, um für mich sinnlose Situation zu überstehen und auszusitzen.
Eine Wohlfühlblase ist fragil, weil ihre Stabiltät und Verlässlichkeit nicht allein von mir bestimmt wird: Die Lieblingskolleg:in lässt sich versetzen. Ein bisheriges Herzensthema wird von Menschen übernommen, die sich mit meiner Vorarbeit innerhalb der Schulgemeinschaft profilieren – das kann ich nicht beeinflussen.
Kündigen Mitarbeitende innerlich, sind Werte und Ziele der Institution oder des Betriebes in Gefahr. In guten Organisationen identifizieren sich viele Mitarbeitende mit ihrer Einrichtung. Erst so werden gemeinsame Handlungen möglich – gerade im pädagogischen Bereich ist das immens wichtig für die Orientierung von z.B. Kindern und Jugendlichen.
Das Gemeinsame stirbt durch den Prozess der Entidentifizierung und weicht der Konkurrenz und dem Kampf der Wohlfühlblasen unter- und miteinander.
Ich stelle mir gerade helle Köpfe in den Kultusministerien vor, bzw. muss ich mir sie gar nicht vorstellen – ich kenne tatsächlich eine ganze Anzahl hier in Niedersachsen. Ich stelle mir vor, dass es dort sehr gute Ideen über die Entwicklung von Schule in der Zukunft gibt.
Welche Erfahrungen machen gerade Lehrkräfte bei der „Coronastrategie für Schulen“ – das muss man sich immer klarmachen – mit Teilen(!) der an Kultusministerium tätigen Menschen und der Politik? Ich glaube, dass es zur Zeit viele politische Entscheidungen gibt, die Lehrkräfte von dem System entfremden, was sie bisher vielleicht noch leidlich unterstützend im Hintergrund wahrgenommen haben.
Helle Köpfe in Kultusstrukturen werden es nach Corona sehr schwer haben, Vertrauen aufzubauen – weil ich vermute, dass sich viele Lehrkräfte von ihrem Dienstherrn bzw. den dahinterliegenden Strukturen gerade entidentifzieren. Die Mutigen kritisieren öffentlich – das hat es in dieser Ausprägung in meiner gesamten Amtszeit noch nicht gegeben, obwohl es bei anderen Themen Schieflagen gab: Chancengerechtigkeit, Inklusion etc..
Ich sehe viel Erschöpfung. Die gefährlichste Erschöpfung für eine Organisation ist langfristig die, die heute zu Resignation führt: „Von oben ist nichts zu erwarten. Ich muss den Schüler:innen gerecht werden, dafür brenne ich, dafür brauche ich meine Kraft!“ Das sagt niemand, aber ich bilde mir ein, genau das zu spüren. Die öffentlich Kritischen haben ein Ventil. Die stehen notfalls auch alleine aufrecht. Die Kultusbürokratie täte m.E. sehr gut daran, da hinzuhören und ins direkte Gespräch zu gehen – unter dem Schutz der Öffentlichkeit.
Ich bin privilegiert. Ich bekomme mein Geld ohne Abzüge. Deswegen habe ich auch die Verpflichtung, gerade jetzt besonders viel zurückzugeben. Aber wie weit darf das gehen? Die Grenze ist erreicht, wenn die eigene Gesundheit gefährdet ist. Und viele, die als Lehrkraft oder Schulleitung in der Mühle des Systems stecken, gehen momentan über diese Grenze hinaus. Schule braucht Menschen die brennen. Meine Kinder brauchen das. Identifikation halte ich für einen der maßgeblichen Brennstoffe überhaupt.
Die Kritiker an der Kultusbürokratie und deren Maßnahmen gehen m. E. von einer falschen Prämisse aus: Das Ministerium trifft die Entscheidungen nicht in voller Kenntnis aller möglichen Folgen oder unter vollständiger Berechnung etwaiger Opportunitätskosten.
Schließlich kann das derzeit niemand, denn niemand hat dafür ausreichend Informationen.
Platt gesagt: Man wurschtelt sich auch in Hannover genauso durch wie in Berlin und anderswo.
Warum nur unterstellen so viele Lehrkräfte den Entscheidern, sie entschieden nicht nach bestem Wissen und Gewissen?
Niemand dort wird (im Mindesten doch schon aus Eigennutz) kranke Lehrkräfte billigend in Kauf nehmen.
Man wägt halt Risiken und Notwendigkeiten ab – möglicherweise irgendwann rückblickend falsch, aber doch sicher nicht leichtfertig.
>Die Kritiker an der Kultusbürokratie und deren Maßnahmen gehen m. E. von einer falschen Prämisse aus: Das Ministerium trifft die Entscheidungen
Diese Prämisse ist noch falscher: Es ist nicht das Kultusministerium, das die aktuell wichtigen Entscheidungen trifft; es ist allenfalls für Kommunikation zuständig, und an der kann man zurecht herummäkeln.
>Warum nur unterstellen so viele Lehrkräfte den Entscheidern, sie entschieden nicht nach bestem Wissen und Gewissen?
Der Tonfall der Kommunikation. Das sind in der Regel gönnerhafte, wenig glaubwürdige Begründungen und fehlende Erklärungen. Vielleicht geht es nicht anders, es ist sicher nicht leicht.
(Dazu kommt bei mir schlechte Erfahrung aus Arbeitsgruppen am Kultusministerium und persönliche Bekanntschaft mit Leuten, die dort arbeiten. Da gibt es solche und solche.)
- Danke für das Konzept der Wohlfühlblasen! Nachdenken muss ich noch über das Verhältnis von Wohlfühlblase und Identifikation, inwiefern das erste das zweite behindert oder nicht. Wohlfühlblasen kann man sich nur an der eigenen Schule schaffen, Identifikationen, wie sie oben erklärt ist, hieße dann: mit dem ganzen Bildungssystem.
Raus aus dem ganzen System kann ich in der Tat nur schlecht. Eine Wohlflühlblase an der Schule habe ich mir sicher geschaffen. Aber es hilft, dass ich eigentlich immer mal die Schule wechseln will, so dass ich das alles nur temporär sehe – auch wenn ich den Wechsel vielleicht nicht wirklich schaffe. (Ist der Wechselwunsch jetzt gut oder schlecht für die Identifikation?)
„Ist der Wechselwunsch jetzt gut oder schlecht für die Identifikation?“
Das ist für mich auch eine Frage der Perspektive: Eine Schulleitung wird das anders sehen als die einzelne Lehrkraft. Schon ein einmaliger Versetzungsantrag kann das Verhältnis da schon sehr trüben. Oder man muss sehr gut kommunizieren …
Wohlfühlblase und Identifikation
Ich glaube, dass das im Großen und im Kleinen gilt. Auch an einer Schule können intern Wohlfühlblasen unter Druck geraten. Ich kenne eine Schule, an der der Schulleiter alle Kopierer abgeschafft hat (die Klassenräume haben digitale Vollausstattung). Das ist dann schon mehr als sanfter systemischer Druck.
„Es ist nicht das Kultusministerium, das die aktuell wichtigen Entscheidungen trifft“
Das Kultusministerium hat aber einen gewissen rechtlichen Spielraum. Es kann Pläne entwickeln für denk- und erwartbare Szenarien. In Niedersachsen gab es Anordnungen zum Ausgleich der Defizite aus dem ersten Lockdown, die unmittelbar im Aufflammen der zweiten Welle kamen. Ungünstig. Dafür gab es Ressourcen und Gedanken.
Und es gab durchaus konkrete ausgearbeitete Schulszenarien. Was es nicht gab, waren konkrete Bedingungen, unter denen diese wirksam werden sollten. Damit hätte es eine Planbarkeit gegeben. Das liegt nicht nur am MK. Und das ist ist schwierig. Aber dann muss man transparent machen, inwiefern man da mit den Gesundheitsbehörden in Kontakt war und was man unternommen hat, diese Planbarkeit herzustellen. Das kann ja an Widrigkeiten, die man nicht zu verantworten hatte, gescheitert sein.
Wenn man die Entscheidungsgewalt bei den lokalen Behörden sieht, dann sollte man diesen diese Entscheidungsgewalt auch anvertrauen. In diesem Kontext wäre es absolut unglaubwürdig und kontraproduktiv, sich öffentlich gegen die lokalen Behörden zu stellen. Das darf dann nicht passieren.
Es gibt in Niedersachsen fast jede Woche persönliche Briefe an die Kollegien, die immer über den Status Quo informieren. Das ist in dieser Form ein absolutes Novum und es ist bis zu einem gewissen Grad sehr gut.
Schön wäre aus meiner Sicht zusätzlich die Ausstattung jeder Schule mit Masken für die Kolleg:innen. Oder Ausgleichszahlungen an die Träger. Oder eine temporäre Zulage. Irgendein Zeichen: „Unter schwierigen Bedingungen kümmern für uns wenigstens darum für dich!“ In acht Monaten sollte das auch im Kontext von Ausschreibungsrecht und anderen Widrigkeiten irgendwie zu schaffen sein.
„Kauf mal von deiner Alimente! Du hast Glück, dass bei dir nichts gekürzt wird!“ wäre eine Haltung (die gibt es so auch nicht), die ich für schwierig halte. Auf der anderen Seite steht ja ein Risiko. Dieses wird aber heftig bestritten, ohne dass es eine Datenbasis dafür gegeben hätte. Da wird es dann schon sehr herausfordernd.