Von uns Gralshütern – oder wie Beratung in sozialen Medien scheitern muss
Es gibt auf Twitter bestimmte Plots, die immer wieder ablaufen:
- Jemand gibt bekannt, das er/sie eine Klasse mit Geräten neu übernimmt und fragt nach Programmen, Tipps und Ressourcen
- Das wird dann kommentiert mit Hinweisen wie: „Aber so oder so muss das doch scheitern, es gibt ja kein Konzept!“
- Dann schalten sich Twitterautoritäten ein und verweisen auf Theorieartikel und beschreiben, inwiefern diese oder jene Vorgehensweise alte Strukturen zementieren würde.
- Vielleicht erbarmt sich noch irgendwer und gibt eine lösungsorientierte Antwort.
Ich habe mich oft genug in den Schritten 2–3 eingeschaltet und in Konzept- und Visionsblindheit dabei fleißig mitgemacht.
Ich habe mittlerweile Fragen zu solchen Abläufen, die oft genug fast schon reflexhaft sind:
- Für viele Lehrkräfte ist es eine Überwindung, sich in sozialen Netzwerken anzumelden. Meist hören sie dann zunächst nur still mit.
- Für viele Lehrkräfte ist es eine Überwindung, sich zu trauen eine Frage zu stellen, die im Kern eigentlich auf ihr eigenes Unwissen zurückverweist. Sie vertrauen implizit – in Unkenntnis der Dynamiken auf Socialmedia darauf, dass nur Menschen reagieren, die lösungsorientiert agieren. Sie bekommen aber Metaanalysen, die sie und ihr Handeln infrage stellen.
- Viele Lehrkräfte befinden sich hinsichtlich ihrer Entwicklung in Bezug auf den Einsatz digitaler Geräte oder gar im Hinblick auf eine veränderte Schulkultur ganz am Anfang.
Das Ziel von uns Medienfuzzies ist ja irgendwie, einen Rahmen zu schaffen Kompetenzen innerhalb der Lehrerschaft zu entwickeln. Indem auch ich mich lange Zeit so verhalten habe, habe ich dieses Ziel oft genug aus den Augen verloren. „Papperlapapp – wer sich öffentlich so äußert, muss sich mit sachlicher Kritik auseinandersetzen!“ Vor einer Gruppe öffentlich in diesem Reallife wie sachlich auch immer kritisiert zu werden, ist schon nicht leicht – man braucht gute Reframing-Techniken, um nicht auf die persönliche Ebene zu rutschen. In der völlig schutzlosen Socialmedia-Öffentlichkeit ist das bestimmt noch viel schwieriger.
Daher entgleisen Diskurse: „Du stellst mich infrage, das muss ich mir hier nicht bieten lassen!“ vs. „Sachlicher Kritik muss man sachlich begegnen, das gehört zum Erwachsensein!“. Hinterher sind beide muksch – wie man hier im Norden sagt und gewonnen ist auch so ziemlich gar nichts – denn: Die „sachlichen Gralshüter“ werden lediglich in „Sonderblasen“ isoliert, ignoriert, entfolgt. Und das in einem Umfeld, das an sich schon eine winzige Blase in der Lehrerschaft ist. Insbesondere der Verhältnis zwischen Schule und universitärer Didaktik ist meiner Auffassung nach ein Musterbeispiel für diese Art von struktureller Verhärtung. Ein guter Kontakt zur Informatikdidaktik in Oldenburg hat mich gelehrt, dass es ganz anders gehen kann.
Ich mag Theorie sehr, sehr gerne und ich finde Kritik wichtig. Aber Sachlichkeit ist lediglich ein notwendiges Kriterium von Kritik und kein hinreichendes. Ich möchte zukünftig mehr anerkennen, dass es bei meiner Entwicklung Phasen der unreflektierten Techniknutzung gab und gibt. Und diese Phasen sind auch wichtig! Entscheidend waren für meine Entwicklung persönliche Begegnungen und Rahmenbedingungen, in denen Kritik mich auch erreichen konnte. Socialmedia ist dafür überhaupt kein guter Rahmen. „Missionieren“ kann man anderswo implizit viel besser. Und das sollte man meiner Meinung nach gerne tun.
Gerade Twitter führt oft genug in Versuchung, eine Person auf Basis einer einzigen Äußerung zu bewerten. Das ist mir selbst auch schon passiert. Systemisch ist das komplett falsch und es kann nicht auch nur zu irgendwas führen.
Da bin ich ganz bei dir! Ich halte es auch nicht für ausgeschlossen, dass der ein oder andere „Gralshüter“ auch mit gewisser Lust seine „Watschn“ verteilt (und andere sich bewusst zum „Antigralshüter“ berufen fühlen). Wie auch immer: Missionieren ist immer schlecht.
Viele Grüße von unweit des aktuell heißesten Corona-Hotspots, aber die Fleischindustrie gibt’s bei euch ja auch!
Hokey
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