Mich unbeliebt machen
Gerade höre ich mir eine CD-Aufnahme eines Stückes an, welches mein Chor eingesungen hat. Ich habe dabei eine Strophe solistisch gesungen. Im Großen und Ganzen gefällt mir mein Part, aber es gibt mindestens drei Stellen, an denen entweder ein Ton zu sehr gezogen ist oder nicht ganz 100%ig stimmt. Trotz Tontechnik lässt sich da nicht viel machen.
Seine eigene Stimme zu hören, zu ihr Distanz bekommen, sie erstmal „zu ertragen“, sie als das zu nehmen, was andere von mir gewohnt sind zu hören, ist ein hoher Anspruch. Wie viele Lehrkräfte tun sich schwer damit, ihre Stimme objektiv und frei von „Anstellerei“ zu betrachten. Dabei ist die Stimme unser zentrales Werkzeug. Um jetzt noch musikalisch zu hören, ist ein sehr geschultes Ohr erforderlich. Wie streng man dann mit sich selbst ist, hängt wiederum von den eigenen Ansprüchen und dem eigenen Entwicklungswillen ab.
Damit ich meine Stimme kriteriengeleitet bewerten und entwickeln kann, benötige ich also:
- Distanz zu meinen Lautäußerungen
- Bewusstsein, dass meine Stimme ein Werkzeug ist
- Ein musikalisch geschultes Ohr
- Anspruch an meine Person
- Entwicklungswillen
Ein Fünftklässler hat einen Text verfasst. Im Unterricht wurden Kriterien festgelegt, was einen guten Text ausmacht. Er erhält ein Kompetenzraster und soll einschätzen, welche Kompetenzen er mit seiner momentanen Textproduktion noch entwickeln muss und was schon gut gelingt. Im Idealfall kann er dabei auf Rückmeldungen der Lehrkraft und auf Peer-Reviewing zurückgreifen. Seine Kompetenzentwicklung wird strukturiert in Form von Lernentwicklungsberichten fortgeschrieben, die sich auf Kompetenzraster stützen. Dabei kommt eine Lernplattform zum Einsatz. Das geschieht in jedem Fach.
Wovon wird der Erfolg dieser Methodik abhängen?
- Der Schüler muss Distanz zu seinem eigenen Text aufbauen können
- Dem Schüler muss klar sein, dass Schreiben ein Prozess der strukturierten Gedankenniederlegung ist, der nicht nur im beruflichen Leben, sondern fächerübergreifend Bedeutung hat (der oft bemühte Begriff der Sinnbildung).
- Der Schüler muss sicher hinsichtlich der anzuwendenden Bewertungskriterien sein
- Der Schüler muss einen Anspruch gegenüber seiner eigenen Textproduktion haben
- Der Schüler muss sich im Schreiben entwickeln wollen
Ich glaube, dass unsere fiktiver Schüler sich letztlich als ein Erwachsener verhalten soll – wobei ich nicht glaube, dass viele Erwachsene über ebendiese Kompetenzen verfügen – auf diese Idee könnte man kommen, wenn man manche wissenschaftliche Abhandlungen liest.
Unser Schüler soll das nach dem Willen der Elfenbeinturm- und Grüntischbildungsforschern ja nicht nur mit seinem Text tun, sondern auch in Mathe, Biologie, Kunst, Religion usw..
Ich habe wenig Ahnung von Pädagogik und und Entwicklungspsychologie. Dazu lese ich zu wenig wissenschaftliche Abhandlungen. Ich kann daher nur unwissenschaftlich glauben.
Ich glaube, dass man mir überzogene Erwartungen hinsichtlich der Entwicklungsansprüchen gegenüber meiner Stimme nachsagen kann – mir als Erwachsenen.
Ich glaube, dass allmählich klar wird, worauf ich hinauswill.
Die Kompetenzrasterei – wenn sie so wie oben stattfindet – geht für mich von einem idealtypischen Menschenbild aus. Ich finde es eher „normal“, dass junge Menschen nicht immer entwicklungswillig, selbstdistanziert, anspruchsvoll gegenüber sich selbst und sinnbewusst sind. Genau das macht – vielleicht ketzerisch gesprochen – für mich die menschliche Entwicklung aus. Das ist in Ordnung.
Und mein Job ist es, damit umzugehen, Nähe und Distanz klar auszutarieren, mal klassisch-industriell zu schulen (weil ich besser weiß, was gut für den Schüler ist) und mal auf verantwortbare, alters- und entwicklungsgemäße Selbststeuerung zu vertrauen.
Mir schlägt das Pendel entschieden zu weit Richtung Kompetenzorientierung aus. Das ist vielleicht notwendig, um Schulstrukturen erstmal zu hinterfragen und mag dort seinen Sinn haben. Ich finde das Ziel des idealen Menschen super.
Es ist aber ein idealistisches Ziel und transportiert damit im Kern das, was der Materialismus dem Idealismus immer schon vorgeworfen hat: Es ignoriert oft genug die Genese und das Umfeld eines Menschen („Moral muss man sich leisten können!“). Es macht primär dem Lehrenden ein gutes Gewissen. Er kann jetzt ja – überzogen formuliert – einen Teil der Verantwortung abgeben.
Ich bin froh, dass meine Gesangslehrerin nicht mit Kompetenzrastern arbeitet, sondern mit Ohr, Penibilität, direkter Rückmeldung und fachlichem Anspruch – und nein, das macht NICHT immer nur Spaß. Das und nur das gibt mir nun mehr und mehr die Freiheit, meine Musik zu machen.
Maik, das hast Du wunderbar eloquent auf den Punkt gebracht. Vielen Dank dafür.
Prima und vielen Dank. Mir tun auch immer die Schüler leid, die auf einmal nicht mehr nur zwei Hände voll Schulfächer haben, sondern diese nun jeweils noch in 4 Hände voll Kompetenzen zerlegt werden. Bei mir hast Du Dich also eher beliebt gemacht…