Die Post-Privacy-Falle im Kontext kollektiver Naivität
Michael Seemann und andere arbeiten sich am Begriff „Post-Privacy“ geisteswissenschaftlich ab. Was bedeutet „Post-Privacy“?
Post-Privacy (ausgesprochen britisch [pəʊst ˈpɹɪv.É™.si], amerikanisch [poÊŠst ˈpɹaɪ.vÉ™.si], übersetzt „Was nach der Privatheit kommt“) ist ein Begriff, der einen Zustand beschreibt, in dem es keine Privatsphäre mehr gibt und Datenschutz nicht mehr greift.[1]
Sehr grob gesprochen meint Post-Privacy:
Jedes weiß alles über jeden oder kann sich mit geeigneten Instrumenten dieses Wissen verschaffen – unabhängig vom jeweiligen Status der Person in der Gesellschaft.
Eine reizvolle Vorstellung:
- … das Parteispendenkonstrukt eines Helmut Kohl entzaubern
- … die Verträge von Toll-Collect einsehen
- … Licht in die Causa Wulff bringen
- … usw.
Eine für mich nicht so reizvolle Vorstellung habe ich im letzten Artikel beschrieben. Mit der Debatte um Post-Privacy sind immer auch Hoffnungen verbunden:
- … der kleine Mann wird zum Weltenretter (Snowden-Paradox)
- … die Welt wird gerechter, weil quasi durch die Hintertür die direkte Demokratie gelebt werden kann
- … allein die Verfügbarkeit bestimmter Informationen wird dafür sorgen, dass Verhalten sich ändert
- … usw.
Nennt mich pessimistisch – ich halte diesen Ansatz für naiv. Diese Schlacht wird nicht geisteswissenschaftlich (fast allein auf dieser Ebene wird in Feuilletons öffentlich wahrnehmbar diskutiert), sondern technologisch geschlagen.
Dazu ein Beispiel:
Was mache ich als Geheimdienst, wenn ich eine Zielperson ausspionieren möchte? Ich muss mich um mehrere Dinge kümmern, wenn ich das mit Hilfe von digitalen Endgeräten des Benutzers (Handy, PC, SmartTV) bewerkstelligen möchte:
- idealerweise hinterlasse ich keine Spuren dabei
- idealerweise wird die Funktion des Gerätes dabei nicht beeinträchtigt
- idealerweise entziehe ich die Überwachungsmaßnahme der Kontrolle des Benutzers
Deswegen ist so etwas wie ein Bundestrojaner („Ich installiere als Staat eine Überwachungssoftware auf deinem PC“) eine selten dämliche Idee, da ich dazu meine Know-How in Form eines Programmes aus der Hand geben muss. Ich weiß nicht, an was für einen Besitzer des PCs ich gerate: Wenn ich Pech habe, findet ein gewiefter Nerd mein Programm, analysiert es und legt es in ominösen Tauschbörsen offen. Wenn es ihm zusätzlich gelingt, den Datenverkehr von diesem Programm zu mir als Geheimdienst zu entschlüsseln, bzw. zu einer festen IP zurückzuverfolgen, bin ich geliefert, da Grundvoraussetzungen für eine Überwachungsmaßnahme eben die Unsichtbarkeit (= Intransparenz) ebendieser Maßnahme ist. Ein Bundestrojaner ist damit nie etwas zur Überwachung vieler, sondern allenfalls bei gezielten Observationsmaßnahmen mit arg begrenztem Zielrahmen einsetzbar. Was wir bisher gesehen haben, halte ich nur für eine Machbarkeitsstudie.
Bei meinem Hoster gab es in diesem Jahr einen interessanten Vorfall mit einer mir bisher unbekannten Spezies von Schadprogramm: Es schrieb sich nicht auf die Festplatte, sondern drang durch eine Sicherheitslücke in einem Dienst in den Hauptspeicher ein und trieb dann von dort sein Unwesen. Da Server u.U. lange laufen, kann so ein Programm sehr lange unbemerkt bleiben und ist zudem äußerst schwierig zu analysieren – Virenscanner durchkämen zunächst einmal die Festplatte.
Auf Handys ist eine permanente Überwachung des Systems durch den Anwender oft gar nicht erst möglich – bei Applegeräten z.B. „by design“ nicht gewünscht. Bei so einem fremdgesteuerten System brauche ich also als Geheimdienst im Idealfall nur Zugriff auf den Anbieter selbst, um grenzenlos überwachen zu können. Wenn ich mir eine Lücke auf dem Schwarzmarkt kaufe, kann das im Einzelfall nützlich sein, skaliert aber nicht gut, weil ich immer damit rechnen muss, dass ich nicht der Einzige bin, der Zugriff auf den entsprechenden Code hat.
Bestimmt sind bei diesem „Technikgelaber“ schon eine Menge Menschen ausgestiegen.
Quintessenz:
Technologisch sind staatliche Organe oder private Firmen wie Google dem normalen Anwender, der in einer „Post-Privacy“-Welt lebt, haushoch überlegen. Mit Daten, die anfallen, wird das gemacht werden, was technologisch möglich ist.
Eine Kontrolle jedweder Art ist utopisch und zwar nicht deswegen, weil sie prinzipiell unmöglich ist, sondern vielmehr deswegen, weil sie immenses technologisches Wissen erfordert – viele im Web2.0 erklären immer noch Leute für verrückt, die verbindlichen Informatikunterricht von Kindesbeinen an fordern. Medienkompetenz in einem pädagogischen Sinne verstanden hilft ggf. etwas dabei, das Übelste zu verhindern oder zu verzögern – auf der oft kolportierten „Anwendungsebene“ wird sie allein nicht dazu führen, dass wir in der Lage sein werden, das Machtgefälle zwischen uns und den Technologieriesen (Staat & Privatwirtschaft) zu verändern.
Diejenigen, die es im Prinzip könnten, sind oft genug Zielscheibe von Hohn und Spott gewesen. Damit meine ich z.B. Datenschützer, die das Leben in der Wahrnehmung vieler ja einfach nur unbeqemer und unzeitgemäßer machen wollen. Bequemlichkeit unter Verlust von Grundrechten („Das Netz ist ein grundrechtsfreier Raum“) sehe ich unter sehr vielen Aspekten als problematisch.
Gebetsmühle:
Ja, natürlich darf man Geräte einfach nur „benutzen“. Ich kann auch die Welt einfach so benutzen. Trotzdem hat man mich mit Chemie, Mathe, Physik oder Biologie gequält und die wenigsten streiten ab, dass es sich dabei um nützliche Disziplinen handelt. Bei Informatik und „Technikgedöns“ ist das immer ganz anders.
Was soll man dem noch hinzufügen? Höchstens, dass es eine gesellschaftliche Debatte geben muss, wie wir in Zukunft mit dieser Entwicklung umgehen wollen und wo und wie wir neue Grenzen setzen. Nicht nur technisch, sondern auch juristisch. Ich bin da sehr enttäuscht von der Haltung unserer Politik, die sich letztlich offiziell nicht um all das zu scheren scheint, was in den letzten Monaten ans Licht gekommen ist. Andererseits: Wen kümmert’s den überhaupt?
Der verpflichtende Informatikunterricht wäre sehr sinnvoll. Die Entwicklung hin zu netten Consumer-Geräten führt aber leider nicht dazu, dass die Menschen den Eindruck gewinnen, es wäre mehr Wissen über Computer nötig, denn es funktioniert ja alles so schön und unkompliziert. Du und ich, wir haben Computer von klein auf in ihrer Entwicklung mitverfolgt (bei der Amiga Workbench konnte man den RAM direkt als Laufwerk ansprechen. Als ich herausfand, dass ich bei meiner 10-Disketten-Monkey-Island-Version für das Türgeräusch nicht mehr jedesmal die Diskette einschieben muss, war das ein lehrreiches Aha-Erlebnis!).
Eine Debatte reicht nicht. Die ganz harte Variante wäre, dass bestimmte Entscheidungen eben nicht mehr mehrheitsbasiert gefällt werden, sondern von Menschen, die in diesem Bereich für kompetent gehalten werden – Liquid-Feedback ist da ein einigermaßen demokratiegängiger Ausweg. Es gäbe den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wahrscheinlich nicht, wenn die Deutschen darüber abstimmen dürften, oder? Die Mehrheit will in diesem Bereich nicht lernen und sieht auch die Notwendigkeit dafür nicht. Hauptsache schick und alle paar Monate neu. Man geht mit den Netztechnologien halt im Alltag so um, wie man mit der Welt umginge, wüsste man nichts über Chemie, Biologie oder Physik. Und da ist jedem sofort intuitiv klar, dass dann noch mehr Mist als jetzt schon herauskäme. Also: Jeder der über Netztechnolgien spricht und entscheidet, sollte meiner Meinung nach zwingend gewisse Grundfertigkeiten mitbringen. Mit Leuten, für die Einrichtung eines E‑Mailaccounts unmöglich ist, wird man da eben Entscheidungen bestimmter Qualität bekommen. Diese Arroganz nehme ich mir jetzt mal heraus.