Didaktische Reduktion
Es gibt Tage, an denen ich mich meiner Unterrichtsvorbereitung schäme das System Schule hasse, welches mir so wenig Zeit für eine wirklich tiefe Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsstoff lässt. Vor zwei Wochen habe ich einen Vormittag mit Immanuel Kants Text „Was ist Aufklärung?“ verbracht und zwar nicht in der Fassung, die in unserem Schulbuch steht, sondern mit dem vollständigen Text aus der damaligen Monatsschrift. Das Schulbuch lässt diese Fassung des Textes noch übrig, die – so glaube ich – in Deutschland 100fach SuS vorgelegt wird:
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter majorennes), dennoch gerne Zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt der für mich die Diät beurtheilt, u. s. w. so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Theil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. […]
Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stükken öffentlichen Gebrauch zu machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsonnirt nicht! Der Offizier sagt: räsonnirt nicht, sondern exercirt! Der Finanzrath: räsonnirt nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsonnirt nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsonnirt, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung der Freiheit. Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich? welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? – Ich antworte: der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zu Stande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten, oder Amte, von seiner Vernunft machen darf. […]
Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im Ganzen genommen, schon im Stande wären, oder darin auch nur gesetzt werden könnten, in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines Andern sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel. Allein, daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten, und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung, oder des Ausganges aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit, allmälig weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen.
Nach intensivem Studium des Originals muss ich sagen, dass „didaktische Reduktion“ oder gar „Platzmangel“ in diesem Fall noch die harmlosesten Erklärungen dafür sein mögen, nicht dem gesamten Text abzudrucken. Böswillig ließe sich fast vermuten dass dahinter eine Absicht steckt. Warum kommt mir dieser Gedanke?
Beliebt ist die Aufgabe für SuS, zu erklären, was der Unterschied zwischen dem privaten und dem öffentlichen Gebrauch der Vernunft ist. Das bekommt eine besondere Note, wenn man feststellt, dass das Kant im Original selbst an mehreren Beispielen macht, z.B. hier:
So würde es sehr verderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinen Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienste über die Zwekmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muß gehorchen. Es kann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt werden, als Gelehrter, über die Fehler im Kriegesdienste Anmerkungen zu machen, und diese seinem Publikum zur Beurtheilung vorzulegen.
Oder hier:
Eben so ist ein Geistlicher verbunden, seinen Katechismusschülern und seiner Gemeine nach dem Symbol der Kirche, der er dient, seinen Vortrag zu thun; denn er ist auf diese Bedingung angenommen worden. Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den Beruf dazu, alle seine sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte in jenem Symbol, und Vorschläge wegen besserer Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens, dem Publikum mitzutheilen.
Ob es wohl auch im Geiste so manches Kirchenoberen heute ist, was Kant hier tatsächlich verlangt? Wie ergeht es eigentlich Priestern heute, die sich „als Gelehrte“ in Schriftform gegen das Zölibat stellen oder gegen die Abendmahlsregelung (ein katholischer Geistklicher muss einem Protestanten das Abendmahl verweigern, wenn dieser nicht an die Wandlung glaubt)?
Zurück zur Problematik der Aufgabenstellung: Wir schneiden einen Textabschnitt heraus, der Antwort auf die Frage gibt, die wir SuS zum Text stellen. Hä? Wir schneiden zudem einen Textabschnitt heraus, der wie kein anderer klare Bezüge zur heutigen Lebenswelt der SuS ermöglicht, der angesichts der aktuell laufenden Systemdiskussionen aktuelle Fragen aufwirft, z.B. nach der Legitimität des beamtischen Schulsystems.
Außerdem klingt es doch aus heutiger Sicht etwas verwunderlich, wenn „der Aufklärer Kant“ auf einmal so etwas von sich gibt:
In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friederichs.
Ein Fürst, der es seiner nicht unwürdig findet, zu sagen: daß er es für Pflicht halte, in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben, sondern ihnen darin volle Freiheit zu lassen, der also selbst den hochmüthigen Namen der Toleranz von sich ablehnt: ist selbst aufgeklärt, und verdient von der dankbaren Welt und Nachwelt als derjenige gepriesen zu werden, der zuerst das menschliche Geschlecht der Unmündigkeit, wenigstens von Seiten der Regierung, entschlug, und Jedem frei ließ, sich in allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner eigenen Vernunft zu bedienen. Unter ihm dürfen verehrungswürdige Geistliche, unbeschadet ihrer Amtspflicht, ihre vom angenommenen Symbol hier oder da abweichenden Urtheile und Einsichten, in der Qualität der Gelehrten, frei und öffentlich der Welt zur Prüfung darlegen; noch mehr aber jeder andere, der durch keine Amtspflicht eingeschränkt ist.
An vielen Stellen in Kants Text ist zu lesen, dass die Amtsträger im Staat eben funktionieren (=gehorchen) müssen. Damit festigt er natürlich das beamtische System und die damit verbundene Struktur – passt das zu dem Bild des vernunftsgeleiteten Prototyp-Aufklärers? Despotismus als „vernünftige Staatsform“? Lobhudelei auf Friedrich?
Kants Haltung hat aber wahrscheinlich einen Grund, der aus dem Kontext der historischen Verhältnisse zu sehen ist. Hätte Kant auch den Beamten in ihrem Amt den uneingeschränkten Gebrauch der Vernunft zugestanden, hätte es wohl mit ziemlicher Sicherheit Ärger mit dem preußischen Herrscher gegeben, dessen „freiheitliche Einstellung“ in Religionsdingen wohl wiederum rational-staatpolitischen und nicht primär durch Toleranz geprägten Überlegungen geschuldet sein dürfte – aber ich bin kein Geschichtslehrer.
Fest steht für mich heute, dass wir durch die Kürzung dieses Textes bzw. die Hinnahme seiner Kürzung in dieser Form, SuS genau das implizit verweigern, was daran zu lernen wichtig ist. Das ist keine sinnvolle didaktische Reduktion, das halte ich für dringend überdenkenswert. Ich habe durch meine Beschäftigung mit diesem Text daran viel Freude und Gedanken bekommen.
Meine SuS sollten sich in einer Hausaufgabe ein Urteil darüber bilden, ob die durch das Deutschbuch vorgenommene Kürzung dem Text inhaltlich gerecht wird: Sie sind selbstständig zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Schön. Also waren sie durch Länge des didaktisch unreduzierten Textes inhaltlich nicht überfordert.
In diesem Sinne: Sapere aude!
Wieder einmal ein schönes Beispiel dafür, dass man die Originaltexte heranziehen sollte! Neulich hab ich mir mal aus einer verstaubten Bibliothek das einzige weltweit existierende Buch mit dem Originalartikel zur Methode „Think-Pair-Share“ besorgt (bzw. den Artikel daraus), um festzustellen, dass darin von der Methode „Listen-Think-Pair-Share“ die Rede ist. Man lernt viel, wenn man sich die Originale ansieht!
… und das unreflektierte Abschreiben ist offenbar keine neue, durch Wikipedia ausgelöste (Un-)Tugend. Beruhigend, dass das Netz gar nicht der Ursprung allen Übels ist.
Ich habe den Kant schon länger nicht mehr gelesen. So lang ist der nicht, dass man ihn nicht ganz in der Schule lesen sollte. Ich habe ihn aber so im Kopf, dass auch für Beamte und Lehrer gilt: privat, also im Dienst, muss man sich an Einschränkungen halten, öffentlich, also im Diskurs in Zeitschriften, darf man schreiben, was man will. – Das hat der Kant natürlich so gesehen, bevor es das Web gab, wo jeder veröffentlichen kann. Ich bin mir nicht sicher, dass er wollte, dass jeder an diesem Diskurs teilhaben darf, aber vielleicht tue ich ihm da Unrecht.
Der Test darauf, ob die Arbeit mit dem verkürzten Text oder mit dem originalen Text sinnvoller ist, ergibt sich aus dem vorliegenden Versuch nicht.
Durch die Aufgabe des Textvergleichs ist viel Struktur vorgegeben, die Aufmerksamkeit wird auf Kants – uns heute nach der Diskussion des Befehlsnotstandes – eher auffällige Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Gebrauch der Vernunft gelenkt und richtig bewältigt.
Doch die Unterscheidung gilt – mit Ausnahme der Gewissensentscheidung – weiterhin: Es gibt genau angegebene Kriterien dafür, wann ein Schüler zu versetzen ist, bei wie viel Prozent Leistung wie viel Punkte zu vergeben sind, ab wie viel Fehlstunden eine Lehrveranstaltung als nicht zureichend besucht und deshalb ungültig zu bewerten ist usw. Sie sind mitnichten in allen Ländern gleich, teils wird mehr Ermessensspielraum zugestanden, teils weniger.
Für mich war es im Kontext der Europäischen Schule bemerkenswert, wie strikt sich deutsche Lehrer an solche Regeln hielten, auch wenn es ihnen fast das Herz brach, während Lehrer anderer Nationen weit eher bereit waren, pragmatische, auf Konsens der Lehrerkonferenz getroffene Entscheidungen bereit waren. (Dabei mag eine Rolle spielen, dass dort dem Schulleiter nicht selten eine freiere Stellung gegenüber der Schulverwaltung eingeräumt wird als bei uns.
Meine Anregung für die Diskussion der Kantschen Frage wäre: Sollte man nicht im Sinne dieser Kantschen Unterscheidung, allen, die noch von Lehrern und Vorgesetzten abhängig sind, bei Diskussionen im Netz Anonymität zugestehen, damit sie wirklich freien Gebrauch ihrer Vernunft machen können.
Es ist die Frage, die im Zusammenhang mit Googles Forderung nach Klarnamenpflicht für Google+ (freilich in etwas anderer Zuspitzung) diskutiert worden ist.
„Der Test darauf, ob die Arbeit mit dem verkürzten Text oder mit dem originalen Text sinnvoller ist, ergibt sich aus dem vorliegenden Versuch nicht.“
Generelle Aussagen lassen sich aus Einzelbeispielen nie gewinnen, obwohl genau das unter dem Vorwand der didaktischen Reduktion in der Schule gang und gäbe ist. Es ist mit naturwissenschaftlichem Fokus erschreckend, z.B. „Naturgesetze“ mit – in guten Fällen – 20–30 Messwerten beweisen zu wollen – das kommt in Physik und Chemie jedoch oft vor.
Der Text ist in seiner Kürzung in meinen Augen verfälscht. Sie wird ihm nicht gerecht. Das ist eine Privatmeinung. Der Textvergleich strukturiert natürlich massiv vor. Er wäre aber ohne die vorherige didaktische Reduktion nicht notwendig. Kants Frage erscheint in der historischen Kontextualisierung für mich in einem differenzierteren Licht.
Zu google+:
Wir müssen Pseudonym und Anonymität dringend getrennt diskutieren. Der Glaube – anonym bei z.B. Google+ agieren zu können, indem man sich mit „falschen“ Daten anmeldet, erscheint mir aus technischer Sicht recht naiv. Bei einem einigermaßen konsistenten Datenstrom, kann jeder, der keinerlei zusätzliche Maßnahmen zur Wahrung seiner Anonymität vornimmt, recht schnell identifiziert werden. Soziale Netzwerke sind m.E. daher grundsätzlich nicht geeignet, um anonym zu publizieren, bzw. das technische Know-How dafür dürfte die Fähigkeiten eines Durchschnittslehrers dann doch übersteigen. Mir würde eine Gesellschaft, in der ich sanktionslos mit meinem Namen zu meiner Meinung stehen kann, weitaus besser gefallen.
„Mir würde eine Gesellschaft, in der ich sanktionslos mit meinem Namen zu meiner Meinung stehen kann, weitaus besser gefallen.“ 100% Zustimmung.
Auch die Trennung der Begriffe Anonymität und Pseudonym ist wichtig.
Freilich, beim Klarnamenstreit geht es um beides.
Anfänger im Netz brauchen zu ihrer Sicherheit ein Pseudonym.
Potentiell politisch Verfolgte brauchen die Möglichkeit der Anonymität. Gerade beim öffentlichen Gebrauch der Vernunft in totalitären Gesellschaften braucht man Anonymität. Nicht nur die Geschwister Scholl sind Zeugen dafür.
„beim Klarnamenstreit geht es um beides“
Das sehe ich anders. Ein Pseudonym in einem sozialen Netzwerk bietet wahrscheinlich weder Anfängern noch politisch Verfolgten einen Schutz – letztere werden immer gut beraten sein, diese Kanäle zu meiden, durch zusätzliche Maßnahmen abzusichern, sie schnell zu switchen oder eben die üblichen Wege der Informationsverbreitung in Bedrohungssituationen zu nutzen – ein Restrisiko bleibt immer. Wenn die Bedrohung für das z.B. totalitäre Regime zu groß wird, dann wird dieses Regime Mittel und Wege finden.
Anfänger werden hingegen durch ihren Klarnamen geschützt, da er ganz bewusst macht, dass Äußerung und Name in einer Verbindung stehen.
Ein Pseudonym bietet nur so lange Schutz, bis die Verkettung mit einem Klarnamen möglich wird. Das was dann geschrieben wurde, ist aber schon geschrieben worden und manches wäre bestimmt nie unter einem Klarnamen geschrieben worden. Die Verkettungsmöglichkeiten von Algorithmen sind enorm und wahrscheinlich unserer eigenen „Verkettungsfähigkeit“ weit überlegen. Tatsächlich fallen Pseudonyme heute nicht deswegen, weil der Träger sie aufdeckt, sondern weil Dritte es tun – gerade auch bei Facebook.
Gerade Anfängern muss also m.E. der Rat gegeben werden, auch unter Pseudonym so zu schreiben als wäre es der Klarname – oder eben von Anfang an unter ihrem Klarnamen.