Kinder werden nicht an einem Tag geboren – gilt das auch für pädagogische Konzepte?
Ein Kind wird nicht an einem Tag geboren. Warum eigentlich nicht? Es hat selbstredend biologische Gründe: Es braucht komplexe Zellreaktionen und Energie, damit ein neues Leben entsteht. Der Körper der Frau muss sich langsam auf die Ankunft des Kindes einstellen. Der Fötus muss verschiedene Stadien seiner evolutionären Entwicklung durchlaufen, damit alles an seinen angestammten Platz gelangt.
Es hat selbstredend auch soziale Gründe: Durch die Schwangerschaft hat das Paar Zeit, sich auf die Ankunft des Kindes einzustellen. Es hat Zeit, sich mit den Veränderungen, die das Kind im Leben mit sich bringt, auseinanderzusetzen. Es hat Zeit mit dem Kind – jeder auf seine eigene Weise in Kontakt – zu treten. So wird das KInd nach und nach zu einem Teil der Familie. Modern ausgedrückt: Das Paar erhält Zeit, sich mit dem Kind zu identifizieren, um an seiner Entwicklung gerne zu partizipieren.
Die Prozess der Identifikation ist meiner Meinung nach wichtig, da nur so das Kind zu einem Teil des Paares werden kann – hat die Natur schon schön gemacht. Frauen und Männer, die die Ankunft eines Kindes überraschend erleben, weil sie z.B. die Schwangerschaft verleugnen, tun sich wahrscheinlich oft schwerer in diesem Punkt.
Pädagogische Konzepte – gleichwohl welcher Art – haben m.E. viele Parallelen zu einem heranwachsenden Fötus. Sie werden nach ihrer Geburt scheitern oder vor sich hinkümmern, wenn der Prozess ihrer Entstehung keine Zeit lässt, um Identifikation – eigentlich eine positive Beziehung – aufzubauen. Pädagogische Konzepte leben von der vielfältigen Partizipation der an ihnen beteiligten Menschen, da sie es sind, die dieses Konzept letztlich mit Leben füllen. Verwehrt man diese Partizipation oder zumindest das Gefühl der Möglichkeit der Partizipation, wird auch keine Identifikation einsetzen. Dann steht das Konzept auf Papier. Es muss aber im Handeln der es tragenden Menschen stehen.
Dieser Gedanke lässt sich in vielfältiger Weise im Großen auf die pädagogischen Konzepte der letzten Schulreformen z.B. hier in Niedersachsen anwenden. Im Kleinen gilt dies für jedes einer Schule momentan vorgeschriebenen Konzepte, oder gar für das Konzept einer geplanten Schulentwicklung. Jedes Konzept kann humanistisch, gerecht, richtig, durchdacht oder alles zugleich sein. Es wird ihm ohne Identifikation durch die Ausführenden nichts nützen.
Da gibt es auch eine hübsche Religionslehrergeschichte zu;
Auf die Frage westlicher Bergsteiger nach dem Grund der Langsamkeit der Bergbesteigung antworten die angeheuerten tibetanischen Träger: Wir warten dann und wann darauf, dass unsere Seele hinterherkommt.
Widerstand bei Eintageskinderreformen in der Bildungslandschaft könnte eine logische Folge des heutzutage üblichen Zeitdrucks sein. Das ist schade, weil bei Weitem nicht alles grundsätzlich schlecht und oft auch sehr gut gemeint ist. Schlecht organisiert dagegen ist meistens der Prozess der Einführung, der selten auf Nachhaltigkeit hinzielt. Das gleicht dann mehr einem unnatürlichen, medizinisch nicht notwendigen Kaiserschnitt.