Katharsis – gibt es sie noch?
Der moderne Kreon
Ich bin Topmanager
Ich handle im Interesse meiner Firma
Ich entlasse Menschen
Ich führe schwarze Kassen
Ich handle im Interesse meiner Firma
Egal, was dabei geschehen mag:
Die Abfindung ist meine Braut.
Es scheint sie nicht mehr zu geben, die Gerechtigkeit. Kriegsverbrecher werden in ellenlangen Prozessen nur für Teile ihrer Taten zur Rechenschaft gezogen, manch ein Manager scheint auch nach groben Fehlern außer einer Abfindung und einem neuen Job nichts an Konsequenzen erleiden zu müssen und auch die Diktatoren unserer Tagen gehen eher ins Exil denn in das Gefängnis.
Was bleibt, ist oft ein Gefühl der Hilflosigkeit, wenn nicht sogar eine demokratiefeindliche Haltung: Warum sollte ich ein schlechtes Gewissen haben, wenn es die Großen der Gesellschaft doch nicht zu haben scheinen?
Das Jammern und Schaudern bleibt anscheinend viel zu oft in unseren Tagen. Es erfährt keine Auflösung mehr.
Wie viel besser hatten es da die alten Griechen! Der mächtige Kreon in Sophokles‘ Antigone fällt. Er ist physisch und psychisch vernichtet, weil er gegen göttliches Gesetz verstößt. Was für eine Botschaft und was für ein Kontrast zum bisher Beschriebenen.
Vielleicht ist genau das ein Weg SuS den sehr abstrakten und umstrittenen Begriff der Katharsis zu verdeutlichen, der Reinigung des Zuschauenden durch Jammern und Schaudern von ebendiesen negativen Emotionen selbst, wie es Aristoteles in seiner Poetik verlangt.
„Die Tragödie ist Nachahmung einer (…) Handlung“, heißt es dort. Auf die Handlung kommt es Aristoteles an, nicht auf die Charaktere, die nur Mittel zur Inszenierung sind. Die Handlung erzählt nicht den griechischen Mythos unterhaltend wieder, sondern sie ist aufgeladen durch zwei einander antithetisch gegenüberstehende Prinzipien: Dem Gesetz des Staates und dem Gesetz der Götter.
Das Gesetz des Staates verknüpft Sophokles innerhalb seiner Tragödie eng mit dem Tyrann Kreon, der nach gängigen Interpretationen Substitut für das System der Tyrannis selbst wird, gerade so wie Antigone u.a. Substitut für die Humanität. Der Text bezieht überdeutlich Stellung: Die Tyrannis in der Verkörperung Kreons, in Gestalt des Systems ein übermächtiger Feind, wird vernichtet innerlich und äußerlich: „die Bahre folgt“ (S.41). „Tyrannen“ unserer Tage (etwa die Diktatoren Afrikas) erleiden sein Schicksal verhältnismäßig selten, sodass Kreon hier als Kontrapunkt dienen kann. Den SuS kann gezeigt werden, dass ein unbestrafter „Tyrann“ andere Reaktionen (z.B. Resignation) innerhalb eines Volkes auslöst als ein Bestrafter (z.B. Hoffnung auf Besserung der Lebensumstände).
Allerdings hat Kreon an seiner Vernichtung nicht unbeträchtlichen Anteil, wie ihm in einer entscheidenden Stelle durch Teiresias – natürlich als Seher eine Mittlerfigur zwischen der Sphäre des Göttlichen und der der Menschen – bewusst gemacht wird:
„Zeigen wird es dir nach kurzer Frist
Der Fraun, der Männer Klageruf in deinem Haus.
Und alle Städte raffen sich feindselig auf,
Weil ihre Fürsten Leichen Hunde hier entweihn […]“ (V.1051–1055)
Kreons Weigerung, das göttliche Gesetz an Polyneikes zu erfüllen, wird als ursächlich für das kommende Leid des thebanisches Staates prophezeit, womit das Paradoxon komplett ist: Er, der den Staat durch sein Beharren auf der staatlichen Ordnung eigentlich erhalten wollte, zerstört ihn tatsächlich. Die Erkenntnis dieses Paradoxons führt letztendlich zum Stimmungswandel, zum Wendepunkt der Tragödie. Gleichzeitig konzentriert sich in ihm die eigentliche Tragik der Figur Kreon. Damit kommt dieser Textstelle, der Auseinandersetzung Kreons mit dem blinden Seher Teiresias eine exponierte Stellung zu.
Die unbedingte Voraussetzung zum Verständnis des Paradoxons liegt zum einen in der Verknüpfung von Tyrannis und der Figur Kreon (die wiederum selbst nur durch den aristotelischen Handlungsbegriff erarbeitbar ist). Zum anderen ist die Entwicklung dieses Dialogs von großer Bedeutung, in welchem der Herrscher mit zwei dunklen Vorzeichen konfrontiert wird: Zum einem nehmen die Götter das „Opferflehn“ (V.991) von Kadmos Volk nicht mehr an, sodass Theben – durch Zeus‘ Eingreifen im gerade ausgefochtenen Krieg noch beschützt – als Polis nunmehr Gefahr läuft, bei den Göttern in permanente Ungnade zu fallen. Zum anderen droht durch Kreons unerbittliche Haltung die außenpolitische Isolation, wenn nicht sogar Krieg. „Und alle Städte raffen sich feindselig auf“ (V.1053) – sie tun dies, weil Kreon ihren Gefallenen die nach göttlichen Gesetzen vorgeschriebene Bestattung nicht gewährt. Den zunächst noch verhalten vorgetragenen Weissagungen begegnet der Herrscher mit schroffer Ablehnung – erst in der Erkenntnis, dass Kreon durch seinen Starrsinn seinem Staat auf die oben skizzierten zwei Arten schadet, folgt die Wende, eine Wende, die aus klassischer Sicht nicht notwendig ist: Antigone ist bereits tot, Hämon hat schon Selbstmord begangen.
An dieser Stelle könnte das Publikum mit der Gewissheit nach Hause entlassen werden, dass es sich für Ideale zu sterben lohnt, wie es z.B. ein Marquis von Posa in Schillers „Don Carlos“ tatsächlich erleidet. Die Kirche bleibt Kirche in „Don Carlos“ wie auch der König König bleibt – aber klassische Figuren haben in der Regel immer eine Wahl, auch wenn sie enden müssen: Sie können es ruhmreich oder weniger ruhmreich tun. Kreon besitzt diese Wahl nicht.
Sophokles geht nämlich einen Schritt weiter: Mit Kreon fegt er auch das vom ihm verkörperte System der Tyrannis von der Bühne. Kreon kann nach Denkart des Textes nicht gerettet werden: Auch eine Bestattung von Polyneikes könnte ihn nicht mehr vor dem Gesetz der Götter von der Schuld gegenüber Hämon und Antigone reinwaschen. So oder so ist es zu spät. Deswegen muss Kreon und damit das mit ihm unzertrennlich verbundene System der Tyrannis vernichtet werden. Darin liegt die eigentliche Botschaft des Textes, seine Tragik und letztlich die Rechtfertigung für die eingehendere Behandlung des Dialogs Teiresias/Kreon innerhalb des Deutschunterrichts.
Die Klassik humanisiert den Mythos, weil niemand zwingend sterben oder zumindest zwingend ruhmlos sterben muss, weil jeder eine Wahl besitzt – das ist der Glaube an die Fähigkeit des Menschen, die Welt zu einer besseren zu macxhen, als sie es manchmal zu sein scheint.
Vielleicht macht unsere Zeit, unsere westliche Lebensform ebendiese Errungenschaft wieder zunichte: Wir glauben, nicht die Wahl zu haben zu müssen, weil viele Vorbilder ihre Wahl kreonisch und dazu anscheinend konsequenzenlos treffen. Aber wer mag schon das Innere eines Menschen schauen? Vielleicht ist es in unserer Zeit nur so, dass wir die Vernichtung nicht mehr sehen, weil Geld und andere Äußerlichkeiten diesen Blick trüben.
Das mit der Antigone lohnt sich schon – m.E. aber mehr wegen Kreon. Viel zu lesen ist es auch nicht… Ich werde es immer wieder machen.