Wasmanie und Komplexitätsreduktion
Bei der Diskussion um Veränderungen in der Schule werden m.E. zwei schwerwiegende Fehler gemacht:
- Es gibt viele Definitionen (z.B. Wissensbegriff, Lernbegriff, Medienbegriff) und Formulierungen „wie Schule sein soll“. Ich nenne diese Konzepte „Wasmatisch“ – die beschreiben, was geschehen soll. Es gibt so gut wie keine Transformationsforschung dazu, wie man dahinkommt. Das überlässt man dem System selbst und wundert sich, ja ist manchmal sogar nahezu kindlich-verbockt, wenn da nichts passiert.
- Man greift sich Aspekte aus dem System heraus: „Was macht den guten Lehrer aus?“, „Wie muss ein Klassenraum ausgestattet sein?“, „Die zehn besten Apps für den Unterricht – übrigens jede Woche gibt es zehn neue“ usw. – eine isolierte Veränderung einer Komponente wird im System nichts ändern, weil sich selbiges einfach so umkonfiguriert, dass die Auswirkungen der Störung minimiert werden. Man kann z.B. „Tabletklassen“ nicht erfolgreich isoliert denken. Das ist Komplexitätsreduktion.
Ich docke mit diesem Artikel an Herr Larbigs lesenswerte Gedanken zum Ausbleiben der Revolution im Schulsystem an. Spannend ist für mich seine Abkehr von z.B. dem Konzept „iPad-Klasse“, weil meine Einstellung zu solchen Settings über die Jahren benfalls grundlegend anders geworden ist und sich mittlerweile mit der von Thorsten deckt.
Was heißt „das System definiert sich um“?
Mir fällt zur Erklärung kein besseres Beispiel als das Chemische Gleichgewicht ein – ein fundamentales naturwissenschaftliches Konzept.
Ausgangssitation:
Wir haben ein Bällebad, welches in der Mitte geteilt ist. Ein jedem Bällebad befindet sich eine Anzahl von Werfern – ein Team. Die Aufgabe besteht darin, die Bälle aus der eigenen Hälfte möglichst vollständig in die gegnerische zu werfen. Das grüne Team ist das stärkere.
Nach einer Weile:
Das grüne Team ist zwar die stärkere, jedoch hat es nach einer Weile im Schnitt weniger Bälle im Feld, die es länger suchen muss. Daher kann es die Bälle nicht so schnell zurückwerfen wie das blaue Team, das zwar schwächer ist, aber viel schneller Bälle zum Werfen findet.
Es kann Situationen geben, in denen die Bälle anders verteilt sind, aber über die Zeit wird sich ein Mittelwert einpendeln – in diesem Fall von 15 Bällen im blauen und 5 Bällen im grünen Feld. In der Chemie würde man jetzt die Anzahl der Bälle im grünen Feld durch die Anzahl der Bälle im blauen Feld teilen und feststellen, dass über die Zeit gesehen eine Konstante dabei herauskommt ( 5:15 = 1/3 ).
Noch ein Nachtrag, der mir im Kontext von Diskussionen der letzten Tage zu diesem Artikel wichtig erscheint: Bezogen auf Schule handelt es sich bei den Spielern im Feld NICHT um Menschen, z.B. Digi-Lehrer gegen Analog-Lehrer oder andere Stereotype. Vielmehr sind abstrakte Kräfte am Werk, z.B. „Reformdruck“ und „Bewahrungsstrategien“. Die Kräfte sind leider oft konträr. Das darf man gerne leugnen, aber das ändert daran nichts. Ein wünschenswertes Miteinander basiert dann auf Dingen wie Verständnis, Ernstnehmen, Interesse auf beiden Seiten – d.h. es geht darum, abstrakte Kräfte zu beeinflussen. Bezogen auf die Chemie ist dieses Bild völlig neutral. Teilchen haben eine Natur, sie „wollen“ nichts, sondern streben lediglich nach der Erfüllung physikalischer Gesetze (z.B. einem energetisch günstigen Zustand) – Was u.U. aber auch für Menschen gilt – aber das ist eine andere Geschichte.
Das Wesentliche:
In unserem kleinen System passiert ganz viel – ständig fliegen Bälle hin und her (manchmal mag es sogar scheinen, als gewänne Team grün), aber trotzdem bleibt das Anzahlverhältnis der Bälle in den jeweiligen Feldern im Mittel konstant. Das System befindet sich in einer Art Gleichgewicht. Wir Chemiker nennen das ein dynamisches Gleichgewicht.
Die Störung:
Nun kann es sein, dass ein Spieler des blauen Teams eine Taktik entwickelt, mit der es möglich ist, die Bälle schneller ins andere Feld zu werfen. Diese Taktik wird nun von allen Teammitgliedern adaptiert. Dadurch ändert sich die Bälleverteilung. Aber diese Taktikänderung hat auch Folgen für die Strategie des grünen Teams, das sich auf die nun veränderten Bedingungen einstellt und ja immer noch gewinnen will. Da die Bälleverteilung in den Feldern für die Geschwindigkeit des Zurückwerfens immer noch eine Rolle spielt, kehrt das System irgendwann in seine Ausgangslage zurück.
Auch ein einzelner Teamplayer, der sich ganz besonders anstrengt, verliert irgendwann seine Kraft und wird in seinen Leistungen dann von dem anderen Team mit dann mehr konditionellen Reserven kompensiert.
Das System konfiguriert sich bei Störungen also immer so um, dass die Auswirkungen der Störung minimiert werden.
Das Digitale als Störung
Das Digitale ist eine Störung im (Schul-)System, mit der es (noch) nicht gut umgehen kann. Mit dem Digitalen ist – genau wie z.B. mit einem besonders engagierten Spieler – oft die Hoffnung auf eine Systemänderung verbunden. Das System sucht aber nach Kompensationsmöglichkeiten – nicht aus Boshaftigkeit, sondern weil genau das seine Natur ist. Typische Kompensationsmöglichkeiten sind:
- Verbote
- In meinen Augen viel schlimmer: Übertragung analoger Arbeitsformen in den digitalen Raum
Es gibt m.E. keinen Mehrwert, statt eines Schulheftes ein Blog zu führen, solange man die veränderten kollaborativen Möglichkeiten des Blogs (z.B. Peer-Review, asynchrone Feedbackprozesse etc.) nicht nutzt.
Komplexitätsreduktion
Das System von oben ist unglaublich simplifiziert, da es nur eine Sorte an Bällen gibt und das Spiel ziemlich einfach strukturiert ist. Es könnte ja z.B. auch so sein, dass ein jedem Feld Beutel mit bestimmten Anzahlen verschiedenfarbiger Bälle gepackt werden müssen, die man dann ins gegnerische Feld wirft, wo dann die Beutel wiederum umsortiert zurückgeworfen werden. Dann ist die Systemkonstante nicht mehr durch ein einfache Zählung bzw. Quotientenbildung zu bestimmen, sondern vielleicht durch sowas hier:
Wenn ich in diesem nicht zuende gedachten Beispiel z.B. die Ressourcen erhöhte, wächst eben der Selbstschutzfaktor zur Kompensation. K selbst bleibt konstant – die Auswirkung der „Störung“ ist minimiert.
Man tut aber oft so, als würde sich durch Konzepte, die einen bestimmten Bereich beackern, irgendetwas Substantielles ändern. Damit verkennt man in meinen Augen die Komplexität und die Kompensationskompetenz des Systems vollkommen.
Wenn ich z.B. über eine Präsentationslösung Arbeitsblätter vom Platz der Schüler ausfüllen und präsentieren lasse, mache ich ja nichts Neues, sondern lediglich etwas Analoges 1:1 digital. Die Denkweise hinter dem Arbeitsblatt ändert sich dadurch ja nicht – es wird halt nur etwas bequemer und verspielter im Klassenraum. Die Ausstattung wird verbessert, aber andere Dinge regulieren sich dann einfach anders ein.
Was tun?
Einstein soll angeblich gesagt haben:
Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.
Wenn Schule sich verändern soll, reichen alte geisteswissenschaftliche Strategien wie „Begriffsbildung“, „Beschreibung“, „Analyse“ nicht aus, um den Veränderungsprozess nachhaltig zu implementieren. Es braucht neue Ansätze, auf übrigens sehr vielen gesellschaftlichen Ebenen, z.B. Forschung darüber, wie Transformationsprozesse gelingen können, die man bisher gerne dem System selbst überlässt und diesem dann vorwirft, es „begegne“ den „neuen Herausforderungen“ nicht hinlänglich. Wann wird nicht umhinkönnen, die bequeme (und risikolose) „Wasmanie“ zu verlassen und sich dem „Wie“ zuzuwenden. Ich kann mir natürlich gerne ein neues System wünschen oder eben mit dem arbeiten, was nunmal da ist.
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