Bei OER besteht die Gefahr einer tendenziösen Darstellung von Fakten
Ich war seit langer, langer Zeit einmal wieder auf einer fachbezogenen Fortbildung. Ich gehe i.d.R. ungern zu solchen Veranstaltungen, weil sie meist inhaltlich wenig bieten und methodisch vorhersehbar strukturiert sind. Diesmal war es ein wenig anders, was vor allen Dingen Herrn Prof. Schneider vom Erich Maria Remarque Friedenszentrum zu verdanken war. An diesem Institut beschäftigt man sich seit Jahren u.a. mit der Kriegsliteratur Anfang des 20. Jahrhunderts. Auf die dort gewonnenen Erkenntnisse stützt sich die von mir zur Vorbereitung des Unterrichts verwendete Begleitlektüre „Oldenbourg Interpretationen, Bd.90, Im Westen nichts Neues“, die nur noch antiquarisch zu horrenden Preisen verfügbar ist – warum eigentlich?
Ich bin einigermaßen verzweifelt. Für das Zentralabitur Deutsch 2016 in Niedersachsen ist „Im Westen nichts Neues“ (Erich Maria Remarque) als verbindliche Lektüre vorgesehen. So sehr dieser „Roman“ als Antikriegsliteratur weltweit Aufmerksamkeit und damit immense rezeptionsgeschichtliche Bedeutung erfahren hat, so wenig gibt der Text in meinen Augen speziell für das Fach Deutsch her. Strukturell ist es ein Bericht, wenngleich vollkommen fiktional. Remarque hat wohl nur sehr wenige Begebenheiten selbst erlebt.
Der Text steht natürlich für sich als Mahnmal gegen bewaffnete Auseinandersetzungen, kann in dieser inhaltlichen Verortung aber m.E. nicht sinnvoll durch nur ein Fach behandelt werden, sondern erschließt sich hinreichend wohl nur in enger Zusammenarbeit mit den Fächern Geschichte und Politik. Wesentliche Kompetenzbereich des Deutschunterricht lassen sich mit anderen Werken besser abdecken.
Man findet in der didaktischen Literatur den sinngemäßen Einstieg:
Offene Begeisterung dagegen herrschte vor allem in den großstädtischen Zentren, wo die Kriegserklärungen und erste Siegesmeldungen bejubelt wurden. Ihr Träger war allem Anschein nach insbesondere das Bürgertum: Studenten und Oberschüler meldeten sich in Massen freiwillig, insbesondere viele Bildungsbürger schrieben begeisterte Gedichte und Aufrufe.
Meist wird das durch einen geeigneten Bildimpuls begleitet. Die Logik:
Die Deutschen waren vom Krieg begeistert und naiv hinsichtlich seiner Folgen für das Individuum. Remarque setzt bewusst ein Denkmal gegen diese Haltung.
Hört sich erstmal gut an. Stimmt aber wohl so nicht. Ich gebe sinngemäß einige Statements aus der Fortbildung wieder.
- Die Euphorie war wohl auf Teile des Bürgertums begrenzt. Die ländlichen Bevölkerung fand das mit dem Kriegausbruch wohl bedingt witzig.
- Gymnasiasten meldeten sich wohl auch zum Kriegsdienst, weil mit dem „Notabitur“ eine verkürzte Schulzeit möglich wurde.
- Die Bilder, die das öffentliche Bild von der Euphorie prägten, sind Teil einer Inszenierung, um Akzeptanz für den Kriegseintritt als breiten Konsens in der Bevölkerung darzustellen.
- Bildmaterial zum ersten Weltkrieg war fast grundsätzlich inszeniert. Die damaligen Filmkameras hätten wohl aus den Schützengräben hinausgeguckt und dem Kameramann einen Kopfschuss beschert. Also nahm man sich wohl eher ein paar Soldaten und spielte hinter der Front den Krieg einfach nach – die Veröffentlichung von Fotos aus dem ersten Weltkrieg war weitgehend durch das Reichsarchiv kontrolliert, indem militärische Führungseliten das Zepter führten.
- […]
Überprüft mal bitte, inwieweit dieser Forschungsstand in aktuellen Schulbüchern Berücksichtigung findet, also in Qualitätsmedien. Wenn Herr Prof. Schneider Recht hat, ist mein Bild von der Wirklichkeit des ersten Weltkrieges doch ein wenig verzerrt.
Tendenziöse Darstellungen sind für mich keine Frage von freien oder kommerziellen Publikationsformen, sondern eine der Methodik und den Rahmenbedingungen der Erstellung. Die Rahmenbedingungen im kommerziellen Sektor scheinen nicht unbedingt besser zu werden.
Ich habe glatt mal in das Geschichtsbuch geschaut, an dem ich selbst mitgearbeitet habe. Und es wird erwähnt, dass es „gehobene und wohlhabende Gesellschaftsschichten“ waren, die begeistert vom Krieg waren, bzw. eben vor allem die städtischen Bewohner. Landbevölkerung wird nicht thematisiert. Im entsprechenden Kapitel gibt es aber eine Methodenseite zum Thema Fotografien, wo auch u.a. auf die arrangierten Fotos eingegangen wird.
Diese Diskussion über verzerrte historische Fakten, die sich durch die Schulgeschichtsbücher ziehen, hatten wir bei der Arbeit oft. Manche echten Fehler entdeckten wir erst, wenn die Gutachter (in Bayern gibt es ein Zulassungsverfahren) darauf hingewiesen haben – das war dann auch Betriebsblindheit, wenn man die Manuskripte zum fünften Mal durchschaute.
Auf der anderen Seite auch das Problem, die Themen passend auf zwei Seiten aufzubereiten, und dabei nicht zu oberflächlich zu werden.
Ich erinnere mich jedenfalls an wirklich stundenlange Manuskriptsitzungen und formale wie inhaltliche Diskussionen und selbst in meinen eigenen Kapiteln würde ich nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass vor dem Hintergrund des begrenzten Platzes, der didaktischen Reduktion nicht auch historische Zusammenhänge verzerrt wurden. Das ging dann aber an 6–8 Autoren, einem Fachredakteur und einem Chefredakteur vorbei und an 4 Gutachtern. (Im bayerischen Fall)
Aber, das möchte ich auch behaupten, das beschriebene Problem dürfte auch Alltag (leider) in Geschichtsstunden sein.
Hatte selbst vor einigen Jahren ein Kontaktstudium in Geschichte, bei der es in einer Vorlesung um Griechische Geschichte und die Irrtümer in modernen Geschichtsbücher ging. Das fand ich stellenweise auch sehr überraschend und witzig, da dort selbst Dinge widerlegt wurden, die ich an meiner Uni 10 Jahre vorher gelernt hatte. Glaubt man von Geschichte manchmal gar nicht…dass sie sich noch ändert ;).
Mir ist dabei noch einmal klargeworden, dass ich wohl noch viel mehr als bisher hinterfragen muss – gerade bei didaktischer Literatur. Das Beispiel ist ja schon ein recht sensibles. In diesem Internet gibt es zum Glück die Chance, Sachverhalte aus mehreren Perspektiven zu betrachten – das mache ich schon mehr oder minder automatisch, weil den „Inhalten im Netz ja nicht zu trauen ist“.
Das Buch habe ich da bisher vom Gefühl her anders gewichtet, weil ich damit großgeworden bin (übrigens auch mit der Lehre von der allgemeinen Kriegbegeisterung). Mir geht es darum zu zeigen, dass Tendenzen oder didaktische Reduktionen eben nicht vom Lizenzmodell abhängen. Die drei aristotelischen Einheiten des Dramas heißen halt so, gehen aber gar nicht alle auf Aristoteles zurück – auch das wird wohl noch gerne gelehrt.
Generell geht es mir so, dass ich mit zunehmender Dauer der Beschäftigung mit einem Thema meist bemerke, wie simplifiziert oder reduziert meine bisherige Vorstellung davon war. In aller Regel eröffnet sich mir eine vorher ungeahnte Welt der Komplexität, wenn ich mich zum ersten Mal intensiver mit einem Thema beschäftige.
Die Verzerrung, die Du beschreibst, is mir auch erst seit einiger Zeit diffus bewusst und durch Deinen Post jetzt noch mal stärker aufs »Radar« gekommen.
Insofern sind kritisches Denken und die Fähigkeit zur Differenzierung zwei sehr wichtige Elemente schulischen Lernens.
Ein passendes Zitat, von dem ich bis gerade eben dachte, es sei von Oscar Wilde, das aber – nach meiner erneuten Recherche jetzt gerade – wohl von J.M. Barrie stammt: