Von Visionären und Praktikern
Dieser Beitrag wurde schon als Gastbeitrag in Christian Spannagels Blog veröffentlicht. Ich assimiliere ihn jetzt nur noch und füge ihn der Kultur dieses Blogs hinzu.
Der Praktiker
Weißt du Visionär eigentlich, woher ich dich als Praktiker kenne? Gar nicht. Aber ich kenne deine Produkte, die z.B. Eingang in die amtlichen Vorgaben für meinen Unterricht gefunden haben. Und ich kenne deine Antworten auf meine Kritik an dir. Wer „du“ eigentlich bist, das weiß ich nicht. Ernst nehmen kann ich kaum eines deiner Produkte der letzten Jahre. Außerdem kann ich nur ahnen, wie du in Kommissionen deine Ideen durchsetzt. Aber ich denke mich dir so: Du Visionär sitzt an irgendeiner Fachhochschule oder Universität. Wenn du gut bist, betreust du didaktische Seminare von angehenden Lehrerinnen und Lehrern. Wenn du besser bist, hast du seit deiner eigenen Schulzeit auch hin und wieder unterrichtet – aber das ist eher selten. Als ganz schlimm erlebe ich oft Menschen aus deinen Kreisen, die selbst einmal Lehrer gewesen sind und meinen, die Lage an den Schulen daher zu kennen. Das tust du nicht. Das konstruierst du dir allenfalls aus deinen Kontakten in die Schulwelt. Aber auf jeden Fall weißt du aber, woran unsere Schule heute krankt. Das belegen dir zahlreiche Statistiken und Evaluationen. Deswegen entwickelst du neue Methoden und Ansätze. Diese lässt du von willigen Lehrkräften oder Praktikanten unter deinen Studenten im Unterricht erproben. Mit ihren Rückmeldungen verfasst du ein Paper. Viele Visionäre wie du treffen in Kommissionen der Kultusministerien zusammen und erarbeiten auf Basis von vielen Papieren und gemeinsam mit Lehrkräften das neue Curriculum für den neuen Unterricht – ach was, für die neue Schule!
Die von dir mit erarbeiteten Vorgaben werden in einem Bundesland verbindlich und es geschieht – nichts. Im Gegenteil: Du musst mit ansehen, wie das System Schule deine Ideen so in seinen Alltag einbaut, dass sie möglichst wenig stören. Das System hat darin Übung. Es hat viele Visionäre vor dir gesehen. Du findest das System Schule daraufhin doof. Du sagst, was es machen soll, aber keiner tut es. Du weißt, wie man guten Unterricht erkennt, du kannst aber nicht erklären, wie man ihn macht. Du willst doch nur helfen. Du hegst den Gedanken, dass es mittelfristig ohne Zwang und Austausch von Personal wohl nicht gehen wird.
Ich prangere dich an, du Visionär…
… weil du für dich das Recht beanspruchst, es besser zu wissen, aber oft nicht die Notwendigkeit siehst, es selber umzusetzen.
… weil du von Dingen sprichst, die du misst oder messen lassen hast ohne zu realisieren, dass deine Stichprobengrößen selten in den Bereich mathematisch fundierter Aussagekraft kommen. Das begründest du übrigens oft mit „fehlenden Mitteln“, „wenig Personal“, „flächendeckend unmöglicher Durchführbarkeit“
… weil du im Erfolgsfall die Lorbeeren für dich beanspruchst und im Falle des Scheiterns das System oder die mangelnde Bereitschaft der Praktiker verantwortlich machst.
… weil man dich oft genug zufriedenstellen kann mit irgendwelchem ungelebten Konzeptgeseier. Man nehme deine Buzzwords, setze sich einen Nachmittag hin und verfasse mit dem Impetus eines Parodisten für dich ein wenig Metageseier – und schon bist du des Lobes voll.
Der Visionär
Weißt du Praktiker eigentlich, woher ich dich als Visionär kenne? Gar nicht. Aber ich kenne deine Produkte, die sich z.B. niederschlagen in desolaten Erfolgszahlen von deutschen Schulen, die sich niederschlagen in wachsender sozialer Ungerechtigkeit in unserem Land. Und das in Zeiten, in denen sich eine Volkswirtschaft wie unsere kein Kind leisten kann, was zurückbleibt – schließlich lebt dieses Land von Kreativität und Ideen – Bodenschätze sind eher rar. Ich schüttle den Kopf über
dich. Ich stelle mich dir so vor:
Du Praktiker sitzt an irgendeiner Schule in diesem Land. Wenn du gut bist, schaust immer wieder einmal über den eigenen Tellerrand hinaus und nimmst aus Fortbildungen von mir und Kollegen Dinge mit in deinen Unterricht. Wenn du besser bist, probierst du neue Lernarrangements aus, auch auf die Gefahr hin, dass dich irgendwer sanktionieren könnte – aber das ist eher selten. Du begegnest mir mit Skepsis, du glaubst in der Regel nicht, dass sich durch meine Ideen im Schulsystem etwas bewegt. Du begründest das gebetsmühlenartig mit „schwierigen Umständen“, „schlechter Ausstattung“, zunehmender „emotionaler Verwahrlosung“ im Elternhaus oder überbordender Bürokratie – für die du mich auch noch verantwortlich machst und dabei deine eigene Verantwortung für das System Schule vergisst. Du bist kreativ – kreativ im Umgehen der von mir mit erarbeiteten Vorgaben für guten Unterricht, ach nein, für eine gute Schule! Du strukturierst dich einfach so um, dass du das Neue möglichst lange vermeidest. Dabei gerätst du mehr und mehr ins Hintertreffen, weil der Berg, den du irgendwann aufholen musst, immer größer wird. Eigentlich tust du mir Leid, weil du dir letztendlich selbst schadest, indem du dich der Freude und des Spaßes an deinem Beruf durch deine Schutzmechanismen beraubst. Und dann tust du mir nicht Leid, weil du schließlich neben dir selbst auch unsere Kinder beraubst.
Ich prangere dich an, du Praktiker …
… weil du dir in deinem zur Schau getragenen Leiden gefällst und es oft genug an die weitergibst, die nichts dafür können: unsere Kinder!
… weil du nichts als Misstrauen für neue Ideen übrig hast, weil du grundsätzlich annimmst, dass etwas undurchführbar sei, ohne es zumindest versucht und erlebt zu haben.
… weil du in deiner Begrenztheit – Redest du auf Partys eigentlich auch über andere Dinge als Schule? – gar nicht mehr erkennen kannst, dass dich viele Ideen ganz konkret in deinem Beruf unterstützen können, die du von vornherein ablehnst.
… weil dein Argument, ich hätte keine Ahnung, weil ich nicht im System Schule lebte, kolossal nervt. Man kann Dinge besser wissen, ohne sie selbst zu machen.
Ich sage:
Die Vision ist keine Arbeit im Vergleich zum Management des Change. Wenn wir unsere Rollen beide ernst nehmen, dann verwenden wir 10% unserer Zeit auf die Visionen und 90% auf das Change-Management, weil das die Arbeit ist, bei der der Praktiker Hilfe braucht und der Visionär zeigen kann, dass auch er Betonsäcke zu schleppen vermag.
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