Technologie allein löst und initiiert nichts
In der Chemie gibt es den Begriff des dynamischen Gleichgewichts. Damit ist nicht ein statisches Gleichgewicht auf einer Pendelwaage gemeint, sondern eines, dass sich durch ständige Veränderungen auszeichnet. Diese Veränderungen vollziehen sich jedoch auf der Mikroebene und sind für unsere Sinne nicht wahrnehmbar, so dass es in der Summe so scheint, als verändere sich nichts. Ein gutes Beispiel dafür ist eine geschlossene Sprudelflasche. Zwischen dem Sprudelwasser und der auch in der Flasche eingeschlossenen Luft besteht folgendes Gleichgewicht:
Gelöste Kohlensäure (linke Seite) sprudelt aus der Flasche und zersetzt sich dabei in Kohlenstoffdioxid und Wasser. In einer verschlossenen Sprudelflasche steigt dadurch der Druck in der Gasphase unter dem Schraubdeckel. Mit höherem Druck läuft die Gleichung (1) wieder rückwärts, d.h. Kohlenstoffdioxid löst sind unter Bildung von Kohlensäure wieder im Sprudelwasser. Irgendwann pendelt sich das ein: In dem Maße wie Kohlenstoffdioxid entsteht löst es sich auch wieder. Sowohl der Druck in der Flasche als auch die Konzentration der Kohlensäure im Sprudel ändern sich nicht mehr – für uns sieht es dann so aus, als geschehe gar nichts mehr.
Kurzfassung:
Jemand, der von außen auf ein solches System schaut, sieht nichts, bzw. nimmt nichts wahr. Er weiß aber, dass mehrere Faktoren in der Flasche eine Rolle spielen: Kohlensäure, Kohlenstoffdioxid, Druck usw.. Wann immer er misst, verfeinert er nur seine Sinne – die Messung ändert am System selbst nichts.
Dynamische Gleichgewichte haben eine witzige Eigenschaft. Unser Außenstehender könnte jetzt auf die Idee kommen, z.B. einfach den Druck im System zu erhöhen, um eine Veränderung herbeizuführen. Wie reagiert das System darauf?
Mehr Druck ist „unangenehm“ bzw. eine Störung. Also wird das System dafür sorgen, dass mehr gasförmiges Kohlenstoffdioxid gelöst wird und damit der äußere Druck kompensiert ist – in der Chemie sagt man, dass das System so ausweicht, dass die Auswirkungen eines äußeren Zwanges minimiert werden (Gesetz von Le Chatelier). Lässt der äußere Druck nach, justiert sich das System wieder auf den Ursprungszustand zurück.
Um das System zu ändern, muss ich nicht an einem Parameter drehen, sondern ich muss z.B. die Flasche aufschrauben. Das ist bei Sprudelflaschen begrenzt mühsam, da das Aufschrauben ja mit einer Druckentlastung verbunden ist und sich der Deckel dadurch recht leicht löst. Soziale Systeme halten ihren Deckel oft von innen fest.
Und jetzt zur Technologie
Technologie trifft immer auf ein soziales System. Wenn ich einer Schule einen Computerraum hinstelle, wird mit Computern gearbeitet werden. Es wird dabei einige wenige geben, die damit eine neue Methodik und Didaktik entwickeln. Es wird aber auch Menschen geben, die den impliziten Druck dadurch mindern, dass sie gewohnte Strukturen einfach digital abbilden. Mit einem iDingens kann ich z.B. eBooks lesen und vielleicht bald auch Schulbücher aufschlagen. Wenn es das ist, was ich damit primär mache, werde ich iDingens doof finden, weil die ja teuer und deren Akkus irgendwann alle sind. Das ist ein Buch ja viel besser. Das kann jedenfalls nicht kaputt gehen.
Haltung
Die Haltung ist idealer Weise so, dass sich der Deckel abschrauben lässt, das System sich dadurch öffnet und aus dem bisherigen Gleichgewicht kommt. Die Arbeit mit lokalen Apps z.B. halte ich für keinen großen Fortschritt, sondern lediglich für eine Digitalisierung von Bestehendem mit natürlich(!) berechtigtem Stellenwert. Das geht aber teilweise sogar so weit, dass real mögliche Experimente durch Apps ersetzt werden („gefährliche Versuche“ auf Youtube schauen, Fall- und Beschleunigungsexperimente per App). Die Ergebnisse sind dabei immer super und vorhersagbar – mit einem Experiment hat das aber nichts zu tun. Der Moment, in dem mir der Wasserschlauch damals vom Kühler gesprungen ist und mich von oben bis unten eingesaut hat, war wahrscheinlich derjenige, der einen chemischen Zusammenhang bei den SuS verfestigt hat (und mich seitdem Schlauchschellen verwenden lässt).
Jedes Experiment ist ein wenig Aufbruch ins Ungewisse – es kann etwas schief gehen, weil es in der Natur des Experiments liegt. Penicillin und Porzellan sind übrigens zwei Produkte von „schief gegangenen Experimenten“. Wenn aber schon ein neues Gerät, dann bitte auch die experimentelle Haltung, auch explorativ zu arbeiten. Das darf sich nicht nur(!) auf Apps beschränken, sondern muss m.E. auch und an zentraler Stelle als Fenster ins Netz realisiert sein (dafür braucht es übrigens kein teures Gerät, das geht tatsächlich auch mit eigenen Devices). Die Haltung dabei ist die gleiche, wie sie bei jedem neu geplanten Experiment ohnehin schon vorhanden ist. Technik oder ein bestimmtes Device haben damit erstmal nichts zu tun – mit einer Ausnahme: Für mich ist der Browser die Zukunft. Alles andere wird immer an den üblichen Barrieren scheitern.
> (“gefährliche Versuche†auf Youtube schauen, Fall- und Beschleunigungsexperimente
> per App)
Joaein.
Oft fehlen in der Physik einfach die Mittel, um vernünftig experimentieren zu können. Und nicht selten scheitert es an einfachsten Dingen wie z.B. einem Flaschenzug.
Das Handy zur Auswertung von Daten zu Nutzen finde ich dagegen prima – z.B. könnte man das Handy in einen Eimer legen und den dann wild im Kreis schwenken lassen (Milchkannen-Experiment) und dann die Daten ausmessen. Da ist nichts „vorhersagbar“ – ich hatte früher schlicht nicht die Mittel, so etwas durchzuführen.
Aber Auswertung/Messung von Daten ist doch etwas ganz anderes – das mache ich auch oft so, wenn z.B. in der Klasse noch kein Taschenrechner eingeführt ist.
Schwierig wird es für mich, wenn man viel „technisch vermittelte Realität“ einsetzt – ein Video geht meistens ja noch, auch wenn dort i.d.R. auch durch die oft „perfekten“ Versuchsbedingungen idealisiert wird.
Seit die in Chemie seitens des GUV MaK-Werte aus der Industrie auf die Schule stülpen, werde ich auch bei simplen Dingen mehr und mehr darauf angewiesen sein. Jaja, Phenolphthalein ist schon gefährlich, wenn man damit 2x im Leben über Handschuhe in Kontakt kommt…
… und dass kein Flaschenzug vorhanden ist zeigt doch eine Herausforderung auf anderen Ebenen. Für ein einzelnes iDingens kannst du bestimmt schon eine Menge Flaschenzüge kaufen :o).
Die iDingens und sonstigen Geräte verwende ich oft, um Daten kollaborativ an geeigneten Orten im Netz zusammenzutragen (z.B. Etherpad/GoogleDocs). Dann müssen wir im Unterricht nicht immer Tabellen anlegen, können editieren und uns ggf. sogar Formeln zur Berechnung von Mittelwerten usw. überlegen (NACHDEM wir einmal mit Millimeterpapier gesehen haben, dass wir z.B. graphisch nicht weit neben der numerischen Lösung des TRs liegen…).
Nun, wenn ich vor der Wahl stünde, Tablets zu kaufen, hättest du recht: ich würde viele Flaschenzüge dafür bekommen.
Aber die Möglichkeit habe ich ja nicht – ich muss mit dem arbeiten, was da ist. Neben meinem eigenen Handy sind das die Geräte der Schüler. Und da hilft mir der digitale Fortschritt ungemein.
Aber grundsätzlich stimme ich dir zu: das haptische Erlebnis bspw. eines kleinen Stromschlags wird nie durch eine App abgelöst werden können.